Authors: Joseph D'Lacey
Tags: #Fiction, #Horror, #Thrillers, #Suspense, #Science Fiction, #General, #General Fiction
BLAU-792 setzt sich ins Stroh, hebt die Schüssel mit seinen Handflächen und beugt gleichzeitig seinen Kopf zu ihr herunter. Derselbe Geruch, derselbe Geschmack, dieselbe Menge wie immer. Gleich einem Hund, die Schnauze flach in die Schale gedrückt, stürzt er sich mit seinem zahnlosen Mund auf den warmen Matsch, den er zum Frühstück bekommt. Er atmet den Brei eher ein, als dass er ihn wirklich isst. Er vermag kaum zu kauen, was ihn aber nicht im Geringsten von der Nahrungsaufnahme abhält. Nach fünf Minuten des Schlabberns und Schlürfens ist der Boden der Schüssel zu sehen. Er wischt sie mit den Stümpfen seiner Finger aus. Er schleckt die Schale aus. Er wischt sich die Reste des Breis mit den Handflächen aus seinem Gesicht und leckt sie sauber. Die Schüssel fällt aus seinen stummeligen Händen.
Er legt sich auf dem Rücken ins Stroh und rülpst zweimal aus tiefster Kehle. Die Erektion ist verschwunden. Er hat immer noch braune Flecken des Breis auf Wangen, Kinn und Hals. Bald darauf schnarcht BLAU-792 so heftig, dass neben ihm die Paneele der Wandverkleidung im Takt seines Atems zu vibrieren beginnen.
Die Schlachtstraße ist lang, aber die Auserwählten haben sie schnell passiert.
Es beginnt in den Pferchen, wohin die Herden direkt von den Feldern und Weidegründen gebracht werden, die nur einige Hundert Meter weiter auf dem riesigen MFP-Gelände liegen. Selbst für diese kurze Reise wird das Vieh auf gasbetriebene Transporter verladen, um es besser unter Kontrolle zu haben. Von den Ladeflächen der Transporter wird eine Rampe zum Eingang der Sammelpferche herabgelassen, und die Viehtreiber benutzen elektrische Lanzen, um das Vieh von den Lastwagen zu treiben.
Die »Hotshots«, wie die Viehtreiber die Lanzen nennen, erzeugen eine Hochspannungsladung, die für das Vieh zwar ungefährlich, aber unmöglich zu ignorieren ist. Die Transporter leeren sich schnell. Die Geschwindigkeit, mit der sie das tun, wirkt sich exponentiell auf die Effizienz und Produktivität der Schlachtstraße aus. Verzögerungen während der Entladung bedeuten ungleich mehr Verzögerungen für jede andere Station in der Schlachtstraße.
Sobald das Vieh in den Pferchen ist, setzen die Viehtreiber ihre Hotshots ein, um es, immer noch als Herde, zu den Vereinzelungsrampen zu treiben. Eine Reihe hoher, vergitterter Tore wird hinter den sich vorwärts bewegenden Tieren geschlossen, um die Dichte der Herde aufrechtzuerhalten, während sie zur Rampe geschleust werden.
Die Öffnung der Vereinzelungsrampe verjüngt sich, bis sie schließlich nur noch Raum für ein Tier bietet. Aus der Herde wird eine Schlange. Der Druck des nachrückenden Viehs reicht in der Regel aus, um die einzelnen Tiere in der Rampe vorwärtszutreiben Doch gelegentlich ist ein wenig Nachdruck mittels der Hotshots nötig. Hier ist ein Viehtreiber, den man »Sortierer« nennt, dafür verantwortlich, das Vieh in Bewegung zu halten und besonders schreckhafte Tiere davon abzuhalten, aus der Rampe auszubrechen.
Das vorderste Tier in der Rampe erreicht irgendwann
eine Stahlwand, gegen die es vom nachfolgenden Vieh gepresst wird. Wenn sich die Wand dann öffnet, wird es, entweder durch den Druck der Masse oder einen letzten Stoß des Sortierers, weitergetrieben. Auf der anderen Seite der Wand landet jedes einzelne Tier in einer kleinen, engen, stählernen Box. Dem Tier bleibt keine Wahl. Es ist in der Box gefangen, die sich nun automatisch von der Schlange in der Rampe entfernt.
Diese Box ist die Betäubungsgondel, auch »Ruhigsteller« genannt. Sobald sie sich in Bewegung setzt, fährt von oben ein kleiner Käfig herunter, der den Kopf des Tieres fixiert.
