Authors: Joseph D'Lacey
Tags: #Fiction, #Horror, #Thrillers, #Suspense, #Science Fiction, #General, #General Fiction
»Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise an Fleisches statt.«
Genesis 1,29
1
Unter Himmeln aus angelaufenem Silber, den granitfarbenen Wolken entgegen, rennt Richard Shanti nach Hause.
Schritt für Schritt, die Füße schwer wie Blei, ringt das Keuchen seines Atems mit dem Trommeln seiner Füße um einen gemeinsamen Rhythmus. Der letzte Rest Feuchtigkeit in seinem Körper ist der Schleimpfropfen in seiner Kehle. Im stetigen, monotonen Wechsel signalisieren ihm seine Beine, dass sie den brennenden Schmerz nicht mehr ertragen, dass sie zu müde sind, weiterzumachen. Er will auf sie hören.
Stattdessen spuckt er ihnen den kostbaren Schleim vor die Füße.
Ihm ist der Schweiß ausgegangen, bis auf den letzten Tropfen ist er auf seinen Schläfen verdampft. Sein Gesicht steht in Flammen. Das Salz beißt in seinen Augen, aber er hat keine Tränen mehr, es hinauszuspülen. Dieser Lauf dörrt ihn aus.
Er lächelt.
Seine Waden und Schenkel brennen wie Feuer. Mit jedem Schritt lodern die Flammen höher. Seine Muskeln sind nur noch Lava und Gallert. Jegliche Widerstandskraft ist aus ihnen entwichen. Ihr Speicher an Güte oder Gnade ist bis aufs letzte Gramm erschöpft.
Noch nicht.
Seine Schienenbeine biegen sich unter der Last jeder ein
zelnen Berührung mit dem Boden. Er spürt, wie sie unter der Belastung nachgeben. In seiner Vorstellung durchzie
hen Haarrisse die blendend weißen Knochen, bis sie bersten. Es klingt wie das Brechen eines Holzlineals in einem vollen Wasserbecken. Es multipliziert seinen Schmerz. Das morsche Splittern kracht durch seine Sinne und klingt eine Ewigkeit in seinen Ohren nach.
Was wird es kosten, die Schuld zu tilgen? Ich werde alles dafür tun. Ich will meine Unschuld zurück.
Er läuft.
Es geht immer noch schneller. Der Schmerz setzt die Interpunktion. Seine Sohlen trommeln im Takt der Qual auf der steinigen Straße.
Tack-tack-tack-tack-tack-tack-tack.
Er läuft.
Dies ist seine einzige Hoffnung auf Erlösung. Er läuft. Er zahlt.
Dieses Leben ist nicht lang genug, ihn von all dem Übel, das er in die Welt gebracht hat, zu reinigen. Seine Verdammnis ist selbstverschuldet. Jeder Teil von ihm soll dafür Buße tun. Die Agonie in seinen Fußsohlen sticht bis herauf ins Mark seiner Knochen. Er stellt sich vor, wie seine Fußwurzel unter dem Druck zu splittern beginnt.
Er läuft. Zwingt den Schmerz in seinen Körper. Der Rucksack schlägt auf seinen Rücken, als hätte er einen eigenen Willen. Jeder Schritt wirft ihn hoch und schleudert ihn dann mit Wucht wieder herunter gegen seine Wirbelsäule. Er hindert ihn daran, in einen gleichmäßigen Laufrhythmus zu finden. Die Riemen scheuern an seinen Schultern, und das Gewicht droht ihn, hintenüberzureißen. Ohne Unterlass hämmert er auf ihn ein, prügelt ihn gen Boden.
Der ungestüme Durchzug der Luft hat seine Lungen ver ödet. Die Abgase der vorbeifahrenden Lastwagen krallen sich in seiner Kehle fest, bis sie zu einem giftigen Schlick destilliert sind, von dem ihm übel wird.
Er läuft. Er zahlt. Er betet.
Der Schmerz ist nun allgegenwärtig. Die von seinen Gelenken und Knochen ausgehende Pein schabt jeden einzelnen Augenblick seine Nervenbahnen entlang. Seine Existenz ist strahlendes, weißes Leid.
