Sebastian runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«
Philo und Teaser wichen seinem Blick aus. Keiner aus der Menge sah ihn an, als er sich umdrehte.
Schließlich fragte Teaser leise: »Werden wir bestraft, Sebastian?«
»Woher soll ich das …« Aber er wusste es. Mit einem Blick auf die nackte Angst in Teasers Augen wusste er es. Er schüttelte den Kopf. »Das würde sie nicht tun. Niemals würde Belladonna so etwas in eine Landschaft bringen.«
Am Rande der Menge gab Mr Finch ein nervöses Zirpen von sich. Philo stand händeringend da. »Wenn wir etwas getan haben, um den Zorn der Landschafferin zu wecken -«
»Sie würde so etwas nicht tun!«, fauchte Sebastian.
Schweigen. Dann sagte Philo: »Aber irgendjemand hat es getan.«
Der Inkubus starrte auf die Tischplatte und trank langsam seinen Whisky, während in seinem Inneren ein Kampf tobte. Der Pfuhl war sein Zuhause. Er hatte die letzten fünfzehn Jahre mit den Bewohnern dieses Ortes
verbracht. Aber alles Gute, das er in seiner Kindheit je erfahren hatte, war von Glorianna, Lee und ihrer Mutter Nadia gekommen. Jede einzelne glückliche Erinnerung an die Jahre, bevor er seinem Vater das letzte Mal entkam, stand in Verbindung zu wenigstens einem dieser drei.
Und in dem Jahr, als die Zauberer, diese selbstgerechten Säulen des Gesetzes und der Gerechtigkeit, versucht hatten, den Pfuhl zu zerstören …
Sechs Jahre nachdem der Pfuhl erschaffen worden war, kamen die Zauberer in Begleitung einer Landschafferin der Siebten Stufe, die sie irgendwie davon überzeugt hatten, sie müsse die Kontrolle des Pfuhls übernehmen und die Landschaft ins »Gleichgewicht« bringen.
Sebastian stand mit Philo, Teaser und Mr Finch auf der einen Seite der Hauptstraße und sah zu, wie die Landschafferin sich zwischen den Zauberern und den Bewohnern aufstellte. Sie hatte die Hände leicht erhoben, den Kopf nach hinten geneigt, die Augen geschlossen. Dann starrte er die Zauberer an, einen ganz besonders, und dieser begegnete der Bitterkeit in seinem Blick schließlich mit unverhohlenem Hass.
Dämonen waren die Schandflecke dieser Welt. Dämonen bedeuteten eine Bedrohung für die Menschheit. Dämonen hatten in Ephemera keinen Platz, und einer solchen Abart einen Zufluchtsort zu schenken … Die Zauberer waren nicht in der Lage gewesen, die Entstehung des Pfuhls zu verhindern, aber sie waren fest entschlossen, seiner Existenz ein Ende zu setzten.
Sie hätten es überall tun können. Sie hätten einen abgelegenen Ort in den Grenzgebieten des Pfuhls wählen können, sie hätten sich nur ein paar Schritte von der Brücke entfernen müssen, über die sie die Landschaft betreten hatten. Für die Landschafferin hätte das keinen Unterschied gemacht. Aber stattdessen stellten sie sich
genau auf der Hauptstraße des Pfuhls auf, um die Menschen und Dämonen zu verhöhnen, die sich dort in dem Wissen versammelt hatten, dass ihr Platz auf der Welt für immer zerstört werden sollte. Die Veränderung hatte bereits begonnen, und nicht einmal der Tod der Landschafferin hätte die Geschehnisse noch aufhalten können.
Als er schließlich den Sog an seinem eigenen Herzen verspürte und wusste, dass die Landschafferin in das Innerste einer jeden Kreatur, die im Pfuhl ein Zuhause gefunden hatte, eindrang, wandte er sich von ihr und den Zauberern ab, und konzentrierte sich ganz auf die farbigen Lichter, die Häuser und auf die paar kleinen Bäume und Nachtblumen, die es hier und da geschafft hatten, ohne den warmen Schein der Sonne im kalten Licht des Mondes zu gedeihen.
