Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (48 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Da lagen auf den Stufen des Podestes einige Astern, auch, unpassend, Petersilienstengel.

Wahrscheinlich waren ihm beim Streuen die Blumen ausgegangen, da er die meisten Astern, auch einige Rosen zum Bekränzen jener vier Bildchen verschwendet hatte, die an den vier Hauptbalken des Gerüstes hingen. Links vorne hing hinter Glas Sir Baden-Powell, der Gründer der Pfadfinder. Links hinten, ungerahmt, der heilige Sankt Georg. Rechts hinten, ohne Glas, der Kopf des David von Michelangelo. Gerahmt und verglast lächelte am rechten vorderen Pfosten das Foto eines vielleicht sechzehnjährigen, ausdrucksvoll hübschen Knaben. Eine frühe Aufnahme seines Lieblings Horst Donath, der als Leutnant am Donez fiel.

Vielleicht erwähne ich noch die vier Fetzen Papier auf den Podeststufen zwischen Astern und Petersilie. Sie lagen so, daß man sie mühelos zusammensetzen konnte. Das tat Oskar, und er entzifferte eine Vorladung vors Gericht, der man den Stempel der Sittenpolizei mehrmals aufgedrückt hatte.

So bleibt mir noch zu berichten, daß mich damals der aufdringliche Ruf des Unfallwagens aus den Betrachtungen über den Tod eines Gemüsehändlers weckte. Gleich darauf stolperten sie die Treppe herab, das Podest hinauf und legten Hand an den hängenden Greff. Kaum jedoch, daß sie den Händler gelüpft hatten, fielen und stürzten die das Gegengewicht bildenden Kartoffelkörbe: ähnlich wie "bei der Trommelmaschine, begann ein freigewordener Mechanismus zu arbeiten, den Greff geschickt oberhalb des Gerüstes mit Sperrholz verkleidet hatte. Während unten die Kartoffeln übers und vom Podest auf den Betonboden polterten, schlug es oben auf Blech, Holz, Bronze, Glas, hämmerte oben ein entfesseltes Trommlerorchester Albrecht Greffs großes Finale.

Es gehört heute zu Oskars schwierigsten Aufgaben, die Geräusche der Kartoffellawine — an der sich übrigens einige Sanitäter bereicherten — den organisierten Lärm der Greffschen Trommelmaschine auf seinem Blech nachhallen zu lassen. Wahrscheinlich weil meine Trommel die Gestaltung des Greffschen Todes entschieden beeinflußte, gelingt es mir manchmal, ein abgerundetes, Greffs Tod übersetzendes Trommelstück auf Oskars Blech zu legen, das ich, von Freunden und dem Pfleger Bruno nach dem Titel befragt, Fünfundsiebenzig Kilo nenne.

BEBRAS FRONTTHEATER

Mitte Juni zweiundvierzig wurde mein Sohn Kurt ein Jahr alt. Oskar, der Vater, nahm das gelassen hin, dachte sich: noch zwei Jährchen. Im Oktober zweiundvierzig erhängte sich der Gemüsehändler Greff an einem so formvollendeten Galgen, daß ich, Oskar, fortan den Selbstmord zu den erhabenen Todesarten zählte. Im Januar dreiundvierzig sprach man viel von der Stadt Stalingrad. Da Matzerath jedoch den Namen dieser Stadt ähnlich betonte, wie er zuvor Pearl Harbour, Tobruk und Dünkirchen betont hatte, schenkte ich den Ereignissen in jener fernen Stadt nicht mehr Aufmerksamkeit als anderen Städten, die mir durch Sondermeldungen bekannt wurden; denn für Oskar waren Wehrmachtsberichte und Sondermeldungen eine Art Geografieunterricht. Wie hätte ich sonst auch erfahren können, wo die Flüsse Kuban, Mius und Don fließen, wer hätte mir besser die geografische Lage der Aleuteninseln Atu, Kiska und Adak erläutern können als ausführliche Radioberichte über die Ereignisse im Fernen Osten. So lernte ich also im Januar dreiundvierzig, daß die Stadt Stalingrad an der Wolga liegt, sorgte mich aber weniger um die sechste Armee, vielmehr um Maria, die zu jener Zeit eine leichte Grippe hatte.

Während Marias Grippe abklang, setzten die im Radio ihren Geografieunterricht fort: Rzev und Demjansk sind für Oskar heute noch Ortschaften, die er sofort und blindlings auf jeder Karte Sowjetrußlands findet. Kaum war Maria genesen, bekam mein Sohn Kurt den Keuchhusten. Während ich versuchte, mir die schwierigsten Namen einiger heißumkämpfter Oasen Tunesiens zu merken, fand mit dem Afrikakorps auch Kurtchens Keuchhusten sein Ende.

