Sebastian (17 page)

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Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

BOOK: Sebastian
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Und das erinnerte sie an den seltsamen Traum, den sie letzte Nacht im Halbschlaf gehabt hatte. Sie hatte sich nach den Dingen gesehnt, die ihr nie begegnet waren … und die Stimme eines Mannes hatte versprochen, sie zu lieben, hatte gesagt …
Komm zu mir.
Selbst wenn es ihn wirklich gab, wie sollte sie ihn jemals finden?
Keine Zeit zum Nachdenken. Keine Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Wenn sie jetzt nicht ginge, würde sie zwischen der Wasserfläche und dem rostfarbenen Sand gefangen sein.
Reise leichten Herzens.
Komm zu mir.
Ich möchte in Sicherheit sein! Ich möchte geliebt werden! Ich möchte in Sicherheit sein! Ich möchte geliebt werden!
Sie hob ihren Rock an und rannte über den schmalen Streifen Straße und über die Brücke und wiederholte wieder und wieder ihre Herzenswünsche. Als sie die andere Seite der Brücke erreichte, sah sie sich um und versuchte, einen Eindruck von dem Ort zu gewinnen, an dem sie angekommen war. Aber egal, wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nichts erkennen.
Weil auf dieser Seite der Brücke die Sonne bereits untergegangen war.
Zerschlagen und schlecht gelaunt versuchte Sebastian, sich aus dem verworrenen Bettlaken und seinen ebenso verworrenen Träumen zu befreien. Er saß auf der Bettkante und strich sich mit einer Hand über den Arm. Er fühlte sich aufgedunsen, hungrig … fremd. Als ob irgendetwas versuchte, sich in seinem Körper auszubreiten.
Vielleicht war er
wirklich
krank. Seit er aus der Stadt der Zauberer entkommen war, hatte er das Gefühl, er sei nicht ganz er selbst.
Schwankend ging er ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und ging seiner Morgentoilette nach, während sich die Wanne langsam füllte. Das Wasser war unangenehm lauwarm - und erinnerte ihn daran, dass er sich nicht um den kleinen Heizofen gekümmert hatte, der das Wasser im Tank erhitzte und versteckt in einer Ecke des Badezimmers stand.
Leise fluchend stellte er das Wasser ab, stieg in die Wanne und nahm ein kurzes Bad, um den säuerlichen Geruch loszuwerden, den der Traum auf seiner Haut zurückgelassen hatte. Leider konnten Wasser und Seife seine Laune nicht abwaschen oder das bleibende Gefühl fortspülen, dass etwas ihn von innen her auffraß.
Nachdem er sich abgetrocknet hatte, ging er zurück ins Schlafzimmer und zog sich ein moosgrünes Hemd und eine schwarze Jeans an. Der schwere Stoff war, obwohl in anderen Landschaften recht verbreitet, im Pfuhl Schwarzmarktware. Sein Cousin Lee hatte ihm zwei Ballen davon mitgebracht, die er bei Mr Finch dagegen eingetauscht hatte, dass dieser ihm eine Hose und ein Jacke schneiderte - und ihm im Laden genügend Kredit für alle Kleidungsstücke, die er im nächsten Jahr benötigen könnte, einräumte.
Er trat aus dem Badezimmer und starrte Teaser an, der neben der Couch stand. Dann wallte Ekel in ihm auf, als er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ. Dies war
kein Ort, um jemanden zu verführen. Dies war kein Ort, der einem Inkubus angemessen war. Dieser Ort war so gemütlich und so
menschlich
, dass er hätte kotzen können.
»Du kommst genau richtig«, sagte Teaser. »Wenn ich noch länger hätte warten müssen, wäre ich’rausgegegangen und hätte im Freien gepinkelt.«
Was hätte es denn für einen Unterschied gemacht?