An dieser Stelle versucht das Tier instinktiv, in die Knie zu gehen und sich nach unten sinken zu lassen, um dem Käfig auszuweichen. Aber während die Box sich vorwärtsbewegt, schiebt sich eine Schiene durch die Seitenwände, die jegliche Bewegung der Beine unmöglich macht. Seitwärtsbewegungen werden durch die Enge der Betäubungsgondel verhindert. Das Tier wird also völlig bewegungsunfähig gehalten. Nicht mittels Ketten oder Fesseln, sondern schlicht durch die Ausmaße seines Aufenthaltsortes.
Die Gondel fährt nun in einer Stop-Motion-Bewegung vorwärts, deren Geschwindigkeit von der Präzision und dem Geschick des Schlächters abhängt. Jedes Mal, wenn der Schlächter erfolgreich den Abzug des Schlachtschussgerätes betätigt hat, drückt er einen Knopf, der die nachfolgende Betäubungsgondel in eine Position direkt vor ihm befördert. Das Tier, das gerade erst die Schlachtstraße betreten hat, befindet sich nach nur fünf Stopps hinter einer Luke, die direkt auf der Höhe seines Gesichts liegt. Innerhalb von nur ein bis zwei Sekunden fährt diese Klappe nach oben, und das Tier blickt für einen kurzen Augenblick auf den Fabrikboden. Das Letzte, was es sieht, ist ein Schlächter, der die Bolzenschusspistole auf seiner Stirn aufsetzt.
Das Bolzenschussgerät dient dazu, die Tiere auf möglichst humane Weise bewusstlos zu machen, um sie auf den Blutentzug vorzubereiten. Es ist eine pneumatische Handfeuerwaffe, die mittels Entladung komprimierter Luft einen gesicherten Bolzen abfeuert. Der Bolzen ist ein zehn Zentimeter langer Stift mit einer Nut im oberen Teil des Schafts. Das untere Ende des Bolzens ist pilzförmig. Für diese Form gibt es zwei Gründe: Erstens dient sie als Kolben, der von der Druckluft vorwärtskatapultiert wird. Zweitens verhindert sie, dass der Bolzen beim Abfeuern den Lauf der Pistole verlässt. Deshalb: gesicherter Bolzen.
Einen Bolzen in den Kopf eines Tieres abzufeuern, dient maßgeblich zwei Zielen. Erstens, den Schädel des Tieres zu durchbohren und tief in das Gehirn einzudringen. Zweitens, einen massiven und plötzlichen Anstieg des Drucks im Schädelinneren zu bewirken. Mit anderen Worten: Es dient dazu, eine sehr kleine, aber signifikante Explosion im Gehirn zu verursachen, deren Folge eine sofortige und schmerzfreie Ohnmacht ist.
Gelegentlich muss die Schlachtschusspistole ein zweites oder drittes Mal betätigt werden, was nur selten an der Mechanik des Geräts liegt. Wesentlich häufiger ist mangelhafte Wartung oder menschliches Versagen der Grund für die Notwendigkeit eines zweiten oder dritten Abfeuerns des Bolzenschussgeräts. Der Apparat sollte täglich zwischen den Schichten gewartet werden, um die Funktionsfähigkeit zu garantieren. Alle Schlächter müssen voll ausgebildet und geprüft sein, bevor sie auf dieser Position der Schlachtstraße eingesetzt werden dürfen.
Wenn die Betäubungsprozedur vom Schlächter für erfolgreich befunden wurde ― ein Prozess, der keinesfalls länger als zwei bis drei Sekunden beanspruchen sollte ―, schließt sich die Klappe, und das bewusstlose Tier wird zur nächsten Station der Straße, der Tötungsbucht, befördert. Die Anlage, mit der das geschieht, sieht von oben aus wie ein auf der Seite liegendes Wasserrad, bei dem jede Gondel als Eimer fungiert.
Anschließend öffnet sich die Betäubungsgondel, und das Tier fällt heraus, um über eine angewinkelte Stahlrinne zum »Anstecher« zu rutschen. Die Arbeit der Anstecher ist simpel und muss vor allem schnell ausgeführt werden. Sie müssen eine Kette um eines oder beide Fußgelenke des Tieres legen und in die Senkrechte ziehen. In dieser Position erfolgt das Ausbluten schneller, als wenn man das Tier in der Horizontalen liegen ließe. Unter Verwendung einer langen, dünnen Klinge muss der Anstecher nun beide Karotiden und die Trachee im Hals des Tieres durchtrennen. Die Geschicklichkeit eines Anstechers misst sich ausschließlich an der Geschwindigkeit und Effizienz, mit der er das tut. Er sollte den Blutentzug beendet haben, bevor das Tier wieder zu Bewusstsein kommt. Tiere, die jetzt ihr Bewusstsein wiedererlangen, werden dieses durch den Blutverlust rasch wieder verlieren.