Vielleicht reinigt es mich.
»Hey, Eispickel!«, rief Bob Torrance von der erhöhten Aussichtsplattform am Kopf der Stahltreppe. »Wie schnell läuft die Schlachtstraße heute?«
Shanti verglich den Schusszähler neben der Zugangsklappe mit der Hauptuhr.
»Läuft mit 130 die Stunde, Sir.«
Torrance grinste gleichermaßen vor Bewunderung und Verzückung. Eine hohe Produktionsrate garantierte Bonuszahlungen für alle. Dank ihr würde er bei den Männern und bei Rory Magnus eine gute Figur machen.
»Schneller als du bringt nur 'ne Seuche das Vieh um die Ecke, Rick. Mach weiter so.«
Shanti war mit Abstand der abgebrühteste Mitarbeiter in Magnus-Fleisch-Produktion und der erklärte Liebling von Bob Torrance, dem Vorarbeiter an der Schlachtstraße. Jemand wie er war ihm noch nie zuvor begegnet. Sie nannten ihn Eispickel oder Eispickel-Rick, weil er die Schlachtschusspistole mit einer Gemütsruhe und Gefühlskälte bediente, die ihresgleichen suchte. Psychologisch betrachtet war Shantis Job einer der härtesten an der Schlachtstraße, es war derjenige, welcher die Psyche am heftigsten belastete. Aus diesem Grund wechselten sich vier ausgebildete Schlächter aus der Belegschaft auf der Position ab: Auf eine Woche am Bolzenschussapparat folgten drei Wochen in anderen Bereichen der Straße oder sonst wo in der Fabrik. Niemand konnte pausenlos töten, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Monat für Monat, ohne dass es bleibende Spuren im Kopf hinterlässt. Die regelmäßige Auszeit war zwingend notwendig zur Erhaltung der geistigen Gesundheit und, was noch wesentlich wichtiger war, um eine möglichst hohe Produktivität des Arbeiters zu garantieren.
Wenn es aber jemand fertigbrachte, lebenden und atmenden Kreaturen, von jetzt bis zu seiner Pensionierung, das Bolzenschussgerät zwischen die Brauen zu drücken, ohne jemals nur einen einzigen Tag freizunehmen, war es Eispickel, Richard Shanti. Wenn irgendjemand für den Rest seines Lebens diesen Wesen, die jeden Moment ausgeblutet, ausgeweidet, portioniert und verpackt sein würden, in die Augen sehen könnte, ohne dass seine Psyche dabei auch nur die leiseste Spur eines Schadens davontrug, dann war er das.
Und er sah ihnen in die Augen. Jedermann hier hatte gesehen, wie er es tat.
Für die meisten Schlächter waren die Augen das Problem. Torrance konnte sehr gut nachvollziehen, warum: In jungen Jahren hatte er selbst als Schlächter gearbeitet. Er wusste, dass es der härteste Job im Schlachthaus war. Wie könnte man zusehen, wenn das Licht in Tausenden von Augenpaaren erlosch, ohne dass es einem naheging? Wie sollte man sich nicht fragen, wohin dieses Licht verschwand? Wie konnte man sich nicht fragen, ob nicht vielleicht doch etwas falsch daran war, was man tat?
Diese Fragen hinterließen Spuren in den Köpfen der Leute. Jedes der erlöschenden Augenpaare hatte seine eigene Beschaffenheit, seinen eigenen Charakter. Jedes Augenpaar war absolut einzigartig.
Was störte es ihn, wenn die anderen Arbeiter Shanti mieden? Was, wenn der jede Nacht und jeden Morgen rannte, bis er beinahe zusammenbrach? Solange er pünktlich zur Arbeit erschien und diese so gut erledigte, wie er es immer tat, hatte Torrance keinen Grund zur Klage. Jeder Schlächter brauchte einen Ausgleich zu seiner Arbeit. Wenn das Laufen Shanti dabei half, seinen Job zu bewältigen, war das Torrance nur recht und billig. Er lächelte still in sich hinein, als er sich vorstellte, wie Shanti abends auf dem Weg nach Hause Blut und Wasser schwitzte.
