Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (5 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Meine Freunde Klepp und Vittlar besuchten mich. Klepp brachte eine Jazzplatte mit zweimal King Oliver, Vittlar reichte geziert tuend ein am rosa Band hängendes Schokoladenherz. Sie trieben allerlei Unsinn, parodierten Szenen aus meinem Prozeß, und ich zeigte mich, um ihnen eine Freude zu machen, wie an allen Besuchstagen aufgeräumt und selbst den dümmsten Scherzen gegenüber eines Gelächters fähig. So unter der Hand und bevor Klepp seinen unvermeidlichen Lehrvortrag über die Zusammenhänge zwischen Jazz und Marxismus starten konnte, erzählte ich die Geschichte eines Mannes, der im Jahre dreizehn, also kurz bevor es los ging, unter ein schier endloses Floß geriet, nicht mehr hervorkam; selbst seine Leiche habe man nicht gefunden.

Auf meine Frage hin — ich stellte sie zwanglos, betont gelangweilt — drehte Klepp mißmutig den Kopf über verfettetem Hals, knöpfte sich auf und zu, machte Schwimmbewegungen und tat so, als wäre er unter dem Floß. Schließlich schüttelte er meine Frage ab und gab dem zu frühen Nachmittag die Schuld an der ausbleibenden Antwort.

Vittlar hielt sich steif, schlug die Beine, dabei den Bügelfalten Sorge tragend, übereinander, zeigte jenen feingestreiften, bizarren Hochmut, der nur noch Engeln im Himmel geläufig sein mag: »Ich befinde mich auf dem Floß. Hübsch ist es auf dem Floß. Mücken stechen mich, das ist lästig. — Ich befinde mich unter dem Floß. Hübsch ist es unter dem Floß. Keine Mücke sticht mich, das ist angenehm. Es ließe sich, glaube ich, leben unter dem Floß, wenn man nicht gleichzeitig die Absicht hätte, auf dem Floß weilend sich von Mücken stechen zu lassen.«

Vittlar machte seine bewährte Pause, musterte mich, hob dann, wie immer, wenn er einer Eule gleichen will, seine von Natur aus schon hohen Augenbrauen und betonte scharf theatralisch: »Ich nehme an, daß es sich bei dem Ertrunkenen, bei dem Mann unter dem Floß, um deinen Großonkel, wenn nicht sogar Großvater handelte. Da er sich als Großonkel und in weit größerem Maße als Großvater dir gegenüber verpflichtet fühlte, ist er zu Tode gekommen; denn nichts wäre dir lästiger, als einen lebenden 'Großvater zu haben. Du bist nicht nur der Mörder deines Großonkels, du bist der Mörder deines Großvaters! Da jener dich jedoch, wie es jeder echte Großvater gerne tut, ein wenig strafen wollte, ließ er dir nicht die Genugtuung eines Enkelkindes, das auf eine aufgedunsene Wasserleiche stolz hinweist und Worte gebraucht wie: Seht meinen toten Großvater. Er war ein Held!

Er ging ins Wasser, als sie ihn verfolgten. — Dein Großvater unterschlug der Welt und seinem Enkelkind die Leiche, damit sich die Nachwelt und das Enkelkind noch lange mit ihm befassen mögen.«

Dann, aus einem Pathos ins andere springend, ein listiger, leicht vorgebeugter, Versöhnung gaukelnder Vittlar: »Amerika, freue dich, Oskar! Du hast ein Ziel, eine Aufgabe. Man wird dich hier freisprechen, entlassen. Wohin, wenn nicht nach Amerika, wo man alles wiederfindet, selbst seinen verschollenen Großvater!«

So höhnisch und anhaltend verletzend die Antwort Vittlars auch sein mochte, gab sie mir dennoch mehr Gewißheit, als das zwischen Tod und Leben kaum unterscheidende Geraunze meines Freundes Klepp oder die Antwort des Pflegers Bruno, der den Tod meines Großvaters nur deshalb einen schönen Tod nannte, weil kurz nach ihm »SMS Columbus« vom Stapel lief und Wellen machte. Da lobe ich mir doch Vittlars Großväter konservierendes Amerika, das angenommene Ziel, das Vorbild, an dem ich mich aufrichten kann, wenn ich europasatt die Trommel und Feder aus der Hand geben will: »Schreib weiter Oskar, tu es für deinen schwerreichen, aber müden, in Buffalo,USA,Holzhandel treibenden Großvater Koljaiczek, der im Inneren seines Wolkenkratzers mit Streichhölzern spielt!«

Als sich Klepp und Vittlar verabschiedeten und endlich gingen, wies Bruno durch kräftiges Lüften allen störenden Geruch der Freunde aus dem Zimmer. Darauf nahm ich wieder meine Trommel, trommelte aber nicht mehr die Hölzer todverdeckender Flöße ab, sondern schlug jenen schnellen, sprunghaften Rhythmus, dem alle Menschen vom August des Jahres vierzehn an gehorchen mußten.