, dachte Sebastian auf dem Weg in die Küche, während Teaser im Badezimmer verschwand. Einige der Gassen im Tavernenviertel stanken wie Pissoirs. Was war der Unterschied zwischen einem Baum und einer Mauer? Zeigte das nicht nur, dass Menschen nichts weiter waren als Tiere? Nichts weiter als … Beute?
Solche Gedanken machten ihn nervös, also konzentrierte er sich darauf, die Kaffeebohnen abzumessen und zu mahlen. Er schaffte es noch, den Kaffee aufzusetzen, aber als Teaser in die Küche kam, hatte er beide Hände gegen die Anrichte gepresst und zitterte so heftig, dass er dachte, seine Haut würde aufplatzen - und aus der verlassenen Hülle etwas Abscheuliches kriechen.
»Kaffee!« Teaser rieb sich die Hände und grinste.
»Ich will jagen«, knurrte Sebastian und beobachtete, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten.
Teasers Grinsen erlosch. »Was?«
»Ich will jagen!« Sebastian wandte den Kopf und starrte Teaser herausfordernd an. »Das ist es doch, was wir tun, oder? Eine Frau finden, die reif dafür ist, von uns gepflückt zu werden, und sie ficken, bis sie süchtig ist nach unserer Art von Sex ist. Nur um dann mit dieser Sucht so lange irgendwelche Geschenke oder Gefälligkeiten aus ihr herauszupressen, bis nichts mehr zu holen oder sie zu langweilig geworden ist, um sie noch länger zu ertragen. Das ist es doch, was wir tun, oder?«
»Die meisten der Sukkutitten tun das, ja. Und einige der Inkuben. Aber du nicht. Du hast das nie getan.«
»Dann ist es an der Zeit, dass ich mal damit anfange.« Sebastian packte zwei Tassen und stellte sie auf die Anrichte neben dem Herd.
»Sebastian?« Blass und angespannt blickte Teaser ihn an. »Was ist passiert, als du in die Stadt der Zauberer gegangen bist?«
»Nichts. Das hab ich dir doch erzählt, als wir hier angekommen sind. Die Rechtsbringer werden uns nicht helfen.«
»Ja, das hast du gesagt, aber -«
»Was macht es denn für einen Unterschied?«, schrie Sebastian. Er fühlte Wut, Nervosität, und er wusste nicht, warum. Er fühlte sich, als würde ein Teil seiner Seele von einer bösartigen Dunkelheit in Stücke gerissen, die sich in ihm ausbreiten wollte, bis nichts anderes mehr in ihm Platz hatte. Aber dieser Teil seiner Seele kämpfte ums Überleben. Wollte überleben, koste es, was es wolle. Er wusste nur nicht, wie er ihm helfen sollte - oder ob er ihm überhaupt helfen wollte. »Ich bin ein Inkubus, genau wie du!«
Teaser sah aus wie jemand, der gerade mit angesehen hatte, wie etwas, das er sehr schätzte, auf den Boden geworfen und mit Füßen getreten wurde. Er lächelte, aber es war ein kränkliches, schmerzerfülltes Lächeln. »Sicher. Du bist genau wie ich.«
 
Selbst nach ein paar Stunden Schlaf fühlte sie sich müde bis auf die Knochen, aber Glorianna lächelte, als Nadia einen Teller mit süßen Brötchen auf den Tisch stellte und zwei Becher mit Kaffee füllte.
»Zimtbrötchen mit Zuckerguss«, sagte sie, als sie eines auf den kleinen Teller vor ihr legte. »Und dieses Mal muss ich mich nicht mit Lee um meinen Anteil streiten.«
»Wir müssen uns unterhalten.« Nadia stellte die Kaffeekanne auf eine geflochtene Unterlage und setzte sich an den Tisch.
Nicht auf ihren üblichen Platz, stellte Glorianna fest, sondern mit Blick auf die Fenster und die Hintertür - als müsste sie ein Auge darauf haben, ob jemand versuchte, sich ihrem Haus zu nähern.
