Doch manchmal geht er wieder zu Wasser, schwimmt zurück, taucht hier unter, wo er erstmals als Brandstifter Schutz gefunden und seinen Teil zu meiner Mama spendete.«
»Doch jener schöne Herr, der sich bis jetzt hinter der Dame, die meine Großmutter ist, versteckt hielt, der sich jetzt neben sie setzt und ihre Hände mit seinen Händen streichelt? Er hat genau so blaue Augen wie du, Papa!«
Da hätte ich allen Mut zusammennehmen müssen, um als schlechter, verräterischer Sohn meinem braven Kinde antworten zu können: »Das sind die wunderbaren blauen Augen der Bronskis, die dich, mein Kurtchen anschauen. Dein Blick ist zwar grau. Den hast du von deiner Mutter. Dennoch bist du genau wie jener Jan, der meiner armen Mama die Hände küßt, wie dessen Vater Vinzent ein durch und durch wunderbarer, dennoch kaschubisch realer Bronski. Eines Tages kehren auch wir dorthin zurück, gehen der Quelle nach, die den leicht ranzigen Buttergeruch verbreitet. Freue dich!«
Erst im Inneren meiner Großmutter Koljaiczek oder, wie ich es scherzhaft nannte, im großmütterlichen Butterfaß wäre es meinen damaligen Theorien nach zu einem wahren Familienleben gekommen.
Selbst heute, da ich Gottvater, den eingeborenen Sohn und, was noch wichtiger ist, den Geist höchstpersönlich mit einem einzigen Daumensprung erreiche und gar überspringe, da ich der Nachfolge Christi, wie all meinen anderen Berufen, mit Unlust verpflichtet bin, male ich mir, dem nichts unerreichbarer geworden ist als der Eingang zu meiner Großmutter, die schönsten Familienszenen im Kreis meiner Vorfahren aus.
So stelle ich mir besonders an Regentagen vor: meine Großmutter verschickt Einladungen, und wir treffen uns in ihr. Jan Bronski kommt, hat sich Blumen, Nelken etwa, in die Einschußlöcher seiner polnischen Postverteidigerbrust gesteckt. Maria, die auf meine Empfehlung hin eine Einladung bekommen hat, nähert sich schüchtern meiner Mama, zeigt ihr, um Gunst werbend, jene von Mama begonnenen, von Maria tadellos weitergeführten Geschäftsbücher, und Mama schlägt ihre kaschubischste Lache an, zieht meine Geliebte an sich und sagt, ihr die Wange küssend, mit dem Auge zwinkernd: »Abä Marjellchen, wä wird sich da ain Jewissen machen. Haben wä doch alle baide ainen Matzerath jehairatet und ainen Bronski jenährt!«
Weitere Gedankengänge, wie etwa die Spekulation auf einen von Jan gezeugten, von meiner Mama im Inneren der Großmutter Koljaiczek ausgetragenen und schließlich in jenem Butterfäßchen geborenen Sohn, muß ich mir streng verbieten. Denn sicher zöge dieser Fall einen weiteren Fall nach sich. Da käme womöglich mein Halbbruder Stephan Bronski, der schließlich auch in diesen Kreis gehört, auf die Bronskiidee, zuerst ein Auge, alsbald noch mehr auf meine Maria zu werfen. Da beschränkt sich meine Einbildungskraft lieber auf ein harmloses Familientreffen. Da verzichte ich auf einen dritten und vierten Trommler, lasse es mit Oskar und Kurtchen genug sein, erzähle auf meinem Blech den Anwesenden etwas über jenen Eiffelturm, der mir in fremden Landen die Großmutter ersetzte, und freue mich, wenn die Gäste, einschließlich der einladenden Anna Koljaiczek, an unseren Trommeln Spaß haben und sich gegenseitig, dem Rhythmus gehorchend, aufs Knie schlagen.
So verführerisch es ist, im Inneren der eigenen Großmutter die Welt und ihre Bezüge zu entfalten, auf beschränkter Ebene vielschichtig zu sein, muß Oskar nun — da er gleich Matzerath nur ein mutmaßlicher Vater ist — sich wieder an die Begebenheiten des zwölften Juni vierundvierzig, an Kurtchens dritten Geburtstag halten.
