Sebastian (60 page)

Read Sebastian Online

Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

BOOK: Sebastian
11.02Mb size Format: txt, pdf, ePub
Der Führer der Wächter der Dunkelheit war zitternd vor herrlicher Angst durch das Zwielicht des Halbschlafes gereist, um Ihm mitzuteilen, dass sie einen Weg gefunden hatten, den Wahren Feind anzulocken und zu ergreifen. Sie würden sie vernichten, um zu beweisen, dass sie Verbündete waren. Und wenn
sie
aus dem Weg geschafft war, würden die Orte des Lichts, die sie verborgen hatte, abermals enthüllt werden - und Er würde sie verschlingen.
Gefühle durchströmten Ihn. Vorfreude. Aufregung. Er wollte dabei sein, wenn die Wächter der Dunkelheit
sie
vernichteten.
Schnell bewegte Er sich auf den nächsten Zugangspunkt zu, der Ihn zurück in die Schule der Landschafferinnen bringen würde. Von dort aus würde er sicher einen Weg finden, um die Stadt der Zauberer rechtzeitig zu erreichen, um zu spüren, wie der Wahre Feind starb.
 
Glorianna stand am Rand von Lees Insel und betrachtete das Land, das vor ihr lag. Zu ihrer Linken verlief eine Straße, die aus der Stadt der Zauberer hinausführte. Vor ihr lag die Ostseite der Stadt. Östlich davon …
Ekel schnürte ihr die Kehle zu, raubte ihr den Atem. Ließ ihr das Herz schwer werden. Sie stand noch immer auf der Insel, auf gewisse Weise noch immer in den Heiligen Stätten. Sie hätte die Dunkle Ausstrahlung, die das Feld verströmte, nicht spüren sollen, nicht, bis sie die Landschaft der Zauberer tatsächlich betreten hatte.
Die Zauberer würden wollen, dass sie dieses Feld nutzte, um das Urteil des Herzens zu sprechen, würden wollen, dass sie auf diesem Boden stand, wenn sie zu einem Kanal für die Welt wurde, der Ephemera mit einer klaren Absicht leiten würde - um jemanden in die Landschaft zu schicken, die der Resonanz seines eigenen Herzens entsprach.
Sie hob die Hand und bewegte einen Finger. Sofort trat Lee an ihre Seite.
»Das wird reichen«, sagte Glorianna leise. »Aber ich muss ein paar Minuten hinausgehen, um mich in dieser Landschaft mit Ephemera zu verbinden.«
»Man wird dich sehen«, protestierte Lee. »Gerade kommen Reiter und ein Wagen aus dem Tor.«
»Aber sie achten bloß auf die Straße. Es sind keine Zauberer, nur normale Menschen. Ich muss wissen, womit ich arbeiten kann.«
»Du hast ganz Ephemera, um damit zu arbeiten«, knurrte er.
Habe ich das?
Sie bewegte einen Fuß, um den Schritt zu gehen, der sie in die Landschaft der Zauberer bringen würde. Dann zögerte sie und drehte sich um, um ihren Bruder anzublicken. »Lee, da gibt es etwas, das du tun musst, sobald es begonnen hat. Es wird hart sein, aber du musst es tun.«
»Was?«, fragte er misstrauisch.
Sie blickte zur Mitte der Insel. Sie konnte die andere Frau nicht sehen, die dort im geschützten Garten saß, aber sie konnte die Resonanz ihres Herzens wahrnehmen. »Misch dich nicht in Lynneas Lebensreise ein.«
Verwundert blickte auch er zum Mittelpunkt der Insel. »Was ist mit Sebastian? Wenn du erst einmal begonnen hast, das Urteil des Herzens zu vollstrecken -«
