»Wächter und Wahrer«, flüsterte Sebastian.
Lee öffnete die Augen und stand auf. »Ich muss gehen.«
Sebastian erhob sich ebenfalls. »Wohin? Du kannst nicht zurück zur Schule.«
»Wir müssen davon ausgehen, dass alle Landschafferinnen, die sich in der Schule aufgehalten haben, tot sind. Ebenso alle Brückenbauer, die zugegen waren. Aber das bedeutet, dass der Weltenfresser Zugang zu allen Landschaften hat, die mit diesen Gärten verbunden sind.«
»Also wo gehst du hin?«, fragte Sebastian und eilte seinem Cousin hinterher, als dieser die Insel verließ und über die Brücke schritt.
»Ich muss die Brücken zwischen Gloriannas Landschaften und dem Rest Ephemeras zerstören. Ich muss so viele von ihnen abreißen, wie ich kann, und das so schnell wie möglich. Ich fange mit denen an, die in die Heiligen Stätten führen.«
Als sie das Ufer erreichten, ergriff Sebastian Lees Arm und zog seinen Cousin herum, bis er ihm gegenüberstand. »Du wirst die Leute einschließen, ohne dass sie eine Möglichkeit haben, diesem Ding zu entfliehen?«
»Ich werde tun was ich kann, um zu retten, was ich kann«, antwortete Lee. »Wächter und Wahrer, Sebastian! Wir brauchen einen sicheren Ort, den der Weltenfresser nicht erreichen kann, oder wir werden nie genügend Stärke sammeln können, um Ihn zu bekämpfen.«
Er erkannte den Sinn in Lees Worten, aber … »Du wirst also die Heiligen Stätten retten.« Ihm war kalt … und er fühlte sich so verlassen.
Lee warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Ich werde Gloriannas Landschaften von allen anderen trennen. Ich werde die Brücken zerstören, die nach draußen führen. Wir werden vom Rest Ephemeras abgeschnitten sein, aber die Landschaften sind verschieden genug, um die Leute mit allem zu versorgen, was sie wirklich brauchen.«
»Aber du hast gesagt … die Heiligen Stätten.«
Lee lächelte schmerzlich. »Dies ist eine von Belladonnas Landschaften. Die Heiligen Stätten und der Pfuhl sind miteinander verbunden. Nicht direkt, aber sie sind miteinander verbunden.«
Der Pfuhl. Sebastian schüttelte den Kopf. »Es gibt Dutzende Wege in den Pfuhl, und der Weltenfresser hat dort bereits gejagt.« Seine Kehle war wie zugeschnürt. Wenn er in den Pfuhl zurückkehrte, könnte Lynnea hier in den Heiligen Stätten bleiben. Lynnea wäre in Sicherheit. »Du musst den Pfuhl gehen lassen, oder du wirst keinen sicheren Ort schaffen können.«
»Es gibt zehn feste Brücken, die in den Pfuhl führen. Ich habe sie geschaffen, und sie führen alle in Landschaften, die in Gloriannas oder Nadias Obhut sind. Es sind die Resonanzbrücken und die festen Brücken, die andere Brückenbauer erschaffen haben, seit ich das letzte Mal einen Rundgang durch den Pfuhl gemacht habe, die ich finden und zerstören muss.«
»Hast du mich nicht gehört? Der Pfuhl ist bereits zu einer Gefahr geworden!«
»Dann, Cousin, ist alles, was ich dir vorschlagen kann, genügend Leute zu sammeln, die dir helfen, ihn zu verteidigen. Denn Glorianna wird den Pfuhl nicht im Stich lassen, und ich werde es ebenso wenig tun.«
Wir werden dich nicht in Stich lassen.
Das war die Botschaft. Für sie spielte es keine Rolle, ob er ein Mensch oder ein Dämon war. Er gehörte zur Familie. Das war alles, was zählte.
»In Ordnung«, sagte Sebastian. »Ich werde am Pfuhl festhalten.«
Irgendwie.