Besser hätte er es gar nicht treffen können.
Die Geschäftsführung hatte über die Jahrzehnte gelernt, dass die Schlächter regelmäßige Auszeiten von dem Job brauchten, für den sie ausgebildet worden waren, sonst machten sie es nicht lange. Torrance hatte das im Laufe seiner Karriere bei MFP schon mehrfach erlebt. An einen jungen Angestellten erinnerte er sich besonders gut:
Schlächter Wheelie Patterson war ein heiterer, unverbrauchter Junge, als er den Job antrat. Jeden Abend wenn er vom Hof fuhr, riss er das Vorderrad seines Fahrrads hoch in die Luft, um die Leute zu beeindrucken und zum Lachen zu bringen. Er war aufgeweckt, herzlich und ging seiner Arbeit mit Hingabe nach. Er erzählte dem damaligen Vorarbeiter an der Schlachtstraße ― einem unsensiblen Idioten namens Eddie Valentine ―, dass er es auf seinem Posten als Schlächter zwei Wochen hintereinander durchhalten würde. Es war ein Fehler von Valentine, ihn das machen zu lassen. Aber damals gab es noch keine säkularen oder praktischen Richtlinien, sondern ausschließlich religiöse.
Der Junge erledigte seine Arbeit an der Schlüsselposition der Straße, als wäre er eine der Maschinen. Das Förderband lief an, die Aluminiumklappe öffnete sich und gab den Blick auf einen fixierten Kopf frei. Wheelie sprach das segnende »Gott ist allmächtig. Das Fleisch ist geheiligt«, dann betätigte er den Abzug und mit einem scharfen Zischen und einem metallischen Schlag bohrte sich der Bolzen in den Schädel. Die Klappe schloss sich. Er drückte den Knopf und das Band lief wieder an.
Die Klappe öffnete sich.
Kopf.
Augen.
»Gott ist allmächtig. Das Fleisch ist geheiligt.« Zisch-Klonk.
Die Klappe schloss sich.
Der Schusszähler sprang weiter.
Auf diese Art ― zwei Wochen rauf, zwei Wochen runter ―arbeitete Wheelie sechs Monate lang. Jeden Abend fuhr er auf dem Rad nach Hause und ließ sich auf dem Parkplatz für seine Einradeinlage bejubeln. Die anderen zwei Wochen arbeitete er in der Tötungsbucht oder trieb das Vieh mit einer elektrischen Lanze in die Pferche oder auf die Vereinzelungsrampen.
Nach einiger Zeit fiel den Kollegen auf, dass sich Wheelie Pattersons Lächeln verändert hatte. Er trug es wie eine Maske, die ihm zu eng geworden war und Schmerzen verursachte. Sie bemerkten, dass er seine Arbeit nicht mehr so professionell und engagiert erledigte wie am Anfang. Er zielte mit seiner Lanze, dem »Hotshot«, vorsätzlich auf die Genitalien des Viehs in den Pferchen und versuchte die hängenden Euter der erschöpften Milchkühe mit Stromschlägen zu traktieren. Torrance ertappte ihn wiederholt dabei, wie er einen Bullen in die Ecke trieb und mit Elektroschocks quälte. Die Bullen waren diejenigen, die den heftigsten Widerstand leisteten.
Wheelie verlor seinen Job als Schlächter, als man ihn erwischte, wie er das Bolzenschussgerät auf jeden Körperteil eines Bullen abfeuerte, den er durch die Zugangsklappe erreichte ― außer auf den vorgesehenen Betäubungspunkt. Torrance war derjenige, der ihm die Luftdruckwaffe aus den Händen riss und das Leben des Bullen mit einem einzigen, korrekt positionierten Schuss beenden musste. Zu diesem Zeitpunkt war das Gemetzel bereits ziemlich weit fortgeschritten. Die Bolzenschusspistole hatte den Kiefer des Tieres gespalten und beide Wangenknochen zertrümmert. Aus den riesigen runden Löchern, die der Bolzen hinterließ, floss das Blut. Darüber hinaus hatte es Wheelie irgendwie fertig gebracht, die Luftröhre des Bullen zu durchlöchern und ihm durch beide Schultern in die Lungenflügel zu schießen. Als Torrance ihn erreichte, war der Bulle kaum noch in der Lage, um Erlösung zu winseln.