»Misch dich nicht in Lynneas Reise ein.«
Lee starrte sie an und verstand mehr, als jeder andere es gekonnt hätte. »Hast du ihr gesagt, dass Sebastians Leben in ihren Händen liegt?«
»Nein. Das muss ihre Entscheidung sein. Und es muss die seine sein.«
Lee schloss die Augen. »Wir könnten ihn verlieren.«
»Ich weiß.«
Er schlug die Augen auf und nickte.
»Wir sind dabei, einen Krieg zu beginnen«, flüsterte sie.
»Sorge einfach dafür, dass du die erste Schlacht gewinnst.«
Sie wandte sich um und trat vom Rand der Insel zurück - und schrie beinahe auf vor Entsetzen.
Breite Ströme der Dunkelheit durchzogen die ganze Landschaft, aber vom Licht waren nur noch ein paar Fäden geblieben. Nicht mehr. Gerade genug, um anzudeuten, dass das Licht ein paar guten Herzen Kraft schenkte - und von ihnen Kraft bekam, gerade genug, um zu verhindern, dass der ganze Ort in bösartige Dunkelheit stürzte. Aber nicht genug, um ihr die Möglichkeit zur Veränderung zu bieten, um die Stadt wirklich zu einem guten Ort für die Menschen werden zu lassen.
Die Wächter der Dunkelheit und der Weltenfresser verabscheuten das Licht. Warum also hatten sie diese Strömungen der Macht nicht vollends ausgelöscht?
Die offensichtliche Antwort lautete: Weil sie diese Lichten Strömungen brauchten. Warum?
Darüber würde sie später nachdenken. Jetzt musste sie mit leichtem Herzen reisen, dem Urteil des Herzens in sich selbst einen Weg formen.
Ephemera, höre mich an. Höre auf mein Herz.
Als sie begann, die Resonanz aufzunehmen und sich den Herzen um sie herum öffnete, fühlte sie in der Nähe das kurze Aufflackern einer Antwort. Sie wandte den Kopf und betrachtete den Wagen und die Reiter, die noch immer die Straße hinunterzogen. Herzen, die sich nach dem Licht sehnten - und Herzen, die es nach einer anderen Art der Dunkelheit verlangte.
Dann sah sie die Kutschen aus dem Tor fahren und wusste, dass ihr nur noch wenige Minuten blieben, um sich vorzubereiten.
»Lee«, rief sie leise. »Hol Lynnea. Es ist soweit.«
Ephemera, höre mich an. Höre auf mein Herz. Heute vollstrecken wir das Urteil des Herzens.
Sie spürte den Widerstand der Welt und ließ ihre Resonanz
stärker werden, passte sie dem Licht an. Ein paar Herzen hinter den Stadtmauern antworteten und nahmen ihre Resonanz auf.
Diese Herzen gehören nicht hierher.
Sie fühlte, wie Ephemera langsam reagierte, zu fließen begann, um ihrer Resonanz zu entsprechen, bereit, dem Gestalt zu verleihen, was sie gebot. Als das Licht sie erfüllte, fügte sie ihm ihre Dunkle Resonanz hinzu.
Und fühlte einige der Dunklen Machtströmungen, die sich bereits in dieser Landschaft befanden, brechen, als die Resonanz ihres Herzens begann, den Ort zu übernehmen.
Noch etwas, worüber sie nachdenken musste. Aber nicht hier, nicht jetzt.
Während sie zusah, wie die Kutschen der Zauberer die Straße verließen und über das offene Land auf den Ort zurumpelten, an dem sie wartete, dachte sie an nichts, außer an die schreckliche Macht, die sich das Urteil des Herzens nannte.
Eine Macht, die sie gleich freisetzen würde.
 
