Sebastian (4 page)

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Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

BOOK: Sebastian
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Aber Glorianna hatte etwas getan, was keine andere Landschafferin gekonnt hätte. Irgendwie hatte sie Ephemera
verändert,
indem sie Teile der Welt neu ordnete, um eine vollkommen neue Landschaft zu erschaffen, einen Ort, der den Namen
Sündenpfuhl
trug. Die Lehrer, die die Bemühungen ihrer Schülerinnen bewerteten, waren entsetzt, als sie in ihre Landschaft hinübertraten und den Pfuhl zum ersten Mal sahen - und ihr Entsetzen steigerte sich noch, als sie die »Bewohner« dieser Landschaft entdeckten.
Als sie in den von Mauern umgebenen Garten, der Glorianna als Übungsplatz diente, zurückkehrten und eine Erklärung forderten, hatte das Mädchen sie angelächelt und ihnen erklärt, sogar Dämonen bräuchten ein Zuhause.
Niemand hatte Glorianna gefragt, warum sie einen solchen Ort für Dämonen erschaffen wollte, der mit Sicherheit auch die dunkleren Seiten menschlicher Herzen anziehen würde. Niemand setzte sich mit ihrer Familie in Verbindung, um Nachforschungen anzustellen - zumindest nicht zu einer Zeit, in der es eine Rolle gespielt hätte.
Statt die Fragen zu stellen, die man hätte stellen müssen, schenkte die Schulleiterin Glorianna ein falsches Lächeln und erzählte dem Mädchen, sie dürfe sich einer Prüfung für Fortgeschrittene unterziehen. Vierzehn Tage lang sollte sie in ihrem Garten ausharren und ihre Grundlandschaften verankern - also die Landschaften, die ihre Resonanz trugen und ihre persönliche Welt formten.
Sie erhielt einen Korb mit Nahrungsmitteln, ihre Kleidung und ihre Bücher, Wasser und ein paar Decken.
Sie stand auf der anderen Seite des Tores und lächelte, als die Schulleiterin es mit einem starken Vorhängeschloss versperrte, um zu verhindern, dass jemand den Garten betrat.
Und sie hatte Lukene freudig gewunken, als die Lehrer sich entfernten.
Am letzten Morgen stahl Lukene den Schlüssel zu dem Vorhängeschloss und betrat Gloriannas Garten. Was das Mädchen in nur vierzehn Tagen geschaffen hatte, raubte ihr den Atem und weckte ihre Ehrfurcht - und ihr Entsetzen. Der Sündenpfuhl war kein bloßer Glückstreffer gewesen. Dieses Mädchen hatte wirklich die Macht, die Welt zu verändern und sie bedurfte einer sehr vorsichtigen Förderung.
Sie war zurück zur Schulleiterin gerannt, so verzweifelt bemüht, Verständnis zu wecken, dass sie kaum ein klares Wort herausbrachte. Aber die Schulleiterin befahl ihr barsch zu schweigen, und teilte ihr mit, die Entscheidung sei bereits gefallen und die Zauberer angereist, um das Tor zu versiegeln. Glorianna und ihre unnatürliche Macht würden eingeschlossen werden, um die Sicherheit der Landschaften zu wahren.
Als sie wieder beim Garten ankam, hatten die Zauberer den Ort bereits wieder verlassen, das Siegel befand sich an Ort und Stelle, und niemand würde dieses Stück Erde jemals wieder betreten - oder es verlassen. Alles,
was Glorianna jemals von der Welt sehen würde, war, was sie in diesem Garten aus Ephemera entstehen lassen konnte.
Aber als sie einen Monat später mit ein paar Schülern durch die Gärten ging, bemerkte sie ein schwarzhaariges Mädchen, das vor dem versiegelten Tor stand.
»Was tust du da?«, fragte Lukene. »Du weißt doch, dass kein Schüler …« Ihre Stimme erstarb, als sich das Mädchen umdrehte und sie ansah.