Noch einmal: einen Pullover, einen Ball, ein Segelschiff, Peitsche und Brummkreisel bekam der Knabe und sollte von mir noch eine weißrot gelackte Blechtrommel dazu bekommen. Kaum war er mit dem Abtakeln des Segelschiffes fertig, da näherte sich Oskar, hielt das blecherne Geschenk hinter seinem Rücken verborgen, ließ sein gebrauchtes Blech unterm Bauch baumeln. Auf ein Schrittchen standen wir uns gegenüber: Oskar, der Dreikäsehoch; Kurt, der zwei Zentimeter größere Dreikäsehoch. Er machte ein wildböses Kneifgesicht — war wohl noch bei der Zerstörung des Segelschiffes — und zerbrach just in dem Augenblick, da ich die Trommel hervorzog, hochhielt, den letzten Mast der »Pamir«; so hieß der Windjammer.
Kurt ließ das Wrack fallen, nahm die Trommel an, hielt sie, drehte sie und kam dabei zu etwas ruhigeren, doch immer noch gespannten Gesichtszügen. Nun war es an der Zeit, ihm die Trommelstöcke hinzuhalten. Leider mißverstand er die doppelte Bewegung, fühlte sich bedroht, schlug mir mit dem Blechrand die Hölzer aus den Fingern, griff, als ich mich nach den Knüppeln bücken wollte, hinter sich, traf mich, da ich die Stöcke hatte und ihm ein zweites Mal anbot, mit seinem Geburtstagsgeschenk: mich, nicht den Brummkreisel, Oskar traf er, nicht den Kreisel, der dafür gerillt war, seinem Vater wollte er's Brummen und Kreiseln beibringen, peitschte mich, dachte sich, wart' Brüderchen; so peitschte Kain den Abel, bis Abel sich drehte, torkelnd noch, dann immer hurtiger und exakter, anfangs dunkel, aus unwirschem Gebrumm schon zu höherem Singen findend, das Brummkreiselliedchen sang. Und immer höher hinauf lockte mich Kain mit der Peitsche, da hatte ich Kreide in der Stimme, da ließ ein Tenor sein Morgengebet fließen, so mögen aus Silber getriebene Engel singen, die Wiener Sängerknaben, gedrillte Kastraten - und Abel mag so gesungen haben, bevor er zurückfiel, wie dann auch ich unter der Peitsche des Knaben Kurt zusammensackte.
Als er mich so, elend nachbrummend, liegen sah, traf er noch mehrmals, als hätte sein Arm nicht genug gehabt, die Zimmerluft. Auch behielt er mich während der eingehenden Untersuchung der Trommel mißtrauisch im Auge. Zuerst wurde der weißrote Lack gegen eine Stuhlkante geschlagen, dann fiel das Geschenk auf die Dielen, und Kurtchen suchte und fand den massiven Rumpf des ehemaligen Segelschiffes. Mit diesem Holz schlug er die Trommel. Er trommelte nicht, er zerschlug die Trommel. Keinen noch so einfachen Rhythmus versuchte seine Hand. Monoton gleichmäßig hieb er unter starr angestrengter Miene auf ein Blech, das solch einen Trommler nicht erwartet hatte, das zwar leichteste Stöcke, spielend gewirbelt, doch nicht die Rammstöße eines klobigen Wrackes vertrug.
Die Trommel knickte, wollte ausweichen, indem sie sich aus den Fassungen löste, wollte sich unsichtbar machen, indem sie weißen und roten Lack aufgab und graublaues Blech um Mitleid bitten ließ. Es zeigte sich jedoch der Sohn dem Geburtstagsgeschenk des Vaters gegenüber unerbittlich. Und als der Vater noch einmal vermitteln wollte und trotz vieler und gleichzeitiger Schmerzen über den Teppich zum Sohn auf den Dielen hinstrebte, trat wieder die Peitsche dazwischen: diese Dame kannte der müde Kreisel, gab das Kreiseln und Brummen auf, und auch die Trommel verzichtete endgültig auf einen empfindsamen, spielerisch wirbelnden, zwar kräftig, doch nicht brutal die Stöcke mischenden Trommler.
Als Maria eintrat, gehörte die Trommel dem Schrott an. Sie nahm mich auf den Arm, küßte meine geschwollenen Augen, das aufgerissene Ohr, leckte mein Blut und meine gestriemten Hände.
Oh, hätte Maria doch nicht nur das mißhandelte, zurückgebliebene, bedauernswert abnormale Kind geküßt! Hätte sie doch den geschlagenen Vater erkannt und in jeder Wunde den Geliebten. Was für ein Trost, was für ein heimlicher und wahrer Gatte hätte ich ihr während der folgenden düsteren Monate sein können.