Schweigend gingen sie den Hügel hinauf. Als sie die Tür erreichten, die in das Gebäude führte, hielt Lee inne. »Könntest du auf dem Weg zum Pfuhl beim Haus meiner Mutter vorbeischauen? Nur um sicherzugehen, dass alles …« Er schloss die Augen. »Ich habe in der Schule ein Sprichwort gelernt. ›Verzweiflung schuf die Wüsten‹. Das ist es, was der Weltenfresser wirklich tut, weißt du? Es sind nicht die Landschaften, die Er verdorben, oder die Kreaturen, aus denen Er Monster geschaffen hat; es ist der Verlust der Hoffnung, die Saat der Angst, die Ihm vor so langer Zeit beinahe die Kontrolle über die Welt eingebracht hätte. Er labt sich an diesen Gefühlen, nährt die dunklen Seiten unserer Herzen. Er wird versuchen, alle Landschafferinnen zu töten. Das ist der einzige Weg, die Welt daran zu hindern, am Licht festzuhalten.«
»Ich werde nach Tante Nadia sehen.«
Lee nickte.
Sie gingen hinein, Lee, um seine Sachen zu packen und seinen persönlichen Kampf gegen den Weltenfresser aufzunehmen, und Sebastian, um Lynnea zu finden und ihr zu sagen, dass er in ein paar Stunden in den Pfuhl zurückkehren würde. Allein.
»Es gibt da etwas, was du sehen musst«, sagte Nadia. Sie öffnete eine Küchenschublade, nahm zwei gefaltete Bögen Papier heraus und legte sie vor Glorianna auf den Tisch.
»Wo hast du die gefunden?«, fragte Glorianna, als sie das Papier entfaltete und die breiten Zeilen einer Handschrift sah.
»Auf dem Dachboden.« Nadia verriegelte die mit einem Vorhang versehene Küchentür, schloss die Holztür ab und ging dann hinüber zu einem der Fenster. »Ich habe nichts Bestimmtes gesucht. Bin wohl nur nach oben gegangen,
um ein paar Sachen auszusortieren, damit ich etwas zu tun hatte, weil ich keine Ruhe finden konnte. Ich habe sie auf dem Boden eines Koffers voller Kinderkleidung gefunden, eingewickelt in deine alte Babydecke.«
Glorianna blickte auf. »Du hast mir erzählt, ein Hund habe meine Decke gestohlen.«
Nadia schloss das Fenster, dann den Rollladen. »Was hätte ich dir denn sagen sollen? Sie war so abgenutzt und zerschlissen - und jedes Mal, wenn ich sie gewaschen habe, sah sie noch schlimmer aus. Aber du wolltest dich nicht von ihr trennen.«
»Also hast du mich angelogen?«
»Ich habe dir eine kleine Lüge erzählt, die dem Verlust eine Bedeutung gegeben hat. Du hast immer Trost bei dem Gedanken gefunden, dass ein kleiner verwaister Hund sich in kalten Nächten in deine Decke kuschelt.«
Glorianna sah ihrer Mutter dabei zu, wie sie die anderen Küchenfenster schloss. »Warum tust du das? Wir werden hier drinnen ersticken.«
»Nur für eine Weile. Lies, Glorianna.«
Also las sie, und was sie las, erschütterte sie bis ins Mark.
»Wächter und Wahrer, kann das wahr sein?«
Nadia setzte sich Glorianna gegenüber und sagte lange Zeit nichts. Dann: »Auf beängstigende Weise ergibt das Sinn. Beide Seiten haben einen Teil ihrer Fähigkeiten, einige Aspekte ihrer Magie, verloren, nachdem der Weltenfresser vor langer Zeit bekämpft und geschlagen wurde. Aber auf der einen Seite wurden die eigenen Wurzeln vergessen, außer in den Familien, in denen die Wahrheit von Mutter zu Tochter weitergegeben wurde; auf der anderen Seite nicht. Sie haben sich vor unseren Augen versteckt und ihre Blutlinien stark gehalten, während sie die Kraft ihrer Feinde schwächten.«
Glorianna betrachtete die Aufzeichnungen, die zwischen ihnen auf dem Tisch lagen.
