Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (41 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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In Marias Hand begann es zu zischen und zu schäumen. Da brach der Waldmeister wie ein Vulkan aus. Da kochte, ich weiß nicht, wessen Volkes grünliche Wut. Da spielte sich etwas ab, was Maria noch nicht gesehen und wohl noch nie gefühlt hatte, denn ihre Hand zuckte, zitterte, wollte wegfliegen, weil Waldmeister sie biß, weil Waldmeister durch ihre Haut fand, weil Waldmeister sie aufregte, ihr ein Gefühl gab, ein Gefühl, ein Gefühl...

So sehr das Grün sich auch vermehrte, Maria wurde rot, führte die Hand zum Mund, leckte die Innenfläche mit langer Zunge ab, tat das mehrmals und so verzweifelt, daß Oskar schon glauben wollte, die Zunge tilge nicht jenes sie so aufregende Waldmeistergefühl, sondern steigere es bis zu jenem Punkt, womöglich noch über jenen Punkt hinaus, der normalerweise allen Gefühlen gesetzt ist.

Dann ließ das Gefühl nach. Maria kicherte, blickte sich um, ob auch keine Zeugen des Waldmeisters vorhanden wären, und ließ sich, da sie rings die in Badeanzügen atmenden Seekühe teilnahmslos und niveabraun gelagert sah, auf das Badelaken fallen; auf so weißem Plan verging ihr dann langsam die Schamröte.Vielleicht wäre es dem Badewetter jener Mittagsstunde doch noch gelungen, Oskar zum Schlaf zu verführen, hätte sich Maria nach einer knappen halben Stunde nicht abermals aufgerichtet und den Griff zum noch halb vollen Brausepulvertütchen gewagt. Ich weiß nicht, ob sie mit sich kämpfte, bevor sie den Rest des Pulvers in jene hohle Hand schüttelte, welcher die Wirkung des Waldmeisters nicht mehr fremd war. Etwa so lange wie jemand braucht, um sich seine Brille zu putzen, hielt sie das Tütchen links und rechts das rosa Schüsselchen reglos und gegensätzlich. Nicht etwa, daß sie den Blick auf das Tütchen oder die hohle Hand richtete, daß sie den Blick zwischen halbvoll und leer wandern ließ; zwischen Tüte und Hand blickte Maria mittendurch und machte streng dunkle Augen dabei.

Es sollte sich aber zeigen, um wieviel der strenge Blick schwächer war als das halbvolle Tütchen. Die Tüte näherte sich der hohlen Hand, die kam dem Tütchen entgegen, der Blick verlor seine mit Schwermut gesprenkelte Strenge, wurde neugierig und schließlich nur noch gierig. Mit mühsam gespielter Gleichmut häufte Maria den Rest des Waldmeisterbrausepulvers in ihrem gutgepolsterten, trotz der Hitze trockenen Handteller, ließ das Tütchen und die Gleichmut fallen, stützte mit der freigewordenen Hand den gefüllten Griff, verweilte mit grauen Augen noch bei dem Pulver und sah dann mich an, sah mich grau an, forderte grauäugig etwas von mir, meinen Speichel wollte sie, warum nahm sie nicht ihren, Oskar hatte doch kaum noch welchen, sie hatte sicher viel mehr, so schnell erneuert sich nicht der Speichel, sie sollte gefälligst ihren nehmen, der war genau so gut, wenn nicht noch besser, auf jeden Fall mußte sie mehr haben als ich, weil ich so schnell keinen machen konnte, auch weil sie größer als Oskar war.

Maria wollte meinen Speichel. Von Anfang an stand fest, daß nur mein Speichel in Frage kam. Sie nahm ihren fordernden Blick nicht von mir, und ich gab ihren nicht freihängenden, sondern angewachsenen Ohrläppchen die Schuld an dieser grausamen Unnachgiebigkeit. So schluckte Oskar, stellte sich Dinge vor, die ihm sonst das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen, doch, lag es an der Seeluft, an der Salzluft, an der salzigen Seeluft, meine Speicheldrüsen versagten, ich mußte mich, durch Marias Blick dazu aufgefordert, erheben und auf den Weg machen. Es galt, ohne links und rechts zu schauen, über fünfzig Schritte durch den heißen Sand zurückzulegen, die noch heißerer.

Treppenstufen zur Bademeisterkajüte hinaufzusteigen, den Wasserhahn aufzudrehen, den gewendeten Kopf offenen Mundes drunter zu halten, zu trinken, zu spülen, zu schlucken, damit Oskar wieder zu Speichel kam.