So wird es sich nicht vermeiden lassen, daß auch mein Text, bis zur Stunde meiner Geburt, nur andeutend den Weg jener Trauergemeinde nachzeichnen wird, welche mein Großvater in Europa zurückließ.

Als Koljaiczek unter dem Floß verschwand, ängstigten sich zwischen den Angehörigen der Flößer auf der Anlegebrücke der Sägerei meine Großmutter mit ihrer Tochter Agnes, Vinzent Bronski und dessen siebzehnjähriger Sohn Jan. Etwas abseits stand Gregor Koljaiczek, der ältere Bruder des Joseph, den man anläßlich der Verhöre in die Stadt gerufen hatte. Jener Gregor hatte vor der Polizei allzeit dieselbe Antwort bereitzuhalten gewußt: »Kenne ja meinen Bruder kaum. Weiß im Grunde nur, daß er Joseph heißt, und als ich ihn letztes Mal sah, war er vielleicht zehn oder sagen wir, zwölf. Die Schuhe hat er mir geputzt und Bier geholt, falls Mutter und ich Bier wollten.«

Wenn sich auch herausstellte, daß meine Urgroßmutter eine Biertrinkerin war, konnte der Polizei mit der Antwort des Gregor Koljaiczek nicht geholfen werden. Dafür aber half die Existenz des älteren Koljaiczek um so mehr meiner Großmutter Anna. Gregor, der in Stettin, Berlin, zuletzt in Schneidemühl Jahre seines Lebens zugebracht hatte, blieb in Danzig, fand Arbeit auf der Pulvermühle bei »Bastion Kaninchen« und heiratete nach Jahresfrist, nachdem alles Komplizierte, wie die Ehe mit dem falschen Wranka, geklärt und zu den Akten gelegt worden war, meine Großmutter, die nicht von den Koljaiczeks lassen wollte, die den Gregor nie oder nicht so schnell geheiratet hätte, wenn er nicht ein Koljaiczek gewesen wäre.

Die Arbeit auf der Pulvermühle bewahrte Gregor vor dem bunten und bald darauf grauen Rock. Zu dritt wohnten sie in derselben Eineinhalbzimmerwohnung, die dem Brandstifter jahrelang Unterschlupf geboten hatte. Es zeigte sich jedoch, daß ein Koljaiczek nicht wie der nächste Koljaiczek zu sein braucht, denn meine Großmutter sah sich nach einem knappen Jahr Ehe gezwungen, den gerade leerstehenden Kellerladen des Mietshauses imTroyl zu mieten und Krimskrams, von der Stecknadel bis zum Kohlkopf verkaufend, Verdienst zu suchen, weil der Gregor bei der Pulvermühle zwar eine Stange Geld verdiente, dennoch nicht das Nötigste nach Hause brachte, sondern alles vertrank. Während Gregor, wahrscheinlich von meiner Urgroßmutter her, ein Trinker war, war mein Großvater Joseph ein Mann, der ab und zu gerne einen Schnaps trank. Gregor trank nicht, weil er traurig war. Selbst wenn er fröhlich zu sein schien, was selten bei ihm vorkam, weil er der Melancholie anhing, trank er nicht um der Lustigkeit willen. Er trank, weil er allen Dingen auf den Grund ging, so auch dem Alkohol. Niemand hat Gregor Koljaiczek zu Lebzeiten ein halbvolles Gläschen Machandel stehenlassen sehen.

Meine Mama, damals ein rundliches, fünfzehnjähriges Mädchen, machte sich nützlich, half im Geschäft, klebte Lebensmittelmarken, trug am Sonnabend die Ware aus und schrieb ungelenke, doch phantasievolle Mahnbriefe, die die Schulden der Pumpkundschaft eintreiben sollten. Schade, daß ich keinen dieser Briefe besitze. Wie schön wäre es, an dieser Stelle einige halb kindliche, halb mädchenhafte Notschreie aus den Episteln einer Halbwaise zitieren zu können, denn der Gregor Koljaiczek gab keinen vollwertigen Stiefvater ab. Vielmehr hatten meine Großmutter und ihre Tochter Mühe, ihre zumeist mit Kupfer und wenig Silber gefüllte Kasse, die aus zwei übereinandergestülpten Blechtellern bestand, vor dem melancholischen koljaiczekschen Blick des immer durstigen Pulvermüllers zu bewahren. Erst als Gregor Koljaiczek im Jahre siebzehn an der Grippe starb, steigerte sich die Verdienstspanne des Trödelladens etwas, doch nicht viel; denn was konnte man im Jahre siebzehn schon verkaufen?

