Leichter Neid, sagte ich soeben, mehr war es nicht. Bedurfte es doch nur einer flüchtigen Geruchsprobe, um von der Schule endgültig die Nase voll zu haben. Haben Sie einmal an den schlechtausgewaschenen, halbzerfressenen Schwämmen und Läppchen jener abblätternd gelbumrandeten Schiefertafeln geschnuppert, die im billigsten Leder der Schultornister die Ausdünstungen aller Schönschreiberei, den Dunst des kleinen und großen Einmaleins, den Schweiß quietschender, stockender, verrutschender, mit Spucke befeuchteter Griffel aufbewahren? Dann und wann, wenn aus der Schule heimkehrende Schüler in meiner Nähe die Tornister ablegten, um Fußball oder Völkerball zu spielen, bückte ich mich zu den in der Sonne dörrenden Schwämmen und stellte mir vor, daß ein eventuell vorhandener Satan in seinen Achselhöhlen dererlei säuerliche Wolken züchte.
Die Schule der Schiefertafeln war also kaum nach meinem Geschmack. Oskar will aber nicht behaupten, daß jenes Gretchen Scheffler, das bald darauf seine Ausbildung in die Hand nahm, ihm gemäßen Geschmack verkörperte.
Alles Inventar der Schefflerschen Bäckerwohnung im Kleinhammerweg beleidigte mich. Diese Zierdeckchen, wappenbestickten Kissen, in Sofaecken lauernden Käthe-Kruse-Puppen, Stofftiere, wohin man auch trat, Porzellan, das nach einem Elefanten verlangte, Reiseandenken in jeder Blickrichtung, angefangenes Gehäkeltes, Gestricktes, Besticktes, Geflochtenes, Geknotetes, Geklöppeltes und mit Mausezähnchen Umrandetes. Zu dieser süßniedlichen, entzückend gemütlichen, erstickend winzigen, im Winter überheizten, im Sommer mit Blumen vergifteten Behausung fällt mir nur eine Erklärung ein: Gretchen Scheffler hatte keine Kinder, hätte so gerne Kinderchen zum Bestricken gehabt, hätte, ach lag es am Scheffler, lag es an ihr, so zum Auffressen gerne ein Kindchen behäkelt, beperlt, umrandet und mit Kreuzstichküßchen besetzt.
Hier trat ich ein, um das kleine und große ABC zu lernen. Mühe gab ich mir, daß kein Porzellan oder Reiseandenken zu Schanden wurde. Meine glastötende Stimme ließ ich sozusagen zu Hause, drückte ein Auge zu, wenn das Gretchen befand, es sei nun genug getrommelt worden, und mir mit Gold-und Pferdezähnen lächelnd die Trommel von den Knien zog, das Blech zwischen Teddybären legte.
Ich befreundete mich mit zwei Käthe-Kruse-Puppen, drückte die Bälge an mich, klimperte wie verliebt mit den Wimpern der immer erstaunt blickenden Damen, damit diese falsche, doch deshalb um so echter wirkende Freundschaft mit Puppen das zwei glatt, zwei kraus gestrickte Herz des Gretchens bestricke.
Mein Plan war nicht schlecht. Schon beim zweiten Besuch öffnete Gretchen ihr Herz, das heißt, sie ribbelte es auf, wie man Strümpfe aufribbelt, zeigte mir den ganzen langen, an einigen Stellen schon Knötchen zeigenden fadenscheinigen Faden, indem sie alle Schränke, Kisten und Schächtelchen vor mir aufschloß, den mit Perlen besetzten Plunder vor mir ausbreitete, Stapel Kinderjäckchen, Kinderlätzchen, Kinderhöschen, die für Fünflinge gereicht hätten, mir anhielt, anzog und wieder abnahm.
Dann zeigte sie Schefflers im Kriegerverein erworbene Schützenabzeichen, Fotos danach, die sich zum Teil mit unseren Fotos deckten, und endlich, da sie den Babykram noch einmal anfaßte und irgend etwas Strampeliges suchte, da endlich kamen Bücher zum Vorschein; hatte Oskar doch fest damit gerechnet, Bücher hinter dem Babykram zu finden; hatte Oskar sie doch mit Mama über Bücher sprechen hören; wußte er doch, wie eifrig die beiden, da sie noch verlobt und schließlich fast gleichzeitig jung verheiratet waren, Bücher getauscht, Bücher aus der Leihbücherei am Filmpalast entliehen hatten, um mit Lesestoff vollgepumpt der Kolonialwarenhändlerehe und Bäckerehe mehr Welt, Weite und Glanz vermitteln zu können.