Als ich die Strecke zwischen der Bademeisterkajüte und unserem weißen Laken, so endlos und von schrecklichem Anblick umsäumt der Weg auch war, überwunden hatte, fand ich Maria auf dem Bauche liegend. Den Kopf hatte sie zwischen verschränkten Armen versorgt. Ihre Zöpfe lagen trag auf rundem Rücken.

Ich stieß sie an, denn Oskar hatte jetzt Speichel. Maria rührte sich nicht. Ich stieß nochmals. Sie wollte nicht. Vorsichtig öffnete ich ihr die linke Hand. Sie ließ es geschehen: die Hand war leer, als hätte sie nie Waldmeister gesehen. Ich bog ihr die rechten Finger gerade: rosig der Teller, in den Linien feucht, heiß und leer.

Hatte Maria doch ihren eigenen Speichel bemüht? Hatte sie nicht warten können? Oder sie hatte das Brausepulver davon geblasen, hatte das Gefühl erstickt, bevor sie fühlte, hatte die Hand am Badelaken blankgerieben, bis wieder Marias vertraute Patschhand mit dem leicht abergläubischen Mondberg, dem fetten Merkur und dem straffgepolsterten Venusgürtel zum Vorschein kam.

Wir gingen damals bald darauf nach Hause, und Oskar wird nie erfahren, ob Maria schon an jenem Tage das Brausepulver zum zweitenmal schäumen ließ oder ob jene Mischung aus Brausepulver und meinem Speichel erst einige Tage später für sie und für mich in der Wiederholung zum Laster wurde.

Der Zufall oder ein unseren Wünschen gehorsamer Zufall brachte es mit sich, daß Matzerath am Abend des soeben beschriebenen Badetages — wir aßen Blaubeerensuppe und hinterher Kartoffelpuffer — Maria und mir umständlich eröffnete, er sei Mitglied eines kleinen Skatklubs innerhalb seiner Ortsgruppe geworden, er werde zweimal in der Woche abends seine neuen Skatbrüder, die alle Zellenleiter seien, in der Gaststätte Springer treffen, auch Sellke, der neue Ortsgruppenleiter, wolle manchmal kommen, alleine schon deswegen müsse er hin und uns leider alleine lassen. Das Beste sei wohl, man quartiere den Oskar an den Skatabenden bei Mutter Truczinski ein. Mutter Truczinski war damit einverstanden, zumal ihr jene Lösung weit besser gefiel als der Vorschlag, den ihr Matzerath ohne Marias Wissen am Vortage gemacht hatte. Da hieß es, nicht ich sollte bei Mutter Truczinski übernachten, sondern Maria sollte zweimal in der Woche bei uns auf der Chaiselongue ihr Nachtlager aufschlagen. Zuvor hatte Maria in jenem breiten Bett geschlafen, in welches vor Zeiten mein Freund Herbert seinen narbigen Rücken gebettet hatte. Das schwere Möbel stand im kleineren hinteren Zimmer. Mutter Truczinski hatte ihr Bett im Wohnzimmer. Guste Truczinski, die nach wie vor im Hotel »Eden« am kalten Büfett servierte, wohnte auch dort, kam manchmal an ihren freien Tagen, übernachtete selten und wenn, dann auf dem Sofa. Brachte jedoch ein Fronturlaub Fritz Truczinski mit Geschenken aus fernen Ländern in die Wohnung, schlief der Fronturlauber oder Dienstreisende in Herberts Bett, Maria in Mutter Truczinskis Bett, und die alte Frau machte sich ihr Lager auf dem Sofa.

Diese Ordnung wurde durch meine Ansprüche gestört. Zuerst sollte ich auf dem Sofa gebettet werden. Dieses Ansinnen lehnte ich knapp, aber deutlich ab. Dann wollte mir Mutter Truczinski ihr Altfrauenbett abtreten und mit dem Sofa vorliebnehmen. Da erhob Maria Einspruch, wollte nicht haben, daß Unbequemlichkeiten die Nachtruhe ihrer alten Mutter störten, erklärte sich, ohne viele Worte zu machen, bereit, Herberts ehemaliges Kellnerbett mit mir zu teilen, und drückte das so aus:

»Das jeht schon mit dem Oskarchen in ain Bett. Där is ja man doch nur né achtel Portion.«

So trug Maria von der folgenden Woche an zweimal wöchentlich mein Bettzeug aus unserer Parterrewohnung ins zweite Stockwerk und schlug mir und meiner Trommel zu ihrer Linken das Nachtlager auf. In Matzeraths erster Skatnacht ereignete sich gar nichts. Es wollte mir Herberts Bett sehr groß vorkommen. Ich lag zuerst, Maria kam später. Sie hatte sich in der Küche gewaschen und betrat das Schlafzimmer in einem lächerlich langen und altmodisch steifen Nachthemd. Oskar hatte sie nackt und behaart erwartet, war anfangs enttäuscht, dann jedoch zufrieden, weil ihn der Stoff aus Urgroßmutters Schublade leicht und angenehm Brücken schlagend an den weißen Faltenwurf der Krankenschwesterntracht erinnerte.