Er wollte den Pfuhl so in Erinnerung behalten, wie er in diesem Moment war - denn niemand konnte sagen, was er und die anderen vielleicht noch retten konnten, wenn Zauberer und Landschafferin ihre Aufgabe erst einmal beendet hatten.
Der Sog ließ nach. Niemand sagte ein Wort.
Dann rieb sich die Landschafferin, eine der mächtigsten ihrer Art, über die Arme, als ob ihr plötzlich kalt wäre, und entfernte sich zögerlich einen Schritt von den Zauberern, während sie sich umsah. Während sich alle umsahen.
Nichts hatte sich verändert.
»Diese Landschaft trägt bereits eine Signaturresonanz«, flüsterte die Landschafferin. »Eine sehr starke Resonanz. Ich bin hier … nicht länger willkommen.«
»Dummes Luder«, flüsterte Teaser. »Hat sie wirklich geglaubt, sie sei hier vorher willkommen gewesen?«
Sebastian sah die Frau an, die sich mit jedem Moment, der verstrich, sichtlich weniger wohl fühlte.
»Wer kontrolliert diese Landschaft?«, fragte die Landschafferin.
Die Zauberer gaben ihr keine Antwort, also tat er es. »Der Pfuhl gehört Belladonna.«
Sie fuhr herum, um den Zauberern gegenüberzutreten. »Das habt Ihr mir nicht gesagt.«
»Es war nicht von Bedeutung«, entgegnete einer der Zauberer.
»Seid Ihr von Sinnen?«, schrie sie. »Niemand berührt Belladonnas Landschaften.
Niemand!«
Schluchzend überschlug sich ihre Stimme.
Mitleid rührte sich in Sebastian. Die Landschafferin sah plötzlich aus wie ein verängstigtes Kind, dem schlagartig klar geworden ist, dass es all die bösen Dinge, von denen es fürchtete, sie könnten in der Dunkelheit lauern, wirklich gab.
Nervös sahen sich die Zauberer um. »Da es hier nicht länger etwas für uns zu tun gibt, werden wir jetzt gehen«, sagte einer von ihnen.
»Wo soll ich hingehen?«, schluchzte sie. »Für mich gibt es keinen sicheren Ort mehr.« Voller Verachtung sahen die Zauberer sie an. Dann wandten sie sich von ihr ab - und blickten kein einziges Mal zurück.
Die Landschafferin brach auf der Straße zusammen.
Philo hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Vielleicht.«
»Tageslicht«, murmelte Teaser und blickte die Straße hinauf.
Sebastian folgte seinem Blick, und sein Herz tat einen Sprung. Sie stand unter einer der Straßenlaternen und starrte die Landschafferin an. Er lief auf sie zu, einmal mehr verwundert ob der Tatsache, dass diese schlanke, hübsche Frau mit den grünen Augen, die den seinen so ähnlich waren, und dem langen, seidenschwarzen Haar in der Lage war, die Welt so zu verändern, dass sogar die schrecklichsten Dämonen vor Furcht erstarrten.
»Glorianna«, sagte er sanft, als er vor ihr stand.
»Sebastian.« In ihrer Stimme lag noch immer ein
Hauch des Tonfalls, der ihn so bezaubert hatte, als er sie das erste Mal traf.
»Ich glaube nicht, dass die Landschafferin uns wirklich schaden wollte.« Er sah ihr tief in die Augen und versuchte das glühende Mitgefühl, von dem er wusste, dass es sonst hell in ihr brannte, zu entdecken - und fand nur Eiseskälte. »Lass dein Herz das Urteil über sie fällen.«
»Nicht mein Herz wird über sie urteilen, Sebastian«, antwortete Glorianna. »Sondern ihr eigenes.« Sie ging um ihn herum und näherte sich der Landschafferin.
Er ging ihr nach, nah genug, um ihr deutlich zu machen, dass er bei ihr war, was auch immer sie am Ende tun würde, und doch weit genug entfernt, um sie wissen zu lassen, dass er nicht vorhatte, sich einzumischen.
Ein paar Schritte vor der Landschafferin, die nicht einmal den Versuch unternahm, aufzustehen und ihnen auf gleicher Höhe zu begegnen, blieben sie stehen. In dem Bewusstsein, dass kein Flehen etwas an ihrem Schicksal ändern könnte, sah sie zu ihnen auf.