Da traf es zuerst — und Maria nicht unbedingt angehend — meinen Halbbruder, den gerade zum Leutnant beförderten Stephan Bronski, der zu jenem Zeitpunkt schon nach seinem Stiefvater Ehlers hieß, an der Eismeerfront plötzlich, was seine Offizierslaufbahn für immer in Frage stellte. Während Stephans Vater Jan anläßlich seiner Erschießung als Verteidiger der Polnischen Post auf dem Friedhof Saspe eine Skatkarte unter dem Hemd getragen hatte, schmückten das Eiserne Kreuz zweiter Klasse, das Infanterie-Sturmabzeichen und der sogenannte Gefrierfleischorden des Leutnants Rock.
Ende Juni bekam Mutter Truczinski einen leichten Schlaganfall, weil die Post ihr schlechte Nachricht gebracht hatte. Der Unteroffizier Fritz Truczinski war für drei Dinge gleichzeitig gefallen: für Führer, Volk und Vaterland. Das geschah im Mittelabschnitt, und Fritzens Brieftasche mit den Fotos hübscher, zumeist lachender Mädchen aus Heidelberg, Brest, Paris, Bad Kreuznach und Saloniki, sowie die Eisernen Kreuze erster und zweiter Klasse, ich weiß nicht mehr, welches Verwundetenabzeichen, die bronzene Nahkampfspange und die zwei abgetrennten Panzerknackerläppchen, auch einige Briefe schickte ein Hauptmann, namens Kanauer, vom Mittelabschnitt direkt nach Langfuhr in den Labesweg.
Matzerath half, so gut er konnte, und Mutter Truczinski ging es bald besser, wenn auch nie mehr gut.
Sie saß fest im Stuhl am Fenster, wollte von mir und Matzerath, der zwei-bis dreimal am Tag herauf kam und etwas mitbrachte, wissen, wo das nun eigentlich liege: »Mittelabschnitt?« Ob das weit sei und ob man da mit der Bahn über Sonntag hinfahren könne.
Matzerath konnte bei allem guten Willen keine Auskunft geben. So blieb es mir, der ich mich an Sondermeldungen und Wehrmachtsberichten geografisch gebildet hatte, an langen Nachmittagen überlassen, der festsitzenden, dennoch mit dem Kopf wackelnden Mutter Truczinski einige Versionen des immer beweglicher werdenden Mittelabschnittes vorzutrommeln.
Maria jedoch, die dem flotten Fritz sehr anhing, wurde fromm. Anfangs, den ganzen Juli hindurch, versuchte sie es noch mit ihrer gelernten Religion, ging sonntags zum Pfarrer Hecht in die Christuskirche, und Matzerath begleitete sie manchmal, obgleich sie lieber alleine ging.
Es wollte der protestantische Gottesdienst der Maria nicht reichen. Mitten in der Woche — war es ein Donnerstag, war es ein Freitag? — noch vor Geschäftsschluß, Matzerath den Laden überlassend, nahm Maria mich, den Katholiken, bei der Hand, wir gingen Richtung Neuer Markt, bogen dann in die Eisenstraße ein, in die Marienstraße, beim Fleischer Wohlgemuth vorbei, bis zum Kleinhammerpark — schon dachte Oskar, es geht zum Bahnhof Langfuhr, wir machen eine kleine Reise, womöglich nach Bissau in die Kaschubei — als wir links einschwenkten, vor der Bahndammunterführung aus Aberglauben erst einen Güterzug abwarteten, dann durch die Unterführung, in der es ekelhaft tropfte, hindurchfanden und nicht geradeaus zum Filmpalast strebten, sondern links am Bahndamm lang unseren Weg nahmen. Ich kalkulierte: entweder schleppt sie mich zum Brunshöferweg in die Praxis des Dr. Hollatz oder sie will konvertieren, will in die Herz-Jesu-Kirche.
Die sah mit dem Portal gegen den Bahndamm. Zwischen Bahndamm und offenem Portal blieben wir stehen. Später Augustnachmittag mit Gesumm in der Luft. Hinter uns auf dem Schotter, zwischen den Gleisen hackten und schaufelten Ostarbeiterinnen mit weißen Kopftüchern. Wir standen und guckten in den schattigen, kühlatmenden Kirchenbauch: ganz hinten, geschickt verlockend, ein heftig entzündetes Auge — das ewige Licht. Hinter uns auf dem Bahndamm stellten die Ukrainerinnen das Schaufehl und Hacken ein. Ein Horn tutete, ein Zug nahte, kam, war da, immer noch da, noch nicht vorbei, dann weg, und Horn tutete, Ukrainerinnen schaufelten. Maria war unschlüssig, wußte wohl nicht, welchen Fuß sie vorsetzen sollte, bürdete mir, dem die alleinseligmachende Kirche von Geburt und Taufe her näher stand, die Verantwortung auf; Maria überließ sich seit Jahren, seit jenen zwei Wochen voller Brausepulver und Liebe, wieder einmal Oskars Führung.