Oh Wonnemonat Mai: Maria, Matzerath und Gretchen Scheffler bereiteten Kurtchens zweiten Geburtstag vor. Auch Oskar maß dem bevorstehenden Festtag größere Bedeutung bei; denn vom zwölften Juni dreiundvierzig an brauchte es nur noch ein Jährchen. Ich hätte also, wäre ich anwesend gewesen, an Kurtchens zweitem Geburtstag meinem Sohn ins Ohr flüstern können: »Warte nur, balde trommelst auch du.« Es begab sich aber, daß Oskar am zwölften Juni dreiundvierzig nicht in Danzig-Langfuhr weilte, sondern in der alten Römerstadt Metz. Ja, es zog sich seine Abwesenheit so in die Länge, daß er Mühe hatte, am zwölften Juni vierundvierzig rechtzeitig genug, um Kurtchens dritten Geburtstag mitfeiern zu können, die vertraute, immer noch nicht bombenbeschädigte Heimatstadt zu erreichen.

Welche Geschäfte führten mich fort? Ohne jeden Umschweif sei hier erzählt: Vor der Pestalozzischule, die man in eine Luftwaffenkaserne verwandelt hatte, traf ich meinen Meister Bebra.

Doch Bebra alleine hätte mich nicht zur Reise überreden können. An Bebras Arm hing die Raguna, die Signora Roswitha, die große Somnambule.

Oskar kam vom Kleinhammerweg. Er hatte dem Gretchen Scheffler einen Besuch abgestattet, hatte ein bißchen im »Kampf um Rom« geschmökert, hatte herausgefunden, daß es schon damals, zu Belisars Zeiten, wechselvoll zuging, daß man auch damals schon, geografisch recht weiträumig, Siege und Niederlagen an Flußübergängen und Städten feierte oder einsteckte.

Ich überquerte die Fröbelwiese, die man während der letzten Jahre zu einem Barackenlager der OT gemacht hatte, war mit den Gedanken bei Taginae — im Jahre fünfhundertzweiundfünfzig schlug dort Narses den Totila — doch nicht des Sieges wegen weilten meine Gedanken bei dem großen Armenier Narses, vielmehr hatte es mir die Figur des Feldherrn angetan; verwachsen, bucklig war Narses, klein war Narses, ein Zwerg, Gnom, Liliputaner war Narses. Vielleicht war Narses ein Kinderköpfchen größer als Oskar, überlegte ich und stand vor der Pestalozzischule, sah einigen zu schnell gewachsenen Luftwaffenoffizieren vergleichsweise auf die Ordensschnallen, sagte mir, Narses trug gewiß keine Orden, das hatte der nicht nötig; da stand mitten im Hauptportal der Schule jener große Feldherr persönlich, eine Dame hing an seinem Arm — warum sollte Narses keine Dame am Arm haben? — winzig neben den Luftwaffenriesen kamen sie mir entgegen, dennoch Mittelpunkt, von Historie umwittert, uralt zwischen lauter frischgebackenen Lufthelden — was bedeutete diese ganze Kaserne voller Totilas und Tejas,voller baumlanger Ostgoten gegen einen einzigen armenischen Zwerg namens Narses — und Narses näherte sich Schrittchen auf Schrittchen Oskar, winkte Oskar zu, und auch die Dame an seinem Arm winkte: Bebra und Signora Roswitha Raguna begrüßten mich — respektvoll wich uns die Luftwaffe aus — ich näherte meinen Mund Bebras Ohr, flüsterte: »Lieber Meister, ich hielt Sie für den großen Feldherrn Narses, den ich weit höher einschätze als den Kraftmeier Belisar.«

Bescheiden winkte Bebra ab. Doch die Raguna fand Gefallen an meinem Vergleich. Wie schön sie den Mund beim Sprechen zu bewegen wußte: »Ich bitte dich Bebra, hat er so unrecht, unser junger Amico? Fließt in deinen Adern nicht das Blut des Prinzen Eugen? E Lodovico quattordicesimo? Ist er nicht dein Vorfahr?«

Bebra nahm meinen Arm, führte mich beiseite, da die Luftwaffe uns unentwegt bewunderte und lästig werdend anstarrte. Als schließlich ein Leutnant und gleich darauf zwei Unteroffiziere vor Bebra Haltung annahmen — der Meister trug an der Uniform die Rangabzeichen eines Hauptmanns, am Ärmel einen Streifen mit der Inschrift Propagandakompanie — als die ordensgeschmückten Burschen von der Raguna Autogramme erbaten und auch bekamen, winkte Bebra seinen Dienstwagen herbei, wir stiegen ein und mußten uns noch beim Abfahren den begeisterten Applaus der Luftwaffe gefallen lassen.