Die Kammer der Eineinhalbzimmerwohnung, die seit dem Tod des Pulvermüllers leer stand, weil meine Mama, die Hölle fürchtend, dort nicht einziehen wollte, bezog Jan Bronski, der damals etwa zwanzigjährige Cousin meiner Mama, der Bissau und seinen Vater Vinzent verlassen hatte, um mit einem guten Abschlußzeugnis der Mittelschule Karthaus und nach abgeschlossener Lehrzeit auf der Post des Kreisstädtchens, nun auf der Hauptpost Danzig I die mittlere Verwaltungslaufbahn einzuschlagen. Jan brachte außer seinem Koffer auch seine umfangreiche Briefmarkensammlung in die Wohnung seiner Tante. Er sammelte schon seit frühester Jugend, hatte also zur Post nicht nur ein berufliches, sondern auch ein privates, immer behutsames Verhältnis. Der schmächtige, leicht gebückt gehende junge Mann zeigte ein hübsches, ovales, vielleicht etwas zu süßes Gesicht und blaue Augen genug, daß sich meine Mama, die damals siebzehn war, in ihn verlieben konnte. Man hatte den Jan schon dreimal gemustert, ihn aber bei jeder Musterung wegen seines miesen Zustandes zurückgestellt; was in jenen Zeiten, da man alles nur einigermaßen gerade Gewachsene nach Verdun schickte, um es auf Frankreichs Boden in die ewige Waagrechte zu bringen, allerlei über die Konstitution des Jan Bronski besagte.

Die Liebelei hätte eigentlich schon beim gemeinsamen Besehen der Briefmarkenalben, beim Kopf-an-Kopf-Prüfen der Zahnungen besonders wertvoller Exemplare beginnen müssen. Sie begann aber oder kam erst zum Ausbruch, als Jan zu seiner vierten Musterung bestellt wurde. Meine Mama begleitete ihn, da sie ohnehin in die Stadt mußte, vor das Bezirkskommando, wartete dort neben dem vom Landsturm bewachten Schilderhäuschen und war sich mit Jan darin einig, daß derJan diesmal nach Frankreich müsse, um seinen kümmerlichen Brustkorb in der eisen-und bleihaltigen Luft jenes Landes kurieren zu können. Vielleicht hat meine Mama des Landsturmmannes Knöpfe mehrmals und mit wechselndem Ergebnis abgezählt. Ich könnte mir vorstellen, daß die Knöpfe aller Uniformen so bemessen sind, daß der zuletzt gezählte Knopf immer Verdun, einen der vielen Hartmannsweilerköpfe oder ein Flüßchen meint: Somme oder Marne.

Als sich nach einer knappen Stunde das zum viertenmal gemusterte Kerlchen aus dem Portal des Bezirkskommandos schob, die Treppen hinunterstolperte und der Agnes, meiner Mama, um den Hals fallend, den damals so beliebten Spruch zuflüsterte: »Kein Arsch, kein Gnick, ein Jahr zurück!« da hielt meine Mutter den Jan Bronski zum erstenmal, und ich weiß nicht, ob sie ihn späterhin jemals glücklicher gehalten hat.

Details jener jungen Kriegsliebe sind mir nicht bekannt. Jan verkaufte einen Teil seiner Briefmarkensammlung, um den Ansprüchen meiner Mama, die einen wachen Sinn fürs Schöne, Kleidsame und Teure hatte, nachkommen zu können, und soll zu jener Zeit ein Tagebuch, geführt haben, das später leider verlorenging. Meine Großmutter schien das Bündnis der beiden jungen Leute — man kann annehmen, daß es übers Verwandtschaftliche hinaus ging — geduldet zu haben, denn Jan Bronski wohnte bis kurz nach dem Kriege in der engen Wohnung auf dem Troyl. Er zog erst aus, als sich die Existenz eines Herrn Matzerath nicht mehr leugnen ließ und auch zugegeben wurde. Jenen Herrn muß meine Mama im Sommer achtzehn kennengelernt haben, als sie im Lazarett Silberhammer bei Oliva als Hilfskrankenschwester Dienst tat. Alfred Matzerath, ein gebürtiger Rheinländer, lag dort mit einem glatten Oberschenkeldurchschuß und wurde auf rheinisch fröhliche Art bald der Liebling aller Krankenschwestern — die Schwester Agnes nicht ausgenommen. Halb genesen humpelte er am Arm dieser oder jener Pflegerin auf dem Korridor und half der Schwester Agnes in der Küche, weil ihr das Schwesternhäubchen so gut zum runden Gesicht stand, auch weil er, ein passionierter Koch, Gefühle in Suppen zu wandern verstand.