»Das hast du gestern Abend bereits gesagt.« Aus diesem Grund war sie bei ihrer Mutter geblieben, nachdem sie ihr erzählt hatte, dass die Mauer im verbotenen Garten durchbrochen worden war.
Das leise Geschnatter aus dem Raum, der durch einen Vorhang von der Küche getrennt war, wurde lauter. Ein kleiner blau-weißer Vogel flog zur Tür, schlug seine Krallen in den Vorhang und schimpfte sie aus.
»Jetzt nicht, Sparky«, sagte Nadia streng.
Das Gezeter verwandelte sich in Zwitschern und schmeichelndes Pfeifen.
Glorianna lächelte. Nadia nicht.
Das beunruhigte sie.
»Es gibt ein paar Dinge, die ich dir erklären muss, solange ich noch kann«, sagte Nadia leise.
Glorianna zuckte zusammen. »Solange du noch kannst? Was soll das heißen?«
»Das heißt, dass ich nicht riskieren kann, dass Dinge, die in Erinnerung bleiben müssen, in Vergessenheit geraten, sollte mir etwas passieren.« Nadia schloss die Augen. »Meine Mutter starb, als ich noch sehr jung war. Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen.« Sie hielt inne. Öffnete die Augen und starrte aus der mit einem Fliegengitter versehenen Hintertür hinaus. »Meiner Großtante, eigentlich. Meine richtige Großmutter war wie du, Glorianna. Und genau wie bei dir entschieden die Zauberer, sie sei eine Gefahr für Ephemera. Sie schlossen sie in ihrem Garten in der Schule ein und zogen mit ihrer Magie Grenzen um die Landschaften, zu denen sie Zugang hatte. Es war fast so, als hätte man sie lebendig begraben. Sie wussten nicht, dass sie ein Kind in sich trug, als sie das Urteil sprachen, dass die Macht,
die ihr innewohnte, mit ihrem Tod kein Ende finden würde. Sie haben niemals herausgefunden, dass sie und ihre ältere Schwester, eine Erschafferin der Fünften Stufe, einen Ort entdeckt hatten, der in ihrer beider Landschaften existierte - ein Ort im Wald, an dem ein großer, gespaltener Stein stand. Den Ort der Träume nannten sie ihn. Keiner von beiden war in der Lage, die Grenze zu überschreiten, die sie trennte, so dass sie sich nie sehen oder miteinander sprechen konnten, aber im Spalt des Steines konnten sie einander Nachrichten oder einen Korb hinterlassen, den die andere später finden würde.
Eines Tages, als meine Großtante mit einem Korb voller Essen kam, stand an ihrem Treffpunkt bereits ein Korb. In diesem Korb lag meine Mutter. Und ein Zettel, auf dem stand, ›Liebe sie. Lehre sie. Und kehre nicht zurück.‹
Meine Großtante fand nie wieder eine Nachricht von ihrer Schwester. Also hat sie die Tochter ihrer Schwester als ihr eigenes Kind großgezogen, und dann hat sie mich aufgenommen. Und wie vor ihr ihre Mutter, erzählte sie ihrer Tochter - und später dann mir - von den Familiengeheimnissen, die besagen, was wir sind - und woher wir kamen.«
Nadia nahm einen großen Schluck kalten Kaffee. »Und jetzt muss ich dir von ihnen erzählen.«
»Du hast mir die Familiengeheimnisse bereits verraten«, sagte Glorianna und bedeckte die Hände ihrer Mutter mit ihren eigenen.