Viel war es nicht, was Gretchen mir zu bieten hatte. Sie, die nicht mehr las, seitdem sie nur noch strickte, mochte wohl wie Mama, die wegen Jan Bronski nicht mehr zum Lesen kam, die stattlichen Bände der Buchgemeinschaft, deren Mitglieder beide längere Zeit waren, an Leute verschenkt haben, die noch lasen, weil sie nicht strickten und auch keinen Jan Bronski hatten.
Auch schlechte Bücher sind Bücher und deshalb heilig. Was ich da fand, stellte Kraut und Rüben dar, stammte wohl zum guten Teil aus der Bücherkiste ihres Bruders Theo, der auf der Doggerbank den Seemannstod gefunden hatte. Sieben oder acht Bände Köhlers Flottenkalender voller Schiffe, die längst gesunken waren, die Dienstgrade der kaiserlichen Marine, Paul Benecke, der Seeheld — das durfte wohl kaum die Speise gewesen sein, nach der Gretchens Herz verlangte. Erich Keysers Geschichte der Stadt Danzig und jener Kampf um Rom, den ein Mann namens Felix Dahn mit Hilfe von Totila und Teja, Belisar und Narses geführt haben mußte, hatten wohl gleichfalls unter den Händen des zur See gefahrenen Bruders an Glanz und Buchrückenhalt verloren. Gretchens Büchergestell sprach ich ein Buch zu, das über Soll und Haben abrechnete, und etwas über Wahlverwandtschaften von Goethe sowie den reichbebilderten dicken Band: Rasputin und die Frauen.
* Nach längerem Zögern — die Auswahl war zu klein, als daß ich mich hätte schnell entscheiden mögen — griff ich, ohne zu wissen, was ich griff, nur dem bekannten inneren Stimmchen gehorchend, zuerst den Rasputin und dann den Goethe.
Dieser Doppelgriff sollte mein Leben, zumindest jenes Leben, welches abseits meiner Trommel zu führen ich mir anmaßte, festlegen und beeinflussen. Bis zum heutigen Tage — da Oskar die Bücherei der Heil-und Pflegeanstalt bildungsbeflissen nach und nach in sein Zimmer lockt — schwanke ich, auf Schiller und Konsorten pfeifend, zwischen Goethe und Rasputin, zwischen dem Gesundbeter und dem Alleswisser, zwischen dem Düsteren, der die Frauen bannte, und dem lichten Dichterfürsten, der sich so gern von den Frauen bannen ließ. Wenn ich mich zeitweilig mehr dem Rasputin zugehörig betrachtete und Goethes Unduldsamkeit fürchtete, lag das an dem leisen Verdacht: der Goethe hätte, hättest du, Oskar, zu seiner Zeit getrommelt, in dir nur Unnatur erkannt, dich als leibhaftige Unnatur verurteilt und seine Natur — die du schließlich' immer, selbst wenn sie sich noch so unnatürlich spreizte, bewundert und angestrebt hast — sein Naturell hätte er mit übersüßem Konfekt gefüttert und dich armen Tropf wenn nicht mit dem Faust dann mit einem dicken Band seiner Farbenlehre erschlagen.
Doch zurück zu Rasputin. Er hat mir mit Gretchen Schefflers Hilfe das kleine und große ABC beigebracht, hat mich gelehrt, die Frauen aufmerksam zu behandeln, und hat mich getröstet, wenn Goethe mich kränkte.
Es war gar nicht so einfach, das Lesen zu lernen und dabei den Unwissenden zu spielen. Das sollte mir schwerer fallen als das jahrelange Vortäuschen eines kindlichen Bettnässens. Galt es beim Bettnässen doch, allmorgendlich einen Mangel zu demonstrieren, der mir im Grunde entbehrlich gewesen wäre.
Den Unwissenden spielen, hieß jedoch für mich, mit meinen rapiden Fortschritten hinter dem Berg zu halten, einen ständigen Kampf mit beginnender intellektueller Eitelkeit zu führen. Daß die Erwachsenen in mir einen Bettnässer sahen, nahm ich innerlich achselzuckend hin, daß ich ihnen aber jahraus, jahrein als Dummerjan herhalten mußte, kränkte Oskar und auch seine Lehrerin.