Das Tier bewegt sich nun zur nächsten Position der Fertigung, wo es für vier Sekunden in einen Trog mit siedendem Wasser getaucht wird. Das ist lang genug, um den Balg zu lösen, ohne das wertvolle Gewebe darunter zu kochen oder sonst wie zu schädigen. Es geschieht ausgesprochen selten, dass ein Tier an dieser Stelle der Schlachtstraße wieder zu Bewusstsein kommt oder noch bei Bewusstsein ist. Das abgebrühte Tier wird nun zum Enthaupten befördert ― ein weiterer automatisierter Prozess ― und wird daraufhin von den Häutern und Ausdärmern gehäutet und ausgeweidet. Haut und Organe werden zur Sortierung in Stapel einheitlicher Produkte und Abfall auf ein Laufband geworfen. Die nicht verwertbaren Eingeweide werden zur Weiterverarbeitung an die Gasanlage geliefert. Die Haut wird zum Gerben eingelagert.
Zu guter Letzt wird der Körper des Tieres zum Portionieren, Abhängen und Entbeinen verfrachtet.
Die Viehtreiber beobachteten WEISS-047 über zwei Zwölfstunden-Schichten in unregelmäßigen Abständen, allerdings ohne zu intervenieren. Sie war eine Vierzehnjährige, die siebenunddreißig Wochen früher gemeinsam mit Hunderten anderer Kühe gepaart worden war. Ihr Kalb würde BLAU-792-Zuchtbestand werden, und nur deshalb leisteten sie während der Wehen derart lange keine Hilfestellung.
Assistierte Geburten gingen für die Kuh oder das Kalb nur selten gut aus. Zuchtbestand aus der Linie BLAU-792s ge hörte zum Besten, den es gab. Ihn zu beschädigen oder zu töten wäre eine kostspielige Verschwendung der Blutlinie.
Die erste Schicht beobachtete, wie sich ihr Gesicht unter augenscheinlich höllischen Qualen verkrampfte, wie es sich unter den Schmerzen der unregelmäßigen Kontraktionen verzerrte. Nach den ersten Stunden humpelte WEISS-047 zusammengekrümmt von einer Ecke des Kalbungspferchs in die nächste. Sie trat in die Strohhaufen, bis der Lehmboden des Stalls blank lag. Sie schüttelte ihren Körper, warf ihren Kopf hin und her, presste ihre Hände flach gegen die Verschalung und keuchte.
Richard Shanti stattete den Kalbungspferchen von Zeit zu Zeit einen Besuch ab. Obwohl er sich bemühte, vermochte er sich der Faszination nicht zu entziehen, die die Ankunft einer neuen Generation Auserwählter auf ihn ausübte. Besonders dann, wenn es sich um die Blutlinie von BLAU-792 handelte. Denn nur bei dieser Gelegenheit gelang es ihm, sich von jenem Teil seines Ichs freizumachen, der erbarmungslos einen nicht enden wollenden Stapel Todestickets verteilte. Da war diese Fantasie, die ihn nicht losließ, gegen die er machtlos war. Vielleicht, so versuchte er sich zu beruhigen, ist sie ja eine ganz natürliche Reaktion auf all dieses Blutvergießen. In dieser Fantasie wurden die Kälber nicht von ihren Müttern getrennt, um »bearbeitet« zu werden. Ihre Finger wurden nicht bis auf die Knöchel beschnitten, ihre Daumen wurden nicht entfernt, ihre Zungen blieben ganz und ihre Stimmbänder intakt. Die Männchen wurden nicht kastriert. Keines von ihnen lahmte, weil man ihm den großen Zeh entfernt hatte. Sie waren nicht markiert. Sie zeugten Kinder, kein Vieh, und sie starben nicht durch Richard Shantis geschickte, mitfühlende Hand.
Es war eine gefährliche Fantasie. Die Art von Gedanken spiel, die ihn seinen Job und noch viel mehr kosten konnte. Während die gelangweilten Viehtreiber gegen die Wand gelehnt tratschten und rauchten, zog es Shantis Aufmerksamkeit immer wieder auf den Augenblick der Geburt. Maya hatte es nicht bis ins Krankenhaus geschafft, als die Wehen begannen. Wenn sie es hätte, wäre es ihm nicht erlaubt gewesen, bei der Niederkunft anwesend zu sein. Die Fürsorge sah es nicht gerne, dass Männer, insbesondere MFP-Angestellte, dabei waren, wenn ihre Frauen gebaren. Sie wussten, wie sehr eine Geburt dem Kalben ähnelte. Aber Mayas Geburtswehen setzten an einem Sonntag ein, als er zu Hause war. Also hatte die Fürsorge eingewilligt, sie abzuholen. Als sie ankamen, hatte Richard die Zwillinge bereits auf die Welt geholt, die Nabelschnüre durchtrennt, die Mädchen in Handtücher gewickelt und sie ihrer Mutter zum Stillen übergeben. Die Hebamme, die eine halbe Stunde später erschien, musterte ihn gleichermaßen beeindruckt und verachtend. Wie konnte ein
Mann
das getan haben? Für sie gab es weiter nichts mehr zu erledigen, als die Kinder zu wiegen, den exakten Zeitpunkt ihrer Geburt zu erfragen und die rituellen Gebete durchzuführen. Irgendwo, so vermutete er, wurde vermerkt, dass der Vater während der gesamten Niederkunft anwesend war. Sein Verhalten würde beobachtet werden.
