Die Blechtrommel (43 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

BOOK: Die Blechtrommel
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Das glaub ich noch heute, denn die Geschichte mit Matzerath passierte erst viel später, zwei Wochen, nein, zehn Tage nachdem ich die schlafende Maria im Bett ihres narbenreichen Bruders Herbert, angesichts der Feldpostkarten ihres jüngeren Bruders, des Obergefreiten, im dunklen Zimmer dann, zwischen Wänden und Verdunklungspapier geschwängert hatte, fand ich die nicht mehr schlafende, vielmehr betriebsam nach Luft schnappende Maria auf unserer Chaiselongue; unter dem Matzerath lag sie, und Matzerath lag auf ihr drauf.

Oskar trat, aus dem Hausflur, vom Dachboden kommend, wo er nachgedacht hatte, mit seiner Trommel im Wohnzimmer ein. Die beiden bemerkten mich nicht. Hatten die Köpfe in Richtung Kachelofen. Hatten sich nicht einmal richtig ausgezogen. Dem Matzerath hing die Unterhose in den Kniekehlen. Seine Hose häufte sich auf dem Teppich. Marias Kleid und Unterrock hatten sich über den Büstenhalter bis vor die Achseln gerollt. Die Schlüpfer schlingerten ihr am rechten Fuß, der mit dem Bein, häßlich verdreht, von der Chaiselongue hing. Das linke Bein lag abgeknickt, wie unbeteiligt, auf den Rückpolstern. Zwischen den Beinen Matzerath. Mit der rechten Hand drehte er ihr den Kopf weg, die andere Hand weitete ihre Öffnung und half ihm auf die Spur. Zwischen Matzeraths gespreizten Fingern hindurch stierte Maria seitwärts auf den Teppich, schien dort das Muster bis unter den Tisch zu verfolgen. Er hatte sich in ein Kissen mit Sammetbezug verbissen, ließ von dem Sammet nur ab, wenn sie miteinander sprachen. Denn manchmal sprachen sie, ohne die Arbeit dabei zu unterbrechen. Nur als die Uhr dreiviertel schlug, stockten beide, solange das Läutwerk seine Pflicht tat, und er sagte, wie vor dem Läuten wieder gegen sie arbeitend: »Jetzt is dreiviertel.« Und dann wollte er von ihr wissen, ob es so gut sei, wie er es mache. Sie bejahte die Frage mehrmals und bat ihn, vorsichtig zu sein. Er versprach ihr, ganz bestimmt vorsichtig zu sein. Sie befahl ihm, nein, legte ihm ans Herz, diesmal besonders aufzupassen. Dann erkundigte er sich, ob es bei ihr bald soweit sei.

Und sie sagte: gleich ist soweit. Da hatte sie wohl einen Krampf in jenem Fuß, der ihr von der Chaiselongue hing, denn sie stieß den in die Zimmerluft, doch die Schlüpfer blieben dran hängen. Da biß er wieder ins Sammetkissen, und sie schrie: geh weg, und er wollte auch weg, doch dann konnte er nicht mehr weg, weil Oskar drauf war auf den Beiden, bevor er weg war, weil ich ihm die Trommel ins Kreuz und die Stöcke aufs Blech schlug, weil ich das nicht mehr hören konnte: weg und geh weg, weil mein Blech lauter war als ihr weg, weil ich das nicht duldete, daß er weg ging, genau wie Jan Bronski immer von Mama weggegangen war; denn Mama hatte auch immer weg gesagt, zu Jan, weg, zu Matzerath, weg. Und dann waren sie auseinandergefallen, und den Rotz ließen sie irgendwohin klatschen, auf ein Tuch extra dafür, oder wenn das nicht greifbar, auf die Chaiselongue, auf den Teppich womöglich. Ich aber konnte das nicht ansehen. Schließlich war ja auch ich nicht weggegangen. Und ich war der erste, der nicht wegging, deshalb bin ich der Vater und nicht jener Matzerath, der immer und bis zuletzt glaubte, er sei mein Vater. Dabei war das Jan Bronski. Und das hab ich von Jan geerbt, daß. ich vor dem Matzerath nicht wegging, daß ich drinnenblieb, drinnenließ; und was rauskam, das war mein Sohn, nicht sein Sohn! Der hatte überhaupt keinen Sohn! Das war gar kein richtiger Vater! Auch wenn er zehnmal die arme Mama geheiratet hat, und auch Maria geheiratet hat, weil sie schwanger war. Und er dachte, die Leute im Haus und auf der Straße, die denken sicher.