Gretchen begriff, sobald ich. die Bücher aus der Babywäsche gerettet hatte, auf der Stelle und heiter jauchzend ihren Lehrberuf. Es gelang mir, die gänzlich verstrickte Kinderlose aus ihrer Wolle zu locken und beinahe glücklich zu machen. Eigentlich hätte sie es lieber gesehen, wenn ich Soll und Haben zu meinem Schulbuch gemacht hätte; aber ich bestand auf Rasputin und wollte Rasputin, als sie zur zweiten Unterrichtsstunde ein richtiges Büchlein für ABC-Schüt-zen gekauft hatte, und entschloß mich endlich zum Sprechen, als sie mir immer wieder mit Bergbauerromanen, Märchen wie Zwerg Nase und Däumeling kam. »Rapupin!« schrie ich oder auch: »Rasdvuschin!« Zeitweilig tat ich ganz und gar albern: »Raschu, Raschu!« hörte man Oskar plappern, damit das Gretchen einerseits begriff, welche Lektüre mir angenehm war, andererseits aber im unklaren blieb über sein erwachendes, Buchstaben pickendes Genie.
Ich lernte rasch, regelmäßig, ohne mir viel dabei zu denken. Nach einem Jahr fühlte ich mich in Petersburg, in den Privatgemächern des Selbstherrschers aller Russen, im Kinderzimmer des immer kränklichen Zarewitsch, zwischen Verschwörern und Popen und nicht zuletzt als Augenzeuge Rasputinscher Orgien wie zu Hause. Das hatte ein mir zusagendes Kolorit, da ging es um eine zentrale Figur. Das sagten auch die im Buch verstreuten zeitgenössischen Stiche, die den bärtigen Rasputin mit den Kohleaugen inmitten schwarze Strümpfe tragender, sonst nackter Damen zeigte. Rasputins Tod ging mir nach: man hat ihn mit vergifteter Torte, vergiftetem Wein vergiftet, dann, als er mehr von der Torte wollte, mit Pistolen erschossen, und als ihn das Blei in der Brust tanzlustig stimmte, gefesselt und in einem Eisloch der Newa versenkt. Das taten alles männliche Offiziere. Die Damen der Metropole Petersburg hätten ihrem Väterchen Rasputin niemals giftige Torte, sonst aber alles gegeben, was er von ihnen verlangte. Die Frauen glaubten an ihn, während die Offiziere ihn erst aus dem Weg räumen mußten, um wieder an sich selbst glauben zu können.
War es ein Wunder, daß nicht nur ich Gefallen am Leben und Ende des athletischen Gesundbeters fand? Das Gretchen tastete sich wieder zur Lektüre ihrer ersten Ehejahre zurück, löste sich während des lauten Vorlesens gelegentlich auf, zitterte, wenn das Wörtchen Orgie fiel, hauchte das Zauberwort Orgie besonders, war, wenn sie Orgie sagte, zur Orgie bereit und konnte sich dennoch unter einer Orgie keine Orgie vorstellen.
Schlimm wurde es, wenn Mama in den Kleinhammerweg mitkam und in der Wohnung über der Bäckerei meinem Unterricht beiwohnte. Das artete manchmal zur Orgie aus, das wurde Selbstzweck und kein Unterricht für Klein-Oskar mehr, das gab bei jedem dritten Satz zweistimmiges Gekicher, das ließ die Lippen trocken und rissig werden, das rückte die beiden verheirateten Frauen, wenn Rasputin es nur wollte, immer näher zusammen, das machte sie unruhig auf Sofakissen, das brachte sie auf den Gedanken, die Schenkel zusammenzupressen, da wurde aus anfänglichem Gekalber schlußendliches Seufzen, da hatte man nach zwölf Seiten Rasputinlektüre, was man vielleicht gar nicht gewollt, kaum erwartet hatte, aber am hellen Nachmittag gerne mitnahm, wogegen Rasputin sicher nichts einzuwenden gehabt hätte, was er vielmehr gratis und bis in alle Ewigkeit austeilen wird.