Aber Richard Shanti war bereits eine MFP-Legende. Er war der Eispickel, der effizienteste und kaltblütigste Schlächter, den es dort jemals gegeben hatte. Nichts konnte seinen guten Ruf in Zweifel ziehen, nicht einmal die Aussage einer Hebamme von der Fürsorge. Da er dies wusste, fühlte er sich von der Empörung der Hebamme nicht weiter bedroht.
Während er die Kalbungspferche entlangschritt, an jedem Einzelnen für einen kurzen Augenblick verweilend, wurde ihm klar, dass er hier in diesem Stall der einzige Mann war, der die Parallelen zwischen der Niederkunft von Menschen und Rindern kannte. Ob dieses Wissen die Viehtreiber zumindest ein bisschen beunruhigt hätte? Er bezweifelte es. Jeder MFP-Arbeiter in der Stadt war viel zu sehr an systematische Grausamkeiten gewöhnt, um dem auch nur einen Moment Aufmerksamkeit zu widmen. Sieh sie dir doch an, dachte er, nicht einmal das Seufzen neu in unsere Welt eintretenden Lebens vermag sie noch zu berühren. Sie ahnten nichts von den Möglichkeiten der Neugeborenen und waren gänzlich unempfänglich für den Schmerz des gebärenden Viehs. Die Viehtreiber ließ es völlig kalt, was die Zukunft bringen würde, sowohl die der Neugeborenen und erst recht die der kalbenden Kühe. Nach ihrer Zeit im Milchhof, wenn ihr Milchertrag akzeptable Quoten zu unterschreiten begann, würden sie geschlachtet. Ihr Fleisch, das von geringerem Standard war, würde in Würsten und Pasteten landen. Das wäre das Ende ihrer Geschichte.
Er erreichte den Pferch von WEISS-047 und erkannte sie sofort wieder. Diese Kuh war mit BLAU-792 gepaart worden. An die Begegnung der beiden konnte er sich noch genau erinnern.
In den Paarungspferchen war es an jenem Morgen frostig gewesen. Ein weiterer ungewöhnlich kalter Tag zu Beginn des kurzlebigen Abyrner Sommers. Die ohnehin schwache Heizung war bereits abgestellt worden, und viele der Auserwählten schlotterten in ihren Boxen. BLAU-792 wurde bereits seit drei Tagen mit der neuesten Herde geschlechtsreifer Kühe gepaart. Er wurde von einer Horde Treibern von einer Box in die nächste gepfercht, die genauestens überwachte, dass er auch jede einzelne Kuh befruchtete.
Dies war ein weiterer Vorgang, den Shanti von Zeit zu Zeit verfolgte, wenn seine Woche am Schlachtschussgerät vorüber war und er Freizeit hatte, um sich zwischen den verschiedenen Gebäuden der Fabrikanlage zu bewegen. BLAU-792 war sein absoluter Favorit, und zwar unter allen Bullen, die er jemals gesehen hatte. Eine mächtige, noble Kreatur, die ihrer Aufgabe mit außerordentlicher Tatkraft nachging. Shanti sah nach dem Bullen, wann immer er die Möglichkeit dazu hatte. Während der jährlichen Paarungssaison wurde BLAU-792 bis an die Grenzen seines Stehvermögens gefordert. Nach Betreten jedes neuen Paarungsverschlags schnupperte der Bulle in der Luft. Im hinteren Bereich der engen Zelle wartete eine junge Kuh im Alter zwischen zwölf und sechzehn Jahren auf ihre erste Paarung. Shanti dachte immer schon, dass die Kühe, die mit BLAU-792 gepaart wurden, die Glücklicheren waren. Der Bulle wusste genau, was er tat, und nahm sich jedes Mal die Zeit, die launischen Kühe zu beruhigen und zur Erledigung ihrer Pflicht zu bewegen. Er war der effizienteste Bulle in der MFP-Geschichte; größer, stärker, potenter und kompetenter als jeder andere.