Niemand sprach. Niemand bewegte auch nur einen Finger, während Glorianna und die Landschafferin einander ansahen.
Schließlich sagte Glorianna: »Kehre zurück zu deinen Landschaften.«
Die Landschafferin erhob sich schwerfällig, entfernte sich taumelnd ein paar Schritte von ihnen und rannte dann in die gleiche Richtung, die auch die Zauberer eingeschlagen hatten.
Sebastian sah Glorianna an. Die Trauer in ihren Augen traf ihn so unerwartet, dass es ihm einen Stich versetzte. Er wusste, dass man sie der Schule verwiesen und sie zur Ausgestoßenen gemacht hatte. Soviel hatte Lee ihm erzählt, aber nicht, warum das geschehen war. Niemals warum.
Er trat zur Seite, nah genug an sie heran, um sie sanft mit dem Ellbogen anzustoßen. »Komm mit. Ich lade dich
zu Philos Spezialität ein - Titten Surprise und Phallische Köstlichkeiten.« Keine Trauer mehr. Nur Entsetzen, das sich schnell in den argwöhnischen Blick verwandelte, mit dem sie ihn und Lee bei ihren zahllosen Versuchen, ihr beizubringen, dass etwas Unmögliches wirklich existierte, schon immer bedacht hatte. Natürlich waren sie damals alle noch zu jung gewesen, um zu verstehen, dass in Ephemera nichts unmöglich war. Schon gar nicht für Glorianna.
»Titten Surprise und Phallische Köstlichkeiten«, sagte sie. »Und was soll das bitte schön sein?« Er schenkte ihr ein zweideutiges Grinsen. »Komm mit und sieh selbst.«
Also gingen sie zu Philo, und als er die Teller brachte, klang ihr Lachen durch den Hof. Und während sie Wein tranken und alles probierten, was Philo vor ihnen auf den Tisch stellte, sah er in ihr die junge Frau mit den strahlenden Augen, die er in Erinnerung hatte, und nicht die Kämpferin, zu dem ihre Außenseiterrolle und ihr einsamer Feldzug sie werden ließen.
Sebastian hob sein Glas, stellte fest, dass es leer war und griff nach der Whiskyflasche.
Niemand traute sich zu, Belladonnas Landschaften zu berühren. Diese Lektion hatten sowohl die Zauberer als auch die Landschafferinnen und Dämonen vor neun Jahren gelernt. Und das bedeutete entweder, dass ein Brückenbauer vor kurzem zwei Landschaften miteinander verbunden und es einem mörderischen Wesen ermöglicht hatte, den Pfuhl zu betreten, oder dass eine andere Landschafferin es
doch
geschafft hatte, der Landschaft etwas hinzuzufügen - oder Philo und Teaser hatten Recht, und Glorianna selbst hatte etwas in den Pfuhl gebracht.
Aber das glaubte er nicht.
Konnte
es nicht glauben. Aber wenn es nicht Glorianna gewesen war …
»Es könnte ein Mensch gewesen sein«, sagte Sebastian.
Philo zuckte zusammen. Teaser sah ihn erschüttert an.
»Es könnte ein Mensch gewesen sein«, wiederholte er. »Krank, oder einfach bösartig, der im Pfuhl auf Jagd geht, weil es eine dunkle Landschaft ist.«
»Beim Tageslicht! Was sollen wir denn jetzt machen?«, fragte Teaser.
Die Worte blieben Sebastian in der Kehle stecken wie scharfkantige Splitter, während Whisky und abgrundtiefe Abscheu seinen Magen aufwühlten.