»Das ist also der Grund, aus dem niemand gekommen ist, um meine Arbeit anzusehen«, sagte Glorianna.
»Vielleicht«, antwortete Lukene vorsichtig - sie bemerkte, dass ihre Schüler langsam unruhig wurden, »jetzt, da du den Weg zurück gefunden hast.«
Glorianna schüttelte den Kopf. »Nein. Es gibt nichts, was ich noch von euch wollen könnte. Ihr habt beschlossen, mich einzuschließen. Jetzt schließe ich euch aus.«
»Ich wollte dich nicht einschließen!«
Das Mädchen lächelte traurig. »Nein, das wolltest du nicht. Auf Wiedersehen, Lukene. Reise leichten Herzens.«
Als Glorianna sich abwandte, um zu gehen, fragte eine der Schülerinnen: »Wer bist du?«
Sie hielt inne, sah sich um und sagte: »Ich bin Belladonna.« Dann ging sie fort - und war seitdem in der Schule nie wieder gesehen worden.
Lukene wischte sich die Tränen von den Wangen und begann zu laufen. Sie achtete nicht darauf, wohin sie ging, sie lief nur um der Bewegung willen.
Es gab nichts, was sie hätte tun können, damals nicht, und heute auch nicht. Aber der Fehler, den sie alle vor fünfzehn Jahren begangen hatten, lag ihr noch heute so schwer auf der Seele, dass sie manchmal meinte, daran ersticken zu müssen.
Es gab sieben Stufen der Erschaffung, sieben Stufen, um die Macht zu nutzen, welche die Menschen und die Welt davor schützte, dass die Wünsche eines jeden Herzens
Wirklichkeit wurden. Und dann gab es noch Glorianna Belladonna. Wenn sie nur …
Plötzlich von einem Gefühl der Angst ergriffen, blieb Lukene stehen und blickte sich um.
Was hatte sie dazu bewegt,
diesen
Pfad einzuschlagen? Warum hatte sie bloß das Gefühl, alles sei aus dem Gleichgewicht geraten? Es fühlte sich an, als ob die dunkle Resonanz, die sonst von der Anwesenheit so vieler Landschafferinnen überlagert wurde, aus dem verbotenen Garten herausströmte, im Boden versickerte und sich dann ausbreitete, um den Rest der Schule zu verseuchen. Und sie war stark. Sehr stark.
Aber das war unmöglich. Undenkbar. Sie war nur empfindsamer gegenüber der Anwesenheit, die im Hintergrund des Schulalltags immer zu spüren war. Wahrscheinlich war das Gefühl nichts weiter, als eine Reaktion auf ihren Streit mit Nigelle und ihre Gedanken an Glorianna.
Aber sie eilte dennoch den kaum benutzten Pfad entlang, und als sie den Torbogen erreichte und sah, dass das schmiedeeiserne Tor offen stand, erstarrte sie für einen Moment.
Dann fuhr sie herum, um zu den Schulgebäuden zurück zu laufen und alle zu warnen, weil das Undenkbare geschehen war.
Ist das Undenkbare denn geschehen?
Ein Gedanke gleich einem Flüstern. Leise, beruhigend, schmeichelnd.
Lukene zögerte und drehte sich um, um durch den Torbogen zu blicken.
Wenn sie jetzt zurücklief, was sollte sie der Schulleiterin erzählen? Sollte sie wirklich sagen, dass jemand das alte Tor geöffnet hatte? Das würde sowohl in der Lehrerschaft der Landschafferinnen als auch unter den Brückenbauern einen Aufruhr verursachen, aber das würde schließlich niemandem weiterhelfen. Und sie
wusste
noch nicht einmal, ob jemand das Tor geöffnet hatte.
Du willst doch nicht noch einen Fehler machen,
flüsterte ihr die Stimme zu. Lukene schüttelte den Kopf. Nein, sie wollte keine Fehler mehr machen.