Dalton starrte die Frau an, die aus dem Nichts erschien. Das Herz hämmerte in seiner Brust. War das Belladonna?
Als sie den Kopf drehte und in seine Richtung blickte, fühlte er sich, als sei gerade sein Innerstes entblößt worden. Selbst als sie sich abwandte, fühlte er sich außer Atem und völlig durcheinander.
»Dalton?«, fragte seine Frau Aldys beunruhigt. »Warum haben wir angehalten?«
»Wir reiten besser weiter, Hauptmann«, sagte Addison. »Die Kleinen sollten das Urteil des Herzens nicht mit ansehen.«
»Warum?«, fragte Aldys. »Uns wurde immer erzählt, es sei eine barmherzige Strafe. Und dass niemand erhält, was er nicht verdient.«
Wenn es wirklich Gerechtigkeit gibt, wird der Mann,
den Koltak betrogen hat, um ihn hierher zu bringen, an den Ort zurückgeschickt, den er Zuhause nennt,
dachte Dalton.
Als er die Zügel aufnahm, sah er plötzlich zwei weitere Personen hinter der Frau auftauchen.
War der Mann ein Brückenbauer? Waren sie gerade aus einer anderen Landschaft übergetreten? Hatte er genug Zeit, um zu ihnen hinaus zu reiten und sie zu fragen, wohin die Brücke führte?
»Hauptmann.« Warnend.
Dalton blickte zurück und sah die Kutschen, die sich über das offene Land bewegten.
Zu spät,
dachte er bedauernd, nicht sicher, ob er an sich selbst dachte oder an den Mann, der in dem verschlossenen Gefängniswagen saß.
Zu spät.
Sein Herz machte einen Sprung.
»Wir reiten besser weiter, Hauptmann«, sagte Addison.
Aber er konnte den Blick nicht abwenden. Er sah zu, wie die Kutschen zum Stehen kamen, sah zu, wie der Rat der Zauberer ausstieg, um gegenüber der Landschafferin eine Linie zu bilden, sah zu, wie … War das Koltak, dem jemand von einem Ponywagen half? Das war zu erwarten. Dieses Spektakel hätte sich der Bastard nicht entgehen lassen, selbst wenn er den ganzen Weg von der Halle der Zauberer aus hätte kriechen müssen.
Der Gefängniswagen fuhr noch ein Stück weiter, bevor er stehen blieb. Eine der Wachen entriegelte die Tür und öffnete sie. Der Mann, bei dessen Gefangennahme er Koltak geholfen hatte, stieg vom Wagen und entfernte sich von Wachen und Zauberern.
Niemand entkam dem Urteil des Herzens. Jeder wusste das. Man konnte nicht schnell genug laufen, um sich dem Griff einer Landschafferin zu entziehen, die das Urteil des Herzens gesprochen hatte.
Trotzdem bewunderte er den Mann dafür, dass er aufrecht dastand und der Landschafferin in die Augen sah.
Und ein ums andere Mal wünschte er sich, er hätte eine andere Entscheidung getroffen.
 
Lynnea rang die Hände, bis sie schmerzten. Etwas stimmte nicht mit Sebastian. Stimmte ganz und gar nicht. Sein Gesicht schien wie aus Holz geschnitzt, und in seinen wundervollen grünen Augen lag nichts als Leere. Was hatten diese niederträchtigen Männer ihm angetan?
Er schien nicht zu bemerken - oder es kümmerte ihn nicht -, dass sie gekommen war, um ihm zu helfen.
Vielleicht war es ihm egal. Vielleicht hatte er sie nie geliebt. Vielleicht war es falsch gewesen, hierher zu kommen.
Ihr Mut geriet ins Wanken. Sie schwankte plötzlich, als hätte sich der Boden unter ihren Füßen bewegt. Lee ergriff ihren Arm, um sie zu stützen.
Sebastian,
dachte sie und fühlte einen Stich im Herzen.
Sebastian.
 
Was hatten sie Sebastian angetan, um sein Herz in so kurzer Zeit in eine Wüste zu verwandeln? Diese Frage stellte sich Glorianna, als sie in seine leeren Augen sah.
Dann fühlte sie eine Hitzewelle, die geradewegs aus seinem Herz in das ihre fuhr. Ein Herzenswunsch, der so stark war, dass der Boden um sie herum von seiner Macht erzitterte.
Sie wandte Sebastian und den Zauberern den Rücken zu und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Lynnea.
»Sein Herz ist düster, verlassen, kalt«, sagte sie und verbannte jegliches Gefühl aus ihrer Stimme. »Wenn das Urteil des Herzens vollstreckt wird, wird er in einer Landschaft enden, die düster, verlassen und kalt ist.«
»Es ist nicht gerecht«, flüsterte Lynnea. »So ist er nicht. Er verdient mehr als das.«
»Ephemera wird ihn an den Ort schicken, der die Resonanz seines Herzens trägt. Das kann ich nicht ändern.«
Glorianna wartete, hoffte auf ein Zeichen des Widerstandes, aber Lynnea verließ der Mut. »Doch sein letzter Herzenswunsch galt dir. Er möchte, dass du eine Landschaft findest, in der du dich wirklich zu Hause fühlst. Dass du erhältst, wonach es dein Herz am meisten verlangt. Diesen Wunsch werde ich erfüllen, Lynnea. Ich und Ephemera schenken dir, wonach du dich am meisten sehnst.«
»Wie soll ich das entscheiden?«, rief Lynnea.
»Folge deinem Herzen.«
Bevor Lynnea den Blick senkte und zu Boden schaute, sah Glorianna kurz die Stärke in ihren Augen aufblitzen.
Glorianna wandte Lynnea und Lee den Rücken zu, ignorierte Lees Protest und entfernte sich ein paar Schritte.
Höre mich an, Ephemera. Spüre dieses Herz.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf Lynnea, auf die Resonanz, die mit jedem Moment stärker und entschlossener wurde.
Schenke diesem Herzen, wonach es sich am meisten sehnt. Und diesem hier ebenso.
Jetzt konzentrierte sie sich auf die Resonanz, die Sebastian aussandte.
Lass ihn seinem Herzen folgen. Höre auf nichts, außer auf das Innerste seines Herzens.
Die Resonanz der Macht, die sie in sich trug, wurde stärker, beinahe zu stark, um sie zu kontrollieren.
Sie blickte den Rat der Zauberer an. Sie starrten zurück, nicht ganz in der Lage, ihre hämische Freude darüber, dass sie sie endlich in Reichweite hatten, zu verbergen.
Was sie nicht bedacht hatten, war dass sie sich ebenfalls in Reichweite befanden. Denn keine Landschafferin hatte jemals versucht, das Urteil des Herzens über mehr als eine Person gleichzeitig zu sprechen.
Höre auf alle, die sich in dieser Landschaft befinden,
gebot sie.
Finde die Landschaften, die die Resonanz all dieser Herzen teilen und schicke sie an jenen Ort. Schicke jedes Herz in das Licht oder die Dunkelheit, die es verdient.
Entreiße jedem Herz die Maske, die es trägt, um sein wahres Wesen zu verbergen. Jetzt, Ephemera.
Jetzt!
Sie warf den Kopf zurück und hob die Arme - und ließ die Welt das Urteil des Herzens durch sie hindurch vollstrecken.
 
»Wächter und Wahrer«, flüsterte Dalton, als eine gewaltige Macht ihn durchzuckte und sich mit seiner Resonanz verband. »Sie hat das Urteil des Herzens über uns alle gesprochen!«
Er zog die Bremse an und löste die Fahrleinen, um die Pferde am Durchgehen zu hindern und drehte sich dann um, um den Arm seiner Frau zu ergreifen und so eine schützende Barriere vor ihren Kindern zu formen. »Henley! Addison! Bindet Eure Pferde fest und kommt auf den Wagen.«
Henley und Addison stiegen ab. Doch sie entfernten sich von ihnen.
»Ihr seid ein guter Mensch, Hauptmann«, sagte Addison. »Aber ich bin es nicht. Nicht wie Ihr. Ich trinke und spiele gerne und genieße die Gesellschaft von Frauen, die keine Damen sind. Henley ebenso.«
»Aber -«
»Haltet Euch an Eurer Familie fest«, sagte Addison. »Henley und ich, wir werden unseren eigenen Weg gehen. Auf Wiedersehen, Hauptmann. Reist leichten Herzens.«
Die zwei Wachen schwanden, als seien sie nicht mehr ganz da.
Als er sich an seiner Familie festhielt und darauf wartete, vom Sturm der Macht davongetragen zu werden, hallte ein Gedanke durch Daltons Geist:
Die Hoffnung des Herzens liegt in Belladonna.
Um ihrer aller willen hoffte er, dass der Mann, den Koltak als Gefangenen in die Stadt gebracht hatte, Recht behielt.
Folge deinem Herzen. Ich und Ephemera schenken dir, wonach du dich am meisten sehnst.
Lynnea blickte erschrocken auf. Der Boden fühlte sich so seltsam an, so … fließend. Und alles um sie herum kam ihr so … durchscheinend vor.

Other books

Death of an Aegean Queen by Hudgins, Maria
Ambush at Shadow Valley by Ralph Cotton
A Forgotten Tomorrow by Teresa Schaeffer
Bittersweet Chocolate by Emily Wade-Reid
Only Tyler by Jess Dee
The Possibility of Trey by J.A. Hornbuckle