Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (12 page)

BOOK: Die Blechtrommel
10.72Mb size Format: txt, pdf, ePub
ads

»Oskar, du wirst jetzt auf mich hören; Donnerstag: Heimatkunde?« Das Wörtchen Donnerstag ignorierend, schlug ich viermal für Heimatkunde, fürs Rechnen und Schreiben je zweimal, der Religion widmete ich, wie es sich gehört, nicht etwa vier, sondern drei dreieinige, alleinseligmachende Trommelschläge.

Aber die Spollenhauer bemerkte die Unterschiede nicht. Ihr war alle Trommelei gleich zuwider.

Zehnmal zeigte sie mir, wie schon vorher, die abgehacktesten Fingernägel und wollte zehnmal zugreifen.

Doch bevor sie noch mein Blech berührte, ließ ich schon meinen glastötenden Schrei los, der den drei übergroßen Klassenfenstern die oberen Scheiben nahm. Einem zweiten Schrei fielen die mittleren Fenster zum Opfer. Ungehindert drang die milde Frühlingsluft in den Klassenraum. Daß ich mit einem dritten Schrei auch die unteren Fensterscheiben tilgte, war im Grunde überflüssig, ja reiner Übermut, denn die Spollenhauer zog schon beim Versagen der oberen und mittleren Scheiben ihre Krallen ein.

Anstatt sich aus reinem und künstlerisch fragwürdigem Mutwillen an den letzten Scheiben zu vergehen, hätte Oskar weiß Gott klüger gehandelt, wenn er die zurücktaumelnde Spollenhauer im Auge behalten hätte.

Weiß der Teufel, wo sie den Rohrstock hergezaubert haben mochte. Jedenfalls war er auf einmal da, zitterte in jener sich mit der Frühlingsluft kreuzenden Klassenluft, und durch diese Luftmischung ließ sie ihn sausen, ließ ihn biegsam sein, hungrig, durstig, auf platzende Haut versessen sein, auf das Sssst, auf die vielen Vorhänge, die ein Rohrstock vorzutäuschen vermag, auf die Befriedigung beider Teile. Und sie ließ ihn auf meinen Pultdeckel knallen, daß die Tinte im Fäßchen einen violetten Sprung machte. Und sie schlug, als ich ihr die Hand nicht zum Draufschlagen anbieten wollte, auf meine Trommel. Auf mein Blech schlug sie. Sie, die Spollenhauersche, schlug auf meine Blechtrommel. Was hatte die zu schlagen? Gut, wenn sie schlagen wollte, warum dann auf meine Trommel? Saßen nicht gewaschene Lümmel genug hin ter mir? Mußte es unbedingt mein Blech sein?

Mußte sie, die nichts, rein gar nichts von der Trommelei verstand, sich an meiner Trommel vergreifen? Was blitzte ihr da im Auge? Wie hieß das Tier, das schlagen wollte? Welchem Zoo entsprungen, welche Nahrung suchend, wonach läufig? — Es kam Oskar an, es drang ihm, ich weiß nicht aus welchen Gründen aufsteigend, durch die Schuhsohlen, Fußsohlen, fand hoch, besetzte seine Stimmbänder, ließ ihn einen Brunstschrei ausstoßen, der gereicht hätte, eine ganze herrliche, schönfenstrige, lichtfangende, lichtbrechende, gotische Kathedrale zu entglasen.Ich formte mit anderen Worten einen Doppelschrei, der beide Brillengläser der Spollenhauer wahrhaft zu Staub werden ließ. Mit leicht blutenden Augenbrauen und aus nunmehr leeren Brillenfassungen blinzelnd, tastete sie sich rückwärts, begann schließlich häßlich und für eine Volksschullehrerin viel zu unbeherrscht zu greinen, während die Bande hinter mir ängstlich verstummte, teils unter den Bänken verschwand, teils die Zähnchen klappern ließ. Einige rutschten von Bank zu Bank den Müttern entgegen. Die jedoch, da sie den Schaden begriffen, suchten den Schuldigen und wollten über meine Mama herfallen, wären wohl auch über meine Mama hergefallen, hätte ich mich nicht, meine Trommel greifend, aus der Bank geschoben.

An der halbblinden Spollenhauer vorbei fand ich zu meiner von Furien bedrohten Mama, faßte sie bei der Hand, zog sie aus dem zugigen Klassenzimmer der Klasse la. Hallende Korridore. Steintreppen für Riesenkinder. Brotreste in sprudelnden Granitbecken. In der offenen Turnhalle zitterten Knaben unterm Reck. Mama hielt noch immer das Zettelchen. Vor dem Portal der Pestalozzischule nahm ich es ihr ab und machte aus einem Stundenplan eine sinnlose Papierkugel.