Sie trat durch den Torbogen - und der Gestank nach fauligem Fleisch raubte ihr beinahe den Atem.
Keine Fehler mehr,
flüsterte die Stimme.
Deine Fehler belasten dich. Sie ersticken dich.
Pilze zerplatzten, als Lukene in ihrer Hast, das Tor zu erreichen, über sie hinweg schritt.
Nur ganz schnell nachschauen, um sicherzugehen, dass sich nichts verändert hat
, dachte sie, als sie sich durch die Toröffnung quetschte. Dann würde sie der Schulleiterin Bericht erstatten, die wiederum ein paar Arbeiter dazu abstellen könnte, um das Tor auszubessern. Kein Grund zur Sorge. Nichts zu befürchten.
Der Anblick des winzigen Lochs in der alten Steinmauer ließ ihr Herz schneller schlagen.
»Nein«, flüsterte sie. »Oh nein.«
Rennend legte sie die kurze Strecke zum Torbogen zurück. Doch eine Bewegung auf der Mauer lenkte sie ab, ließ sie aufblicken, brachte sie zum Stolpern und …
…sie rannte durch eine endlose, rostfarbene Sandwüste, der Himmel über ihr hatte die ungesunde Farbe eines Blutergusses. Ihr Herz schlug heftig, sie rannte so schnell sie konnte, aber die Kreaturen hinter ihr kamen immer näher, näher.
Wächter und Wahrer, wie war sie hierher gekommen? Gerade war sie noch auf den Torbogen zugelaufen. Dann hatte sie diese Bewegung gesehen, war gestolpert und …
Sie rannte und rang nach Luft, die sich zu heiß anfühlte, um sie überhaupt zu atmen. Ihre Füße trafen auf endlosen Sand.
Reise leichten Herzens.
Alles was sie brauchte, war ein bisschen Zeit, um ihre Gedanken zu beruhigen, ihr
Gleichgewicht zu finden und die Resonanz des Zugangspunkts einer ihrer Landschaften aufzunehmen. Das würde sie zurück in ihren Garten in der Schule bringen. Dann wäre sie in Sicherheit. Dann könnte sie die anderen warnen, und -
Mit einem Mal rutschte sie auf etwas aus, was unter dem Sand verborgen lag und kam aus dem Tritt. Sie warf die Arme in die Höhe, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, aber für diese kurze Verzögerung musste sie bezahlen. Sie fühlte, wie etwas ihre linke Wade zerfetzte, spürte, wie das Blut ihr Bein hinunterlief, als die Angst ihren Schritten noch einmal Flügel verlieh.
Die Muskeln in ihrem linken Bein verkrampften sich. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Hände und das gesunde Knie. Nur einen Herzschlag später war sie wieder auf den Beinen, aber sie war nicht schnell genug. Die nächste Kreatur erreichte sie, schlitzte die Rückseite ihrer rechten Wade auf.
Sie rannte weiter. Rannte und rannte, versuchte die Wunden zu ignorieren, das Blut, die Muskeln, die sich immer mehr verkrampften und den hektischen Befehlen ihrer Gedanken nicht länger gehorchen wollten.
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie etwas Weißes, und sie drehte sich den Hügeln zu, ohne sich zu fragen, aus was sie bestanden oder warum sie sie nicht vorher schon gesehen hatte. Wenn sie sich auf einen von ihnen retten konnte, hätte sie vielleicht eine Chance, sich die Kreaturen lange genug vom Hals zu halten, um in ihren Garten in der Schule zurückkehren zu können.
Sie kämpfte um jeden Schritt, aber als sie den Erhebungen näher kam, sah sie, wie sich aus den Hügeln eine Flut von chitinartigen, segmentierten Körpern ergoss. Sie versuchte, noch einmal die Richtung zu ändern, aber die Muskeln ihres linken Beines gehorchten ihr nicht mehr. Sie stolperte und konnte sich gerade noch auf den Beinen halten. Sie schrie vor Angst und Verzweiflung auf, drehte
sich um und ergriff die Kreatur, die ihr am nächsten war und hob sie mit beiden Händen hoch.