Pestalozzistraße, Magdeburger Straße, Heeresanger fuhren wir. Bebra saß neben dem Fahrer. Schon auf der Magdeburger Straße nahm die Raguna meine Trommel zum Anlaß. »Immer noch sind Sie Ihrer Trommel treu, bester Freund?« flüsterte sie mit ihrer Mittelmeerstimme, die ich so lange nicht gehört hatte. »Und wie steht es sonst mit der Treue?« Oskar blieb ihr die Antwort schuldig, verschonte sie mit seinen langwierigen Frauengeschichten, erlaubte aber lächelnd, daß die große Somnambule zuerst seine Trommel, dann seine Hände, die das Blech etwas krampfhaft umklammert hielten, streichelten, immer südlicher streichelten.

Als wir in den Heeresanger einbogen und den Straßenbahnschienen der Linie Fünf folgten, gab ich ihr sogar Antwort, das heißt, ich streichelte mit der Linken ihre Linke, während sie mit ihrer Rechten meiner Rechten zärtlich war. Schon waren wir über den Max-Halbe-Platz hinweg, Oskar konnte nicht mehr aussteigen, da erblickte ich im Rückspiegel des PKW's Bebras kluge, hellbraune, uralte Augen, die unsere Streichelei beobachteten. Doch die Raguna hielt meine Hände, die ich ihr, um den Freund und Meister zu schonen, entziehen wollte. Bebra lächelte im Rückspiegel, nahm dann seinen Blick fort, begann ein Gespräch mit dem Fahrer, während Roswitha ihrerseits, mit Händen heiß drückend und streichelnd, mit dem Mittelmeermund ein Gespräch begann, das süß und direkt mich meinte, Oskar ins Ohr floß, dann wieder sachlich wurde, um hinterher um so süßer all meine Bedenken und versuchten Fluchtversuche zu verkleben. Reichskolonie, Richtung Frauenklinik fuhren wir, und die Raguna gestand Oskar, daß sie immer an ihn gedacht habe während all der Jahre, daß sie das Glas aus dem Cafe Vierjahreszeiten, das ich damals mit einer Widmung besungen hatte, immer noch aufbewahre, daß Bebra zwar ein vortrefflicher Freund und ausgezeichneter Arbeitspartner sei, aber an Ehe könne man nicht denken; der Bebra müsse alleine bleiben, antwortete die Raguna auf eine Zwischenfrage von mir, sie lasse ihm alle Freiheit, und auch er, obgleich recht eifersüchtig von Natur, habe im Laufe der Jahre begriffen, daß man die Raguna nicht binden könne, zudem finde der gute Bebra als Leiter des Fronttheaters auch kaum Zeit, eventuellen ehelichen Pflichten nachzukommen, dafür sei aber das Fronttheater erste Klasse, mit dem Programm hätte man sich in Friedenszeiten im »Wintergarten« oder in der »Skala« sehen lassen können, ob ich, Oskar, nicht Lust verspüre, bei all meiner ungenutzten göttlichen Begabung, alt genug sei ich wohl dafür, ein Probejährchen, sie könne bürgen, aber ich, Oskar, habe wohl andere Verpflichtungen, nein? um so besser, man fahre heute ab, das sei die letzte Nachmittagsvorstellung im Wehrbezirk Danzig-Westpreußen gewesen, es gehe jetzt nach Lothringen, dann nach Frankreich, an Ostfront sei vorläufig nicht zu denken, das habe man gerade glücklich hinter sich, ich, Oskar, könne von Glück sprechen, daß der Osten passé sei, daß es jetzt nach Paris gehe, bestimmt gehe es nach Paris, ob mich, Oskar, schon einmal eine Reise nach Paris geführt habe. Na also, Amico, wenn die Raguna schon nicht Ihr hartes Trommlerherz verführen kann, dann lassen Sie sich von Paris verführen, andiamo!