Als die Verwundung ausgeheilt war, blieb Alfred Matzerath in Danzig und fand dort sofort Arbeit als Vertreter seiner rheinischen Firma, eines größeren Unternehmens der papierverarbeitenden Industrie.

Der Krieg hatte sich verausgabt. Man bastelte, Anlaß zu ferneren Kriegen gebend, Friedensverträge: das Gebiet um die Weichselmündung, etwa von Vogelsang auf der Nehrung, der Nogat entlang bis Pieckel, dort mit der Weichsel abwärts laufend bis Czattkau, links einen rechten Winkel bis Schönfließ bildend, dann einen Buckel um den Saskoschiner Forst bis zum Ottominer See machend, Mattem, Ramkau und das Bissau meiner Großmutter liegen lassend und bei Klein-Katz die Ostsee erreichend, wurde zum Freien Staat erklärt und dem Völkerbund unterstellt. Polen erhielt im eigentlichen Stadtgebiet einen Freihafen, die Westerplatte mit Munitionsdepot, die Verwaltung der Eisenbahn und eine eigene Post am Heveliusplatz.

Während die Briefmarken des Freistaates ein hanseatisch rotgoldenes, Koggen und Wappen zeigendes Gepränge den Briefen boten, frankierten die Polen mit makaber violetten Szenen, die Kasimirs und Batorys Historien illustrierten.

Jan Bronski wechselte zur Polnischen Post über. Sein Übertritt wirkte spontan, desgleichen seine Option für Polen. Viele wollen den Grund für die Erwerbung der polnischen Staatsangehörigkeit im Verhalten meiner Mama gesehen haben. Im Jahre zwanzig, da Marszalek Pilsudski die Rote Armee bei Warschau schlug und das Wunder an der Weichsel von Leuten wie Vinzent Bronski der Jungfrau Maria, von Militärsachverständigen entweder General Sikorski oder General Weygand zugesprochen wurde, in jenem polnischen Jahr also verlobte sich meine Mama mit dem Reichsdeutschen Matzerath.

Fast möchte ich glauben, daß meine Großmutter Anna gleich dem Jan mit dieser Verlobung nicht einverstanden war. Sie überließ den Kellerladen auf dem Troyl, der es inzwischen zu einiger Blüte gebracht hatte, ihrer Tochter, zog zu ihrem Bruder Vinzent nach Bissau, also ins Polnische, übernahm wie in vorkoljaiczekschen Zeiten den Hof mit Rüben-und Kartoffeläckern, gönnte dem mehr und mehr von Gnade gerittenen Bruder Umgang und Zwiegespräch mit der jungfräulichen Königin Polens und begnügte sich damit, in vier Röcken hinter herbstlichen Kartoffelkrautfeuern zu hocken und zum Horizont hinzublinzeln, den immer noch Telegrafenstangen einteilten.

Erst als Jan Bronski seine Hedwig, eine Kaschubsche aus der Stadt, die aber in Ramkau noch Äcker besaß, fand und auch heiratete, besserte sich das Verhältnis zwischen Jan und meiner Mama. Bei einem Tanzvergnügen im Cafe Woyke, da man sich zufällig traf, soll sie den Jan dem Matzerath vorgestellt haben. Die beiden so verschiedenen, doch in bezug auf Mama einmütigen Herren fanden Gefallen aneinander, obgleich Matzerath den Übertritt Jans zur Polnischen Post schlankweg und lautrheinisch eine Schnapsidee nannte. Jan tanzte mit Mama, Matzerath mit der starkknochigen, großgeratenen Hedwig, die den unfaßbaren Blick einer Kuh hatte, was ihre Umgebung veranlaßte, in ihr ständig eine Schwangere zu sehen. Man tanzte noch oft miteinander, durcheinander, dachte beim Tanz an den nächsten Tanz, war sich beim Schieber voraus und beim Englischen Walzer enthoben, fand schließlich im Charleston den Glauben an sich selbst und im Slowfox Sinnlichkeit, die an Religion grenzte.

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