Vor der Kommode stehend machte Maria ihre Zöpfe auf und pfiff dabei. Immer wenn Maria sich an-oder auszog, wenn sie die Zöpfe flocht oder löste, pfiff sie. Selbst beim Kämmen preßte sie unermüdlich diese zwei Töne zwischen gespitzten Lippen hervor und brachte es dennoch zu keiner Melodie.

Sobald Maria den Kamm weglegte, brach auch das Pfeifen ab. Sie drehte sich, schüttelte noch einmal ihr Haar, schaffte mit wenigen Griffen Ordnung auf ihrer Kommode, die Ordnung stimmte sie übermütig: ihrem fotografierten und retuschierten, schnauzbärtigen Vater im schwarzen Ebenholzrahmen warf sie eine Kußhand zu, sprang dann mit übertriebener Wucht ins Bett, federte mehrmals, griff sich beim letzten Federn das Oberbett, verschwand unter dem Berg bis zum Kinn, berührte mich, der ich unter den eigenen Federn daneben lag, überhaupt nicht, langte mit rundem Arm, an dem der Nachthemdärmel zurückrutschte, noch einmal unter den Daunen hervor, suchte über ihrem Kopf jene Schnur, mit der man das Licht ausknipsen konnte, fand, knipste und sagte mir erst im Dunkeln mit viel zu lauter Stimme »Gute Nacht!«

Marias Atem wurde schnell gleichmäßig. Wahrscheinlich tat sie nicht nur so, sondern schlief wirklich bald ein, denn ihrer tagtäglichen Arbeitsleistung konnte und durfte nur eine ähnlich tüchtige Schlafleistung folgen.

Oskar boten sich noch längere Zeit lang betrachtenswerte, den Schlaf vertreibende Bildchen an. So dicht die Schwärze zwischen den Wänden und dem Verdunklungspapier vor dem Fenster auch lastete, es beugten sich dennoch blonde Krankenschwestern über Herberts narbigen Rücken, aus Schugger Leos weißem Knitterhemd entwickelte sich, weil das nahe lag, eine Möwe und die flog, flog und zerschellte an einer Friedhofsmauer, die danach frischgekalkt aussah und so weiter und so weiter. Erst als ein sich ständig vermehrender, müdemachender Vanillegeruch den Film vor dem Schlaf flimmern, dann reißen ließ, fand Oskar zu ähnlich ruhigem Atem, wie ihn Maria schon lange übte.

Eine gleich züchtige Vorstellung mädchenhaften Zubettgehens gab mir Maria drei Tage später. Im Nachthemd kam sie, pfiff beim Zöpfeaufmachen, pfiff noch beim Kämmen, legte den Kamm weg, pfiff nicht mehr, schaffte Ordnung auf der Kommode, warf dem Foto die Kußhand zu, machte den übertriebenen Sprung, federte, griff das Oberbett und erblickte — ich betrachtete ihren Rücken — sie sah ein Tütchen — ich bewunderte ihr langes Schönhaar — sie entdeckte auf dem Oberbett etwas Grünes — ich schloß die Augen und wollte warten, bis sie sich an den Anblick des Brausepulvertütchens gewöhnt hatte — da schrien die Sprungfedern unter einer sich zurückwerfenden Maria, da knipste es, und als ich des Knipsens wegen die Augen öffnete, konnte Oskar sich bestätigen, was er wußte: Maria hatte das Licht ausgeknipst, atmete unordentlich im Dunkeln, hatte sich an den Anblick des Brausepulvertütchens nicht gewöhnen können; doch blieb es fraglich, ob die von ihr befohlene Dunkelheit die Existenz des Brausepulvers nicht übersteigerte, Waldmeister zur Blüte brachte und der Nacht Bläschen treibendes Natron verordnete.

Fast möchte ich glauben, die Dunkelheit war auf Oskars Seite. Denn schon nach wenigen Minuten — wenn man in einem stockdunklen Zimmer von Minuten sprechen kann — nahm ich Bewegungen am Kopfende des Bettes wahr; Maria angelte nach der Schnur, die Schnur biß an und gleich darauf bewunderte ich abermals langfallendes Schönhaar auf Marias sitzendem Nachthemd. Wie gleichmäßig und