Natürlich dachten die, der Matzerath habe die Maria dickgemacht und heirate sie jetzt, wo sie siebzehneinhalb ist, und er ist an die fünfundvierzig. Aber sie ist ja tüchtig für ihr Alter, und was den kleinen Oskar angeht, der kann sich freuen über die Stiefmutter, denn die Maria ist nicht wie eine Stiefmutter zu dem armen Kind, sondern wie eine richtige Mutter, obgleich das Oskarchen nicht ganz klar im Kopf ist und eigentlich nach Silberhammer gehört oder nach Tapiau in die Anstalt.

Matzerath entschloß sich auf Gretchen Schefflers Zureden hin, meine Geliebte zu heiraten. Wenn ich also ihn, meinen mutmaßlichen Vater, als Vater bezeichne, muß ich feststellen: mein Vater heiratete meine zukünftige Frau, nannte später meinen Sohn Kurt seinen Sohn Kurt, verlangte also von mir, daß ich in seinem Enkelkind meinen Halbbruder anerkannte und meine geliebte, nach Vanille duftende Maria als Stiefmutter in seinem nach Fischlaich stinkenden Bett duldete. Wenn ich mir aber bestätigte: dieser Matzerath ist nicht einmal dein mutmaßlicher Vater,er ist ein wildfremder, weder sympathischer noch deine Abneigung verdienender Mensch, der gut kochen kann, der gut kochend bisher schlecht und recht an Vaters Statt für dich sorgte, weil deine arme Mama ihn dir hinterlassen hat, der dir nun vor allen Leuten die allerbeste Frau wegschnappt, dich zum Zeugen einer Hochzeit, fünf Monate später einer Kindstaufe macht, zum Gast zweier Familienfeste also, die zu veranstalten viel mehr dir zukäme, denn du hättest Maria zum Standesamt fuhren sollen, an dir wäre es gewesen, die Taufpaten zu bestimmen,wenn ich mir also die Hauptrollen dieser Tragödie ansah und bemerken mußte, daß die Aufführung des Stückes unter einer falschen Besetzung der Hauptrollen litt, verzweifelte ich am Theater: denn Oskar, dem wahren Charakterdarsteller, hatte man eine Statistenrolle eingeräumt, die genau so gut hätte gestrichen werden können.

Bevor ich meinem Sohn den Namen Kurt gebe, ihn so nenne, wie er nie hätte heißen sollen — denn ich hätte den Knaben nach seinem wahren Großvater Vinzent Bronski benannt — bevor ich mich also mit Kurt abfinde, will Oskar nicht verschweigen, wie er sich während Marias Schwangerschaft gegen die zu erwartende Geburt wehrte.

Noch am selben Abend jenes Tages, da ich die beiden auf der Chaiselongue überraschte, trommelnd auf Matzeraths schweißnassem Rücken hockte und die von Maria geforderte Vorsicht verhinderte, unternahm ich einen verzweifelten Versuch, meine Geliebte zurückzugewinnen.

Es gelang Matzerath, mich abzuschütteln, als es schon zu spät war. Deswegen schlug er mich. Maria nahm Oskar in Schutz und machte Matzerath Vorwürfe, weil es ihm nicht gelungen war, vorsichtig zu sein. Matzerath verteidigte sich wie ein alter Mann. Maria sei Schuld, redete er sich heraus, sie hätte mit einmal zufrieden sein sollen, aber sie könne wohl nicht genug bekommen. Daraufhin weinte Maria, sagte, bei ihr gehe das nicht so schnell mit reinraus und fertig, da müsse er sich eine andere suchen, sie sei zwar unerfahren, aber ihre Schwester Guste, die ja im »Eden« sei, wisse Bescheid und habe ihr gesagt, so fix gehe das nicht, aufpassen sollte Maria, es gebe Männer, die seien nur darauf aus, ihren Rotz loszuwerden, und er, Matzerath, sei wohl auch so einer, aber das mache sie nicht mehr mit, bei ihr müsse es gleichfalls klingeln wie eben. Aber deshalb hätte er trotzdem aufpassen müssen, das sei er ihr wohl schuldig, dieses bißchen Rücksichtnahme. Dann weinte sie und saß immer noch auf der Chaiselongue. Und Matzerath schrie in Unterhosen, er könne das Geheule nicht mehr anhören; dann tat ihm sein Zornesausbruch leid, und er vergriff sich wieder an Maria, das heißt, er versuchte, sie unterm Kleid, wo sie noch blank war, zu streicheln, und das machte Maria wütend.