»Wir müssen die Zauberer informieren.«
»Wächter und Wahrer, Sebastian«, stieß Philo hervor. »Du würdest
diesen
Kreaturen einen Grund geben, hierher zurückzukehren?«
»Was für eine Wahl bleibt uns denn? Hier ist ein Mensch gestorben.«
»Hier sind auch schon früher Menschen gestorben«, murmelte Teaser. »Sie kommen hier herüber, sehen ein hübsches Pferd, das zahm genug wirkt, um sie auf sich reiten zu lassen und ertrinken im See, noch bevor sie verstanden haben, dass sie von einem Wasserpferd in Bann geschlagen wurden. Oder sie folgen den Sumpflichtern anstatt auf dem Pfad zu bleiben, der nach Hause führt und enden als Ehrengast auf einem Fest der Nachtschwärmer. Oder sie denken sich, dass der Bullendämon sicher nicht helle genug ist, um zu bemerken, wenn sie beim Kartenspielen betrügen.«
»Das ist nicht das Gleiche«, entgegnete Sebastian. »Jeder, der sich in die dunklen Landschaften um den Pfuhl herum begibt, riskiert, niemals wieder nach Hause zurückzukehren. Und jeder, der dumm genug ist, einen Bullendämon zu betrügen, bittet geradezu darum, aufgespießt zu werden. Aber das hier ist etwas anderes. Außerdem hast du doch gesagt, diese Frau hätte einen reichen Ehemann, und das könnte bedeuten, dass sie in
ihrer Heimatlandschaft einigen Einfluss besaß. Jemand wird sich auf die Suche nach ihr begeben, wenn sie nicht zurückkommt.«
»Vielleicht«, erwiderte Teaser. »Aber sie hat mir jedes Mal, wenn ich sie sah, einen anderen Namen genannt, und sie hat mir nie erzählt, aus welcher Landschaft sie eigentlich kommt.«
»Und das führt uns wieder dahin zurück, dass wir die Zauberer informieren müssen«, sagte Sebastian, dem plötzlich auffiel, wie müde er war.
Zögerlich sagte Philo: »Vielleicht sollten wir warten und die Landschafferin fragen?«
»Niemand weiß, wie man sie finden kann«, gab Sebastian zur Antwort. Das war nicht ganz richtig. Tante Nadia wusste wahrscheinlich, wie man Glorianna eine Nachricht zukommen lassen konnte, aber er wollte seiner Tante nicht erzählen, was im Pfuhl geschehen war und in ihren Augen die schreckliche Wahrheit entdecken, dass es
tatsächlich
Belladonna gewesen war, die das Böse über sie gebracht hatte.
»Die Zauberer sind also die einzige Möglichkeit. Von diesen Bastarden wissen wir wenigstens, wo sie zu finden sind. Außerdem sind die
Rechtsbringer
für diese Art von … Problem zuständig.« Er blickte Philo und Teaser an … und fand sich damit ab, dass es wirklich keinen anderen Weg gab. »Ich werde gehen.«
Teaser schob seinen Stuhl zurück. »Ich werde versuchen, ein Dämonenrad dazu zu überreden, uns zu fahren.«
»Uns?«, fragte Sebastian überrascht. »Du kommst mit?«
Teaser machte eine Bewegung, die wahrscheinlich ein Achselzucken darstellen sollte, aber eher zum Ausdruck brachte, wie unwohl er sich fühlte. »Jedenfalls bis zur Brücke.«
Und das war schon weiter, als er es von dem anderen
Inkubus erwartet hätte. »Ich muss zurück zum Cottage und ein paar Sachen einpacken.« Selbst wenn die Reise nicht länger dauern würde, als von Mondauf- bis Monduntergang, würde er trotzdem ein frisches Hemd brauchen, wenn er vor die Bastarde trat, die sich hinter ihren Mauern und Ritualen verschanzten.
Er lieh sich Philos Fahrrad und fuhr so schnell er konnte zurück zum Cottage. Er packte Kleidung und ein paar Toilettenartikel ein und zog sich die Lederhose und die Jacke an, die bei den Zauberern wahrscheinlich Empörung hervorrufen würde, ihm aber dabei half, sich weniger wie ein Bittsteller zu fühlen. Als er aus dem Cottage trat, wartete Teaser bereits auf ihn - breitbeinig auf einem Dämonenrad sitzend.
So wie die motorisierten Kutschen, die in einer der großen Stadtlandschaften erfunden worden waren, waren motorisierte Räder im Pfuhl unbekannt gewesen, bis ein Dutzend Männer ankamen, um Streit zu suchen und ein bisschen Spaß zu haben. Sie hatten gedacht, sie seien böse. Sie hatten gedacht, sie seien gemein. Sie hatten gedacht, sie seien stark - bis sie mit Dämonen aneinander gerieten, die böser, gemeiner und stärker waren.