Eine Sekunde lang betrachtete sie den Kopf, die Kiefer, die Beine. Ihre Gedanken formten ein Wort: Ameise. Aber dieses Ding war so lang wie ihr Arm vom Ellbogen bis zu den Fingerspitzen. Mit einem Schrei schleuderte sie es auf die anderen, die ihr nachsetzten.
Sie versuchte, davonzulaufen, aber ihre Beine versagten ihr den Dienst. Der Länge nach fiel sie in den Sand.
Und schon waren sie über ihr, die Kreaturen, die sie gejagt hatten. Sie schrie, als ihre Kiefer Stücke aus ihrem Fleisch rissen, als ihr Blut den Sand durchnässte. Sie bäumte sich auf, versuchte die Kreaturen abzuschütteln, aber es waren bereits so viele, dass ihre Bemühungen nicht mehr hervorriefen, als ein leichtes Zucken unter dem Berg von glänzenden, schwarzen Körpern.
Dann erstarben ihre Bewegungen und ihre Schreie verstummten.
Als sie sich schließlich zurückzogen, die Arbeiter zu ihren Hügeln, die Späher zurück in die endlosen Weiten der Landschaft, war alles, was noch übrig war, ein dunkler, nasser Fleck im Sand, Stofffetzen und saubere Knochen.
Kapitel Drei
Gegenwart
Den Pfennig fest umklammert, näherte Lynnea sich vorsichtig dem Wunschbrunnen. Zu dieser Zeit der Nacht war hier niemand außer ihr. Niemand würde sie hier sehen und es Mutter erzählen, die der Meinung war, Münzen in Wunschbrunnen zu werfen, sei nichts als Geldverschwendung. Und Mutter würde sehr böse werden, wenn sie auch nur ahnte, dass Lynnea sich etwas wünschte, was über das hinausging, was sie in Mutters Augen verdiente - Nahrung, zweckdienliche Kleidung und einen Platz zum Schlafen.
Außerdem würde sie, wenn Mutter herausfände, dass sie zum Wunschbrunnen geschlichen war, erklären müssen, wie sie an die Münze gekommen war. Schließlich durfte sie gar kein Geld besitzen. Und weil Mutter ihre winzige Kammer mehrmals in der Woche durchsuchte, um sicherzugehen, dass sie nicht doch etwas versteckte, was ihr nicht zustand, würde sie den Pfennig nicht lange behalten können.
Also
musste
sie heute Nacht herkommen, musste sich vom Hof stehlen, nachdem Mutter, Vater und Ewan eingeschlafen waren. Man
brauchte
eine Münze, um sich am Brunnen etwas wünschen zu können, und es war nicht abzusehen, wann Mutter den Krug mit dem Geld für die Eier wieder umstoßen würde und ein paar Münzen auf den Küchenboden fielen. Mutters scharfen Augen war der Pfennig gleich neben dem Bein des Küchentischs entgangen. Aber Lynnea hatte ihn gesehen - und sich eingeredet, dass die Sonnenstrahlen, die in
eben diesem Moment durch die Fenster schienen und den Pfennig in ihrem Schatten verbargen, bedeuteten, dass der Pfennig für sie bestimmt war, um ihr diesen einen Wunsch zu ermöglichen.
Lynnea hielt ihre Hand über den Brunnen und flüsterte: »Ich wünsche mir …« Aber in ihr drängten sich so viele Wünsche, dass sie nicht wusste, welchen sie auswählen sollte. Alles was sie hatte, war dieser eine Pfennig. Vielleicht würde ein Pfennig, den man in den Wunschbrunnen fallen ließ, nur für einen kleinen Wunsch reichen. Aber sie wollte keinen kleinen Wunsch. Was sie wirklich wollte …

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