Da ließen wir den Bahndamm und seine Geräusche, August und Augustgebrumm draußen. Etwas wehmütig, mit den Fingerspitzen auf meiner Trommel unter dem Kittel dröselnd, das Gesicht jedoch sich selbst und dem Gleichmut überlassend, erinnerte ich mich der Messen, Pontifikalämter, Vesperandachten und sonnabendlichen Beichten an der Seite meiner armen Mama, die kurz vor ihrem Tode durch allzu heftigen Verkehr mit Jan Bronski fromm wurde, sich Sonnabend für Sonnabend leicht beichtete, sonntags mit dem Sakrament stärkte, um so erleichtert und gestärkt zugleich am folgenden Donnerstag dem Jan in der Tischlergasse zu begegnen. Wie hieß doch Hoch würden damals? Hochwürden hieß Wiehnke, war immer noch Pfarrherr der Herz-Jesu-Kirche, predigte angenehm leise und unverständlich, sang das Credo so dünn und weinerlich, daß selbst mich damals so etwas wie Glauben beschlichen hätte, hätte es nicht jenen linken Seitenaltar mit der Jungfrau, dem Jesusknaben und dem Täuferknaben gegeben.
Dennoch war es jener Altar, der mich bewog, Maria aus dem Sonnenschein ins Portal, dann über die Fliesen ins Kirchenschiff zu ziehen.
Oskar nahm sich Zeit, saß ruhig und immer kühler werdend neben Maria im Eichengestühl. Jahre waren vergangen, und dennoch wollte mir vorkommen, als warteten noch immer dieselben Leute, planvoll im Beichtspiegel blätternd, auf Hochwürden Wiehnkes Ohr. Wir saßen etwas abseits, mehr zum Mittelschiff hin. Ich wollte Maria die Wahl lassen und erleichtern. Einerseits war sie dem Beichtstuhl nicht auf verwirrende Weise zu nahe, konnte also auf stille inoffizielle Art konvertieren, andererseits sah sie, wie es vor dem Beichten zuging, konnte also beobachtend zum Entschluß kommen, auch in den Kasten zu Hochwürdens Ohr finden und mit ihm Einzel-heilen ihres Übertrittes zur Alleinseligmachenden besprechen. Sie tat mir leid, wie sie so klein und mit noch ungeschickten Händen unter dem Geruch, Staub, Stuck, unter gewundenen Engeln, gebrochenem Licht, zwischen verkrampften Heiligen, vor, unter und zwischen süß schmerzensreichem Katholizismus kniete und zum erstenmal verkehrt herum das Kreuzzeichen schlug. Oskar tippte Maria an, machte es ihr richtig vor, zeigte der Lernbegierigen, wo hinter ihrer Stirn, wo tief in ihrer Brust, wo genau in ihren Schultergelenken Vater, Sohn und Heiliger Geist wohnen, auch wie man die Hände falten muß, um es zum Amen bringen zu können. Maria gehorchte, ließ die Hände dann im Amen ruhen und begann, aus dem Amen heraus zu beten.
Anfangs versuchte auch Oskar, betend einiger Verstorbener zu gedenken, verlor sich aber, als er für seine Roswitha zum Herrn flehte, ihr ewige Ruh und Eingang in die himmlischen Freuden erhandeln wollte, dergestalt in Einzelheiten irdischer Art, daß sich ewige Ruhe und himmlische Freuden schließlich in einem Pariser Hotel angesiedelt fanden. Da rettete ich mich in die Präfation, weil es dort einigermaßen unverbindlich zugeht, sagte von Ewigkeit zu Ewigkeit, sursum corda, dignum et justum — das ist würdig und recht, ließ es damit genug sein und beobachtete Maria von der Seite.
Das katholische Beten stand ihr. Sie sah hübsch und malenswert in ihrer Andacht aus. Das Beten verlängert die Wimpern, zieht die Augenbrauen nach, heizt die Wangen ein, macht die Stirn schwer, den Hals biegsam und bewegt die Nasenflügel. Fast hätte mich Marias schmerzlich aufblühendes Gesicht zu Annäherungsversuchen verführt. Doch soll man Betende nicht stören, Betende weder verführen noch sich selbst durch Betende verführen lassen, auch wenn es Betenden angenehm und fürs Gebet förderlich ist, einem Beobachter betrachtenswert zu sein.