Der Wagen stoppte beim letzten Wort der großen Somnambulen. In regelmäßigen Abständen, grün, preußisch die Bäume der Hindenburgallee. Wir stiegen aus, Bebra ließ den Fahrer warten, ins Cafe Vierjahreszeiten wollte ich nicht, da mein etwas wirrer Kopf nach frischer Luft verlangte. So ergingen wir uns im Steffenspark: Bebra an meiner Rechten, Roswitha an meiner Linken. Bebra erklärte mir Sinn und Zweck der Propagandakompanie. Roswitha erzählte mir Anekdotenen aus dem Alltag der Propagandakompanie. Bebra wußte von Kriegsmalern, Kriegsberichterstattern und von seinem Fronttheater zu plaudern. Roswitha ließ ihrem Mittelmeermund die Namen ferner Städte entspringen, von denen ich im Radio gehört hatte, wenn Sondermeldungen laut wurden. Bebra sagte Kopenhagen.

Roswitha hauchte Palermo. Bebra sang Belgrad. Roswitha klagte wie eine Tragödin: Athen. Beide zusammen aber schwärmten immer wieder von Paris, versprachen, daß jenes Paris alle anderen soeben genannten Städte aufwiegen könne, schließlich machte mir Bebra, fast möchte ich sagen, dienstlich und in aller Form als Leiter und Hauptmann eines Fronttheaters das Angebot: »Steigen Sie ein bei uns, junger Mann, trommeln Sie, zersingen Sie Biergläser und Glühbirnen! Die deutsche Besatzungsarmee im schönen Frankreich, im ewigjungen Paris wird Ihnen danken und zujubeln.«

Nur der Form halber bat Oskar um Bedenkzeit. Eine gute halbe Stunde schritt ich abseits der Raguna, abseits des Freundes und Meisters Bebra zwischen maigrünem Gebüsch, gab mich nachdenklich und gequält, rieb mir die Stirn, lauschte, was ich noch nie getan hatte, den Vöglein im Walde, tat so, als erwartete ich von irgendeinem Rotkehlchen Auskunft und Rat, und sagte, als im Grün etwas besonders laut und auffallend zirpte: »Die gute und weise Natur rät mir, Ihren Vorschlag, verehrter Meister, anzunehmen. Sie dürfen fortan in mir ein Mitglied Ihres Fronttheaters sehen!«

Wir gingen dann doch ins Vierjahreszeiten, tranken einen dünnblutigen Mokka und besprachen die Einzelheiten meiner Flucht, die wir aber nicht Flucht nannten, sondern Fortgang.

Vor dem Cafe wiederholten wir noch einmal alle Einzelheiten des geplanten Unternehmens. Dann verabschiedete ich mich von der Raguna und dem Hauptmann Bebra der Propagandakompanie, und je-ner ließ es sich nicht nehmen, mir sein Dienstauto zur Verfügung zu stellen. Während die beiden zu Fuß einen Bummel die Hindenburgallee hinauf in Richtung Stadt machten, fuhr mich der Fahrer des Hauptmanns, ein schon älterer Obergefreiter, zurück nach Langfuhr, bis zum Max-Halbe-Platz; denn in den Labesweg hinein wollte und konnte ich nicht: ein im Wehrmachts-Dienstauto vorfahrender Oskar hätte allzuviel und unzeitgemäßes Aufsehen erregt.

Viel Zeit blieb mir nicht. Ein Abschiedsbesuch bei Matzerath und Maria. Längere Zeit lang stand ich am Laufgitter meines Sohnes Kurt, fand auch, wenn ich mich recht erinnere, einige väterliche Gedanken, versuchte, den blonden Bengel zu streicheln, doch Kurtchen wollte nicht, dafür wollte Maria, die etwas erstaunt meine ihr seit Jahren ungewohnten Zärtlichkeiten entgegennahm und gutmütig erwiderte. Der Abschied von Matzerath fiel mir merkwürdigerweise schwer. Der Mann stand in der Küche und kochte Nierchen in Senfsoße, war ganz verwachsen mit seinem Kochlöffel, womöglich glücklich, und so wagte ich nicht, ihn zu stören. Erst als er hinter sich langte und mit blinder Hand auf dem Küchentisch etwas suchte, kam Oskar ihm zuvor, griff das Brettchen mit der gehackten Petersilie, reichte es ihm; — und ich nehme heute noch an, daß Matzerath lange, auch als ich nicht mehr in der Küche war, erstaunt und verwirrt das Brettchen mit der Petersilie gehalten haben muß; denn Oskar hatte dem Matzerath zuvor nie etwas gereicht, gehalten oder aufgehoben.

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