»Nicht dieses eine. Dieses eine ist der Grund für alle anderen Geheimnisse, welche die Frauen in unserer Familie - und die Frauen in anderen Familien wie der unseren - seit Generationen in ihren Herzen verborgen halten.« Nadias Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe die Geheimnisse und den Samen getragen, der im Blut unserer Familie fließt, aber diese Last wurde
mir erspart. Du bist diejenige, die die Last tragen muss.«
»Was für eine Last? Ich verstehe dich nicht.«
Nadia drehte ihre Hände so, dass sie die ihrer Tochter umfassen konnte. »Was du bist, Glorianna, ist der Grund für alle Familiengeheimnisse.«
 
Es wird nicht leicht sein, uns ausfindig zu machen, auf diesem Bruchstück der Welt. So haben wir Zeit, zu verstecken, was versteckt werden muss, während wir abwarten, wer in der letzten Schlacht um Ephemera besteht - unsere Feinde … oder der Weltenfresser. So oder so können wir auf der Erde nicht länger auf die Art und Weise umherwandern, wie wir es einst taten. Also müssen wir lernen, wie wir unser wahres Wesen hinter menschlicher Maske verbergen. Und wenn die Zeit kommt und unsere Feinde siegreich waren, werden wir sie aufsuchen und sie als Verbündete aufnehmen - und niemals werden sie bemerken, dass wir stets danach streben, sie zu zerstören.
Durch unsere Flucht an diesen Ort haben wir unser Überleben gesichert. Zu der Zeit, in der die Bruchstücke der Welt wieder zusammengefügt werden, wird unsere Stellung gefestigt sein. Wenn es soweit ist, wird niemand hinterfragen, was wir vorgeben zu sein, denn unsere Macht wird gebraucht werden, um Ephemera rein zu halten von den dunkelsten Wünschen der menschlichen Herzen. Für die Welt der Menschen werden wir von unschätzbarem Wert sein - und wir werden unsere neue Stellung nutzen, um langsam, vorsichtig, die Stärksten unserer Feinde zu vernichten und so ihre Macht Generation um Generation zu schwächen, bis sie nichts weiter sind, als nützliche Werkzeuge.
Aber eine Angst gibt es, die auszusprechen wir nicht wagen, damit ihre Resonanz nicht durch die Strömungen der Welt hallt.
Sollte der Weltenfresser uns jemals finden, wird Er erkennen, dass wir Ihn im Stich gelassen haben, als Er unsere Führung am dringendsten brauchte, dass wir Ihn zurückließen, auf dass Er seinen Feinden alleine entgegentrete.
 
- Das Dunkle Buch der Geheimnisse
Kapitel Sieben
Koltak stützte beide Hände auf die hüfthohe Steinmauer, die die Spitze des Turms der Zauberer umgab, und blickte auf das offene Land östlich der Stadt hinab. Die Sonne war bereits hoch genug gestiegen, um die Schatten der Nacht zu vertreiben. Schon jetzt ergab sich der Schatten, der ihn mit Abscheu und Erregung erfüllt hatte, dem hellen Licht des Sommers und verblasste.
Verdammt sei dieser idiotische Lehrling, den er geschickt hatte, um Harland zu holen. Der Junge hatte nicht genügend Rückgrat, um zu dieser Unzeit an Harlands Tür zu klopfen. Gleich wäre der Moment vorbei, und dann würde er dastehen wie ein Narr, der Alarm geschlagen hatte wegen eines Schattens, den die natürlichen Konturen der Landschaft geworfen hatten. Er konnte es sich nicht leisten, wie ein Narr dazustehen, aber sollte tatsächlich
er
derjenige sein, der entdeckte, wonach Generationen von Zauberern Ausschau gehalten hatten, würde dies mit Sicherheit einen Großteil seiner Jugendsünden wiedergutmachen. So hoffte er zumindest.
»Ich vertraue darauf, dass Ihr einen guten Grund habt, zu dieser Stunde nach mir zu schicken und meine Meditation zu unterbrechen.«
Koltak schrak auf, als er Harlands Stimme hörte, nahm aber den Blick nicht von der Landschaft. Seine Hand zitterte, als er sie hob und nach unten deutete.

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