»Wer …?«
»Dein Vater. Peter. Kurz bevor er …«
»Verschwunden ist.«
»Ja.« Nadia schloss die Augen. »Ich dachte, er habe uns verlassen, weil er mit seinem Leben oder mit mir unzufrieden war. Ich dachte, er sei gegangen, weil er die Geheimnisse leid war, auf deren Wahrung er bestanden hat - und die Geheimnisse über meine Familie, von denen er wusste, dass ich sie vor ihm verborgen habe. Ich dachte, er sei gegangen, weil er in eine fremde Landschaft geraten war und den Weg zurück nicht finden konnte - oder ihn nicht finden wollte. In den Monaten nach seinem Verschwinden habe ich mir eine Menge Dinge ausgedacht.« Sie öffnete die Augen. »Seitdem ich das gelesen habe, weiß ich nicht mehr, was ich denken soll.«
Glorianna betrachtete die Aufzeichnungen, die ausdrucksstarke Handschrift, die aussah, als hätte die Hand leicht gezittert, während sie den Stift führte. Aus Eile? Oder aus Angst?
»Du glaubst, der Rat der Zauberer hat ihn umgebracht oder ihn umbringen lassen, weil er das hier herausgefunden hat?«
»Es ist denkbar.«
»Aber …« Trotz der geschlossenen Türen und Fenster, und obwohl sie alleine waren, senkte Glorianna die Stimme. »Weibchen, die man heimlich für die Zucht hält? Weibchen, die nicht... menschlich sind? Selbst wenn das wahr ist - er hat nicht gesagt, wo er diese Weibchen gesehen oder wer sich mit ihnen gepaart hat. Er hat niemand Bestimmten beschuldigt, die -«
»Peter war ein Zauberer«, unterbrach Nadia ihre Tochter. »Hätte er diesen Ort irgendwo außerhalb der Stadt der Zauberer gesehen, dann hätte er Bericht erstattet, und die Zauberer wären als Erste gegen eine dunkle Macht vorgegangen, die heimlich Stärke sammelt. Sie waren schon immer sehr lautstark dafür, die Menschheit
von den Dämonen fernzuhalten, die diese Welt mit uns teilen.«
»Genau.«
Nadia sah Glorianna an. Selbst im sanften Licht der Lampe auf dem Tisch wirkte ihr Gesicht älter, als sie war. »Wenn die Macht, die deine Art ins Leben gerufen hat, um die Welt zu kontrollieren, von deinen Feinden besiegt worden wäre, von denjenigen, die für das Licht standen, welche bessere Möglichkeit zu überleben gäbe es, als eine Gestalt anzunehmen, die nicht auffällt? Wie könnte man besser überleben, als durch den Bau einer Festung, in der man die Weibchen verstecken kann, die, aus welchem Grund auch immer, nicht in der Lage waren, ihre Gestalt zu verändern, aber im Mutterleib das dunkle Erbe trugen?«
»Ich glaube das nicht. Ich glaube das alles nicht.« Aber mit einem flauen Gefühl im Magen betrachtete Glorianna die Worte auf dem Papier.
Die Wächter der Dunkelheit sind keine bloße, ungesehene Macht, die durch Ephemera fließt und den Menschen die Gelegenheit gibt, den niederen Bedürfnissen ihres Herzens zu folgen. Und sie sind nicht so missgestaltet, dass sie in den dunklen Ecken der Städte herumschleichen oder sich in Höhlen auf dem Land verstecken und als schwarz verhüllte Gestalten erscheinen, die flüsternd Lügen verbreiten oder Unglück bringen.
Ich habe die Krippe gesehen, die Brutstätte. Ich habe gesehen, wie Männchen, die menschliche Gesichter trugen, sich mit Weibchen paarten, die nicht menschlich sind.
Die Wächter der Dunkelheit existieren. Sie sind wirklich. Sie tragen menschliche Masken, aber unter ihrer Haut liegt nichts Menschliches.
Und vielleicht bin auch ich nicht menschlich. Wenn die Macht, mit der ich geboren wurde, von diesem dunklen Ort stammt, bin ich es auch nicht.
»Ich habe dir die Familiengeheimnisse erzählt«, sagte Nadia sanft. »Dinge, die ich deinem Vater nie erzählt habe. Wir können unsere Blutlinie bis zu den ersten Landschafferinnen zurückverfolgen, die Wächter der Herzen waren. In menschlicher Gestalt, aber nicht menschlich. Sie hatten eine so starke Verbindung zu Ephemera, dass sie die Landschaften verändern konnten, dass sie die Welt selbst verändern konnten.«
»Wie ich«, flüsterte Glorianna.