Aber Viehtreiber und Schlächter waren schwer zu ersetzen und Wheelies Verhalten hatte, vom Standpunkt der Geschäftsführung aus betrachtet, keinen größeren Schaden verursacht, als kurzfristig die Produktion der Fabrik zu verlangsamen, ohne MFP allerdings übermäßig viel Geld zu kosten. Immerhin war es seinem fahrlässigen Umgang mit dem Vieh in den Gattern und auf den Rampen geschuldet, dass nun ein Teil des produzierten Fleisches von PSE betroffen war. Der Begriff beschreibt die Konsistenz von Fleischstücken die »pale, soft, exudative« also »bleich, weich und wässrig« ist. Fleisch, das die Leute nicht kaufen, weil es schlecht schmeckt und von unangenehmer Beschaffenheit ist. PSE wird zweifelsfrei dadurch verursacht, dass das Vieh in den Stunden und Minuten direkt vor der Schlachtung erhöhtem Stress ausgesetzt ist. Dementsprechend hatten Wheelies Spielchen mit dem »Hotshot« eigentlich kaum etwas an der Qualität von Magnus-Fleisch-Produkten geändert.
Er wurde verwarnt, zu einer Nachschulung geschickt und auf eine Position weiter hinten in der Fertigung versetzt, wo er die Tiere nicht mehr quälen oder ihr Fleisch verderben konnte. Künftig musste er mit der Knochenschere Extremitäten abtrennen.
Selbst nachdem von Rory Magnus die »Eine Woche drauf, drei Wochen runter«-Regelung eingeführt wurde, wuchs der Job immer noch einigen über den Kopf. Torrance erinnerte sich an einen Schlächter, der sich, nachdem sich die Zugangsklappe geöffnet hatte und er der Kuh in der Fixierungsbox in die Augen sah, mit dem Bolzenschussgerät selbst in den Kopf schoss. Es erwischte über die Jahre eine ganze Reihe von Schlächtern auf die unterschiedliche Art und Weise. Einige fügten sich außerhalb der Dienstzeiten Verletzungen zu und trugen die Narben mit zur Arbeit. Andere wurden bloß ein wenig bekloppt, was in Ordnung war: Viele der Männer in Magnus' Belegschaft waren nicht ganz richtig im Oberstübchen.
Aber das waren die Ausnahmen im insgesamt reibungslosen Ablauf der MFP-Fertigung. Torrance hielt sich nicht allzu lang mit den Ausnahmen auf, denn er mochte es, wenn alles glattlief. Glatt und cool, wie Richard Shanti.
Wie ein Eispickel.
Maya Shanti bereitete gerade das Abendessen zu, als er nach Hause kam.
Sie arbeitete in der Küche mit den großen Fenstern und blickte immer wieder vom Kochen auf, für den Fall, dass er früher heimkehrte. Was er niemals tat. Als sie frisch verheiratet waren, hatte er für den Heimweg oft den MFP-Bus genommen, war nur ein paarmal pro Woche in seiner Arbeitskleidung und mit einem kleinen Bündel auf dem Rücken zur Arbeit gerannt. Über die Jahre wurde das Laufen zur Obsession für ihn. Sie war sich sicher, dass es ihn irgendwann umbringen würde.
Sie brachte drei Töpfe mit Wasser zum Kochen, um die grünen Bohnen, den Brokkoli und Spinat hineinzugeben, sobald sie seine hagere, gekrümmte Silhouette den Weg herauftrotten sah. Der Reis war bereits gar und stand zum Warmhalten im Ofen. Sie machte eine Menge Reis und nötigte Harsha und Hema, mindestens drei volle Schüsseln zu essen, bevor sie vom Tisch aufstanden.