Schließlich, wenn beide Frauen achgottachgott gesagt hatten und sich verlegen in den verrutschten Frisuren nestelten, gab Mama zu bedenken: »Ob Oskarchen auch wirklich nichts davon versteht?«
»Aber wo doch«, beschwichtigte dann das Gretchen, »ich geb' mir ja soviel Mühe, aber er lernt und lernt nich', und Lesen wird er wohl nie lernen.«
Um von meiner durch nichts zu erschütternden Unwissenheit Zeugnis abzulegen, fügte sie noch dazu:
»Stell dir nur vor, Agnes, die Seiten reißt er aus unserem Rasputin raus, zerknüllt sie und nachher sind sie weg. Manchmal möcht' ich es aufgeben. Aber wenn ich dann seh', wie glücklich er ist überm Buch, laß ich ihn reißen und kaputtmachen. Ich hab Alex schon gesagt, er soll uns'n neuen Rasputin auf Weihnachten schenken.«
Es gelang mir also — Sie werden es bemerkt haben — nach und nach, im Verlauf von drei oder vier Jahren — so lange und noch länger unterrichtete mich das Gretchen Scheffler — über die Hälfte der Buchseiten aus dem Rasputin herauszutrennen, vorsichtig, dabei Mutwillen vortäuschend, zu zerknüllen, um dann hinterher, zu Hause, in meiner Trommlerecke, die Blätter unter dem Pullover hervorzuziehen, sie geglättet und gestapelt zur heimlichen, von Frauen ungestörten Lektüre zu verwenden. Ähnlich verfuhr ich mit dem Goethe, den ich anläßlich jeder vierten Unterrichtsstunde, »Döte« rufend, dem Gretchen abforderte. Allein auf Rasputin wollte ich mich nicht verlassen, denn allzubald wurde mir klar, daß auf dieser Welt jedem Rasputin ein Goethe gegenübersteht, daß Rasputin Goethe oder der Goethe einen Rasputin nach sich zieht, sogar erschafft, wenn es sein muß, um ihn hinterher verurteilen zu können.
Wenn Oskar mit seinem ungebundenen Buch auf dem Dachboden oder im Schuppen des alten Herrn Heilandt hinter Fahrradgestellen hockte und die losen Blätter der Wahlverwandtschaften mit einem Bündel Rasputin mischte, wie man Karten mischt, las er das neu entstandene Buch mit wachsendem, aber gleichwohl lächelndem Erstaunen, sah Ottilie züchtig an Rasputins Arm durch mitteldeutsche Gärten wandeln und Goethe mit einer ausschweifend adligen Olga im Schlitten sitzend durchs winterliche Petersburg von Orgie zu Orgie schlittern.
Doch noch einmal zurück in meine Schulstube am Kleinhammerweg. Das Gretchen hatte, auch wenn ich keine Fortschritte zu machen schien, die mädchenhafteste Freude an mir. Sie blühte in meiner Nähe, auch unter der segnenden, zwar unsichtbaren, aber dennoch behaarten Hand des russischen Gesundbeters mächtig, selbst ihre Zimmerlinden und Kakteen mitreißend, auf. Hätte der Scheffler nur in jenen Jahren dann und wann die Finger aus dem Mehl gezogen und die Semmeln der Backstube gegen ein anderes Semmelchen vertauscht. Das Gretchen hätte sich gerne von ihm kneten, walken, einpinseln und backen lassen. Wer weiß, was aus dem Ofen herausgekommen wäre? Am Ende etwa doch noch ein Kindchen. Es wäre dem Gretchen diese Backfreude zu gönnen gewesen.
So aber saß sie nach angeregtester Rasputinlektüre mit feurigem Auge und leicht wirrem Haar da, bewegte ihre Gold-und Pferdezähne, hatte aber nichts zu beißen, sagte achgottachgott und meinte den uralten Sauerteig. Da Mama, die ja ihren Jan hatte, dem Gretchen nicht helfen konnte, hätten die Minuten nach diesem Teil meines Unterrichtes leicht unglücklich enden können, wenn das Gretchen nicht ein so fröhliches Herz gehabt hätte.
Schnell sprang sie dann in die Küche, kam mit der Kaffeemühle wieder, nahm die wie einen Liebhaber, sang, während der Kaffee zu Schrot wurde, wehmütig leidenschaftlich und von Mama unterstützt »Schwarze Augen« oder »Der rote Sarafan«, nahm die schwarzen Augen in die Küche mit, setzte dort Wasser auf, lief, während sich das Wasser auf der Gasflamme erhitzte, hinunter in die Bäckerei, holte dort, oft gegen Schefflers Einspruch, Frisch-und Altgebackenes, deckte das Tischchen mit geblümten Sammeltassen, Sahnekännchen, Zuckerdöschen, Kuchengabeln und streute Stiefmütterchen dazwischen, goß dann den Kaffee ein, lenkte zu Melodien aus dem »Zarewitsch« über, reichte Liebesknochen, Bienenstiche, Es steht ein Soldat am Wolgastrand, und mit Mandelsplittern gespickten Frankfurter Kranz, Hast du dort droben viel Englein bei dir," auch Baiser mit Schlagsahne so süß, so süß; und kauend kam man wieder, doch jetzt mit dem nötigen Abstand, auf Rasputin zu sprechen, konnte sich alsbald, nach kurzer, kuchengesättigter Zeit ehrlich über die so schlimme und abgrundtiefverdorbene Zarenzeit entrüsten.