»Wie du.«
Nadia stand auf, durchstöberte die Schränke und kam dann mit einer Flasche Branntwein und zwei Gläsern an den Tisch zurück. Sie füllte die Gläser und stellte eines neben Gloriannas Hand. Dann stürzte sie die Hälfte ihres Glases herunter, bevor sie sich wieder hinsetzte.
»Ich habe keine Heiratsurkunde«, sagte Nadia. »Ich wollte eine haben, aber Peter meinte, es sei genug, wenn wir im Herzen verheiratet wären. Und ich habe ihn genug geliebt, um mich damit zufrieden zu geben. Selbst als ich mit dir schwanger ging, hat er sich geweigert, eine offizielle Heirat in Betracht zu ziehen. Aber er erzählte mir ein Geheimnis der Zauberer.
Es war und ist den Zauberern nicht gestattet, eine körperliche Beziehung mit einer Landschafferin einzugehen. Wenn der Rat der Zauberer herausgefunden hätte, dass er mit mir zusammen war und ich sein Kind trug, welches das Blut der Zauberer mit dem der Landschafferinnen vereint, hätten sie ihn im besten Falle bestraft. Im schlimmsten Falle hätten sie uns beide in einer dunklen Landschaft eingeschlossen.
Er hat dich geliebt, Glorianna, aber gleichzeitig hatte er schreckliche Angst vor dir.«
Glorianna befeuchtete ihre Lippen, die so trocken waren, dass sie sich wund anfühlten. »Wenn die Zauberer die Nachkommen der Wächter der Dunkelheit sind und
die Landschafferinnen die Nachkommen der Wächter des Herzens …«
»Bist du die Vereinigung von Licht und Dunkelheit, und du bist die einzige bekannte Landschafferin unserer Zeit, die Landschaften verändern kann. Sie wirklich verändern kann. Ich glaube, dass Landschafferinnen wie du der Grund für das Verbot sind. Die Zauberer wollten dem Licht keine dunkle Macht zurückgeben, weil diese Vereinigung, denke ich, die einzige Art der Macht ist, die den Weltenfresser besiegen kann.«
Glorianna nahm einen Schluck Branntwein. »Ich kann das nicht alleine tun. Denkst du, ich kann allein gegen den Weltenfresser bestehen?«
»Ich weiß es nicht. Kannst du es?«
Die Frage ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Aber ein Gedanke entfaltete sich. »Sebastian«, flüsterte sie.
»Ja«, stimmte Nadia ihr zu. »Sebastian. Der Fehltritt deines Onkels Koltak ist der lebende Beweis, dass die Zauberer und die Sukkuben sich miteinander paaren und Nachkommen zeugen können. Dunkle Macht, die sich mit dunkler Macht paart.«
»Das bedeutet, er könnte ebenso die ganze Macht eines Zauberers als auch die eines Inkubus besitzen.«
»Er trägt den Samen in sich, aber er hat nie Anzeichen einer magischen Begabung an den Tag gelegt. Wenn es so gewesen wäre, hätte der Rat ihn wohl ausgebildet.«
»Aber Koltak ist kein reinblütiger Zauberer.«
Nadia nickte. »Koltak und Peter stammen nicht aus der Stadt der Zauberer. Ich denke, dass die Menschen, die in diese Familie eingeheiratet haben, der Grund sind, aus dem Koltak niemals die Macht erlangt hat, nach der er sich so sehr sehnte. Nicht, wenn es der Rat der Zauberer und ihre handverlesenen Schützlinge sind, die sich mit den Weibchen paaren, um einige der Blutlinien der Wächter der Dunkelheit rein zu halten.«
»Was ist mit Sebastian? Ist er denn überhaupt zu einem Teil menschlich?«
»Zumindest ein wenig.« Nadia hielt inne und seufzte dann. »Im Herzen ist er ein Mensch, Glorianna, auch wenn er nicht länger bereit ist, sich das einzugestehen.«
Erleichterung erfüllte sie. Es würde ihr das Herz brechen, Sebastian zum Feind zu haben.
»Du musst gehen, Tochter. Wenn die Zauberer es schaffen, dich zu finden und zu töten, bleibt uns keine Hoffnung, den Weltenfresser zu besiegen. Du musst dich verstecken, bis du zum Kampf bereit bist.«