Oskar hatte sie noch nie so gesehen. Rote Flecken bekam sie im Gesicht, und die grauen Augen wurden immer dunkler. Einen Schlappschwanz nannte sie Matzerath, der sich daraufhin die Hose langte, hineinstieg und sich zuknöpfte. Er könne ruhig abhauen, schrie Maria, zu seinen Zellenleitern, das seien auch so Schnellspritzer. Und Matzerath griff sich sein Jackett, dann den Türdrücker und versicherte, er werde jetzt andere Saiten aufziehen, den Weiberkram habe er restlos satt; wenn sie so geil sei, solle sie sich doch einen Fremdarbeiter angeln, den Franzos, der das Bier bringe, der könne es sicher besser.

Er, Matzerath, stelle sich unter Liebe etwas anderes vor als nur Sauereien, er gehe jetzt seinen Skat dreschen, da wisse er, was ihn erwarte.

Da war ich mit Maria alleine im Wohnzimmer. Sie weinte nicht mehr, sondern zog sich nachdenklich und nur ganz sparsam pfeifend ihre Schlüpfer an. Längere Zeit lang strich sie ihr Kleid glatt, das auf der Chaiselongue gelitten hatte. Dann stellte sie das Radio an, bemühte sich zuzuhören, als die Wasserstandsmeldungen der Weichsel und Nogat durchgegeben wurden, zog sich, als nach der Verkündung des Pegelstandes der unteren Mottlau Walzerklänge angekündigt wurden und auch zu Gehör kamen, plötzlich und unvermittelt die Schlüpfer wieder aus, ging in die Küche, ließ eine Schüssel klappern, Wasser laufen, das Gas hörte ich puffen und vermutete: Maria hat sich zu einem Sitzbad entschlossen.

Um dieser etwas peinlichen Vorstellung zu entgehen, konzentrierte Oskar sich auf die Walzerklänge.

Wenn ich mich recht erinnere, trommelte ich sogar einige Takte Straußmusik und fand Gefallen daran.

Dann wurden die Walzerklänge vom Rundfunkgebäude aus unterbrochen und eine Sondermeldung angekündigt. Oskar tippte auf eine Meldung vom Atlantik und sollte sich nicht getäuscht haben.

Mehreren U-Booten war es gelungen, westlich von Irland sieben oder acht Schiffe mit soundsoviel tausend Bruttoregistertonnen zu versenken. Darüber hinaus war es anderen Unterseebooten gelungen, im Atlantik fast genau soviel Bruttoregistertonnen in den Grund zu bohren. Und besonders hervorgetan hatte sich ein U-Boot unter Kapitänleutnant Schepke — es kann aber auch Kapitänleutnant Kretschmar gewesen sein — jedenfalls einer von den beiden oder ein dritter berühmter Kapitänleutnant hatte am meisten Bruttoregistertonnen und obendrein oder darüber hinaus noch einen englischen Zerstörer der XY-Klasse versenkt.

Während ich auf meiner Trommel das der Sondermeldung folgende Englandlied variierte und fast in einen Walzer verwandelte, trat Maria mit einem Frottierhandtuch überm Arm im Wohnzimmer ein.

Halblaut sagte sie: »Haste jehert, Oskarchen, schon wieder ne Sondermeldung! Wenn die so weitermachen ...« Ohne Oskar zu verraten, was dann passieren würde, wenn es gelänge, so weiterzumachen, setzte sie sich auf einen Stuhl, über dessen Lehne Matzerath sein Jackett zu hängen pflegte. Maria drehte das feuchte Frottierhandtuch zu einer Wurst und pfiff ziemlich laut und auch richtig das Englandlied mit. Den Schluß wiederholte sie noch einmal, als die im Radio schon aufgehört hatten, knipste dann den Kasten auf dem Büfett aus, sobald wieder unvergängliche Walzerklänge laut wurden. Die Handtuchwurst ließ sie auf dem Tisch liegen, setzte sich und legte ihre Patschhände auf die Oberschenkel.

Da wurde es sehr still in unserem Wohnzimmer, nur die Standuhr sprach immer lauter, und Maria schien zu überlegen, ob es nichtbesser wäre, den Radioapparat wieder anzuschalten. Dann faßte sie aber einen anderen Entschluß. Sie schmiegte den Kopf gegen die Handtuchwurst auf der Tischplatte, ließ die Arme an den Knien vorbei gegen den Teppich hängen und weinte lautlos und regelmäßig.

Oskar fragte sich, ob Maria sich schämte, weil ich sie in solch peinlicher Situation überrascht hatte.

Ich beschloß, sie aufzuheitern, schlich mich aus dem Wohnzimmer und fand im dunklen Laden neben den Puddingpäckchen und dem Gelatinepapier ein Tütchen, das sich im halbdunklen Korridor als ein Tütchen Brausepulver mit Waldmeistergeschmack auswies. Oskar war froh über seinen Griff, denn zeitweilig glaubte ich erkannt zu haben, daß Maria Waldmeister allen anderen Geschmacksrichtungen vorzog. ;

Als ich das Wohnzimmer betrat, lag Marias rechte Wange immer noch auf dem zur Wurst gedrehten Frottierhandtuch. Auch hingen ihre Arme nach wie vor hilflos pendelnd zwischen den Oberschenkeln.

Oskar näherte sich von links und war enttäuscht, als er ihre Augen geschlossen und tränenlos fand.

Geduldig wartete ich, bis sie die Lider mit etwas verklebten Wimpern hob, hielt ihr das Tütchen hin, doch sie bemerkte den Waldmeister nicht, schien durch das Tütchen und Oskar hindurchzusehen.

Sie wird tränenblind sein, entschuldigte ich Maria und entschloß mich nach kurzer innerer Beratung, direkter vorzugehen. Unter den Tisch kletterte Oskar, kauerte sich zu Marias leicht nach innen verdrehten Füßen, griff ihre linke, mit den Fingerspitzen fast den Teppich berührende Hand, drehte die, bis ich den Handteller einsehen konnte, riß mit den Zähnen das Tütchen auf, streute den halben Inhalt des Papiers in die mir willenlos überlassene Schüssel, gab meinen Speichel dazu, beobachtete noch das erste Aufbrausen und erhielt dann von Maria einen recht schmerzhaften Fußtritt gegen die Brust, der Oskar auf den Teppich bis unter die Mitte des Wohnzimmertisches warf.

Trotz des Schmerzes war ich sofort wieder auf den Beinen und unter dem Tisch hervor. Maria stand gleichfalls. Wir standen uns atmend gegenüber. Maria griff das Frottierhandtuch, wischte sich die linke Hand blank, schleuderte mir den Wisch vor die Füße und nannte mich eine verfluchte Drecksau, einen Giftzwerg, einen übergeschnappten Gnom, den man in die Klappsmühle stecken müsse. Dann packte sie mich, klatschte meinen Hinterkopf, beschimpfte meine arme Mama, die einen Balg wie mich in die Welt gesetzt habe, und stopfte mir, als ich schreien wollte, es auf alles Glas im Wohnzimmer und in der ganzen Welt abgesehen hatte, den Mund mit jenem Frottierhandtuch, das, wenn man hineinbiß, zäher als Rindfleisch war.

Erst als es Oskar gelang, rot bis blau anzulaufen, gab sie mich frei. Ich hätte jetzt mühelos alle Gläser, Fensterscheiben und abermals den Glasdeckel vor dem Zifferblatt der Standuhr zerschreien können. Ich schrie aber nicht, sondern erlaubte einem Haß, von mir Besitz zu ergreifen, der so seßhaft ist, daß ich ihn heute noch, sobald Maria mein Zimmer betritt, wie jenes Frottiertuch zwischen den Zähnen spüre.

Launisch wie Maria sein konnte, ließ sie von mir ab, lachte gutmütig, stellte mit einem einzigen Griff das Radio wieder an, kam, den Walzer mitpfeifend, auf mich zu, um mir, wie ich es eigentlich gerne hatte, versöhnlich das Haar zu streicheln.

Ganz nah ließ Oskar sie herankommen und schlug ihr dann mit beiden Fäusten von unten nach oben genau da hin, wo sie den Matzerath eingelassen hatte. Und als sie mir die Fäuste vor dem zweiten Schlag abfing, biß ich mich fest an derselben verdammten Stelle, und fiel, immer noch in Maria verbissen, mit ihr auf die Chaiselongue, hörte zwar, wie die im Radio eine weitere Sondermeldung ankündigten, doch das wollte Oskar nicht hören; und so verschweigt er Ihnen, wer was und wieviel versenkte, denn ein heftiger Weinkrampf lockerte mir die Zähne, und ich lag bewegungslos auf Maria, die vor Schmerz weinte, während Oskar aus Haß weinte und aus Liebe, die sich in bleierne Ohnmacht verwandelte und dennoch nicht aufhören konnte.

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