Dem Fotografen jedoch, der zwischen den Säulen des Portals auf die Erstkläßler mit den Schultüten und Müttern wartete, erlaubte Oskar, eine Aufnahme von ihm und seiner bei all dem Durcheinander nicht verlorengegangenen Schultüte zu machen. Die Sonne kam hervor, über uns summten Klassenzimmer. Der Fotograf stellte Oskar vor die Kulisse einer Schultafel, auf der geschrieben stand: Mein erster Schultag.

RASPUTIN UND DAS ABC

Meinem Freund Klepp und dem mit halbem Ohr hinhörenden Pfleger Bruno, Oskars erste Begegnung mit dem Stundenplan erzählend, sagte ich soeben: Auf jener Schultafel, die dem Fotografen den traditionellen Hintergrund für postkartengroße Aufnahmen sechsjähriger Knaben mit Tornistern und Schultüten abgab, stand geschrieben: Mein erster Schultag.

Selbstverständlich war dieses Sätzchen nur den Müttern leserlich, die hinter dem Fotografen standen und aufgeregter als ihre Knaben taten. Die Knaben vor der Tafel mit Inschrift konnten allenfalls ein Jahr später, entweder bei der österlichen Einschulung der neuen Erstkläßler oder auf den ihnen gebliebenen Fotos entziffern, daß jene bildschönen Aufnahmen anläßlich ihres ersten Schultages gemacht worden waren.

Sütterlinschrift kroch bösartig spitzig und in den Rundungen falsch, weil ausgestopft, über die Schultafel, kreidete jene, den Anfang eines neuen Lebensabschnittes markierende Inschrift. In der Tat läßt sich gerade die Sütterlinschrift für Markantes, Kurzformuliertes, für Tageslosungen etwa, gebrauchen. Auch gibt es gewisse Dokumente, die ich zwar nie gesehen habe, die ich mir dennoch mit Sütterlinschrift beschrieben vorstelle. Ich denke da an Impfscheine, Sporturkunden und handgeschriebene Todesurteile. Schon damals, da ich Sütterlinschrift zwar durchschauen, aber nicht lesen konnte, wollte die Doppelschlinge des Sütterlin M, mit dem die Inschrift begann, tückisch und nach Hanf riechend, mich ans Schafott gemahnen.

Dennoch hätte ich's gerne Buchstabe für Buchstabe gelesen und nicht nur dunkel geahnt. Es soll ja niemand glauben, ich hätte meine Begegnung mit dem Fräulein Spollenhauer von so hoher Warte aus glaszersingend gestaltet und als revoltierende Protesttrommelei betrieben, weil ich des ABC mächtig gewesen wäre. O nein, ich wußte allzu gut, daß es mit dem Durchschauen der Sütterlinschrift nicht getan war, daß mir das simpelste Schulwissen fehlte. Es konnte dem Oskar leider nicht die Methode gefallen, mit der ihn ein Fräulein Spollenhauer zum Wissenden machen wollte.

Demnach beschloß ich keinesfalls beim Verlassen der Pestalozzischule: Mein erster Schultag soll auch mein letzter sein. Die Schule ist aus, jetzt gehn wir nach Haus. Nichts dergleichen! Schon während der Fotograf mich für immer ins Bild bannte, dachte ich: Du stehst hier vor einer Schultafel, stehst unter einer wahrscheinlich bedeutenden, womöglich verhängnisvollen Inschrift. Du kannst zwar dem Schriftbild nach die Inschrift beurteilen und dir Assoziationen wie Einzelhaft, Schutzhaft, Oberaufsicht und Alle-an-einem-Strick aufzählen, aber entziffern kannst du die Inschrift nicht. Dabei hast du bei all deiner zum halbbewölkten Himmel schreienden Unwissenheit vor, diese Stundenplanschule nie wieder zu betreten. Wo, Oskar, wo willst du das große und das kleine ABC lernen?

Daß
es
ein großes und ein kleines ABC gab, hatte ich, dem eigentlich ein kleines ABC genügt hätte, unter anderem der unübersehbaren, nicht aus der Welt zu denkenden Existenz großer Leute entnommen, die sich selbst Erwachsene nannten. Man wird schließlich nicht müde, die Existenzberechtigung eines großen und kleinen ABC durch einen großen und kleinen Katechismus, durch ein großes und kleines Einmaleins zu belegen, und bei Staatsbesuchen spricht man, je nachdem wie groß der Aufmarsch dekorierter Diplomaten und Würdenträger ist, von einem großen oder kleinen Bahnhof.

Weder Matzerath noch Mama kümmerten sich während der nächsten Monate um meine Ausbildung.

Das Elternpaar ließ es mit dem einen, für Mama so anstrengenden und beschämenden Einschulungsversuch genug sein. Sie taten es dem Onkel Jan Bronski gleich, seufzten, wenn sie mich von oben her betrachteten, kramten alte Geschichten, wie meinen dritten Geburtstag aus: »Die offene Falltür! Du hast sie offen gelassen, stimmt's! Du warst in der Küche und vorherim Keller, stimmts! Du hast eine Konservendose mit gemischtem Obst für den Nachtisch hochgeholt, stimmts! Du hast die Falltür zum Keller offen gelassen, stimmts!«

Es stimmte alles, was Mama dem Matzerath vorwarf, und stimmte dennoch nicht, wie wir wissen.

Aber er trug die Schuld und weinte sogar manchmal, weil sein Gemüt weich sein konnte. Dann mußte er von Mama und Jan Bronski getröstet werden, und sie nannten mich, Oskar, ein Kreuz, das man tragen müsse, ein Schicksal, das wohl unabänderlich sei, eine Prüfung, von der man nicht wisse, womit man sie verdiene.

Von diesen schwergeprüften, vom Schicksal geschlagenen Kreuzträgern war also keine Hilfe zu erwarten. Auch Tante Hedwig Bronski, die mich oft holen kam, damit ich mit ihrer zweijährigen Marga im Sandkasten des Steffensparkes spielte, schied als Lehrerin für mich aus: sie war zwar gutmütig, aber himmelblau dumm. Gleichfalls mußte ich mir die Schwester Inge des Dr. Hollatz, die weder himmelblau noch gutmütig war, aus dem Sinn schlagen: denn die war klug, keine gewöhnliche Sprechstundenhilfe, sondern eine unersetzliche Assistentin und hatte deshalb auch keine Zeit für mich.

Ich bewältigte mehrmals am Tage die über hundert Treppenstufen des vierstöckigen Mietshauses, trommelte Rat suchend auf jeder Etage, roch, was es bei neunzehn Mietparteien zu Mittag gab, und klopfte dennoch an keine Tür, weil ich weder im alten Heilandt, noch im Uhrmacher Laubschad, schon gar nicht in der dicken Frau Kater oder, bei aller Zuneigung, in Mutter Truczinski meinen künftigen Magister erkennen wollte.

Da gab es unter dem Dach den Musiker und Trompeter Meyn. Herr Meyn hielt sich vier Katzen und war immer betrunken. Tanzmusik spielte er auf »Zinglers Höhe«, und am Heiligen Abend stampfte er mit fünf ähnlich Betrunkenen durch Schnee und Straßen und kämpfte mit Chorälen gegen gestrengen Frost an. Ihm begegnete ich einmal auf dem Dachboden: in schwarzer Hose, weißem Extrahemd lag er auf dem Rücken, rollte mit unbeschuhten Füßen eine leere Machandelflasche und blies ganz wunderschön Trompete. Ohne sein Blech abzusetzen, nur leicht die Augen verdrehend, nach mir, der ich hinter ihm stand, schielend, respektierte er mich als ihn begleitenden Trommler. Es war ihm sein Blech nicht mehr wert als mein Blech. Unser Duo trieb seine vier Katzen aufs Dach und ließ die Dachpfannen leicht vibrieren.

Als wir die Musik beendeten, das Blech sinken ließen, holte ich unter meinem Pullover eine alte »Neueste Nachrichten« hervor, glättete das Papier, kauerte mich neben den Trompeter Meyn, hielt ihm die Lektüre hin und verlangte Unterrichtung im großen und kleinen ABC.

Aber Herr Meyn war aus seiner Trompete heraus sogleich in den Schlaf gefallen. Es gab für ihn nur drei wahre Behältnisse: die Machandelflasche, die Trompete und den Schlaf. Zwar haben wir noch oftmals, genau gesagt, bis er in die Reiter-SA als Musiker eintrat und für einige Jahre den Machandel aufgab, Duette, ohne vorher zu üben, auf dem Dachboden den Kaminen, Dachpfannen, Tauben und Katzen vorgespielt, aber zum Lehrer wollte er nicht taugen.

Ich versuchte es mit dem Gemüsehändler Greff. Ohne meine Trommel, denn Greff hörte nicht gerne das Blech, besuchte ich mehrmals den Kellerladen schräg gegenüber. Die Voraussetzungen für ein gründliches Studium schienen gegeben: lagen doch überall in der Zweizimmerwohnung, im Laden selbst, hinter und auf dem Ladentisch, sogar in dem verhältnismäßig trockenen Kartoffelkeller lagen Bücher, Abenteuerbücher, Liederbücher, der Cherubinische Wandersmann, des Walter Flex Schriften, Wiecherts einfaches Leben, Daphnis und Chloe, Künstlermonographien, Stapel Sportzeitschriften, auch Bildbände mit halbnackten Knaben, die aus unerfindlichen Gründen, zumeist zwischen Dünen am Strand, Bällen nachsprangen und geölt glänzende Muskeln dabei zeigten.

Greff hatte schon zu jener Zeit viel Ärger im Geschäft. Prüfer vom Eichamt hatten beim Kontrollieren der Waage und Gewichte einiges zu bemängeln gehabt. Das Wörtchen Betrug fiel. Greff mußte eine Buße zahlen und neue Gewichte kaufen. Sorgenvoll wie er war, konnten ihn nur noch seine Bücher und die Heimabende und Wochenendwanderungen mit seinen Pfadfindern aufheitern.

Kaum bemerkte er meinen Eintritt ins Geschäft, schrieb weiter Preisschildchen, und ich griff mir, die günstige Gelegenheit der Preisschildchenschreiberei nutzend, drei, vier weiße Pappen, dazu einen Rotstift und versuchte eifrig tuend, die schon beschrifteten Schildchen, Sütterlin imitierend, als Vorlage zu benutzen und dadurch Greffs Aufmerksamkeit zu erregen.

Oskar war ihm wohl zu klein, nicht großäugig und bleich genug. So ließ ich also vom Rotstift, wählte mir einen Schmöker voller dem Greff ins Auge springender Nackedeis, tat auffallend mit dem Buch, hielt Fotos sich bückender oder dehnender Knaben, von denen ich annehmen konnte, daß sie dem Greff etwas bedeuteten, schräg und auch ihm zur Ansicht.

Da der Gemüsehändler, wenn nicht gerade Kundschaft im Laden war und rote Rüben verlangte, allzu exakt an den Preisschildchen herumpinselte, mußte ich schon geräuschvoll mit den Buchdeckeln klappen oder die Seiten rasch und knisternd bewegen, damit er aus seinen Preisschildchen auftauchte und Anteil an mir, dem Leseunkundigen, nahm.

Um es gleich zu sagen: Greff begriff mich nicht. Wenn Pfadfinder im Laden waren — und nachmittags waren immer zwei oder drei seiner Unterführer um ihn — bemerkte er Oskar überhaupt nicht. War Greff jedoch alleine, konnte er nervös streng und der Störungen wegen verärgert aufspringen und Befehle erteilen: »Laß das Buch liegen, Oskar! Kannst ja doch nichts damit anfangen.

Biste viel zu dumm für und zu klein. Wirste noch kaputtmachen. Hat über sechs Gulden gekostet.

Wenn du spielen willst, da sind Kartoffeln und Weißkohlköppe genug!«

Dann nahm er mir den Schmöker weg, blätterte darin, ohne das Gesicht zu verziehen, und ließ mich zwischen Wirsingkohl, Rosenkohl, Rotkohl und Weißkohl, zwischen Wruken und Bulven stehen, vereinsamen; denn Oskar hatte seine Trommel nicht bei sich.

Zwar gab es noch die Frau Greff, und ich schob mich auch zumeist nach der Abfuhr durch den Gemüsehändler ins Schlafzimmer des Ehepaares. Frau Lina Greff lag zu dem Zeitpunkt schon wochenlang zu Bett, tat kränklich, roch nach faulendem Nachthemd und nahm alles mögliche in die Hand, nur kein Buch, das mich unterrichtet hätte.

Leichten Neid kauend, sah Oskar in der folgenden Zeit gleichaltrigen Knaben auf die Schultornister, an deren Seiten Schwämme und Läppchen der Schiefertafeln wippten und wichtig taten. Trotzdem kann er sich nicht erinnern, jemals Gedanken gehabt zu haben wie: du hast es dir selbst eingebrockt, Oskar. Hättest gute Miene zum Schulspiel machen sollen. Hättest es nicht mit der Spollenhauer auf alle Zeiten verderben sollen. Die Bengels überholen dich! Die haben entweder das große oder das kleine ABC intus, während du nicht einmal die »Neuesten Nachrichten« richtig zu halten weißt.

BOOK: Die Blechtrommel
10.72Mb size Format: txt, pdf, ePub
ads

Other books

Claire Delacroix by Pearl Beyond Price
Turbulence by Jessica Matthews
Passing Strange by Catherine Aird
Play It Safe by Kristen Ashley
Married To The Boss by Lori Foster
Unfinished Business by Nora Roberts
En la Tierra del Fuego by Carla Federico
Sweeney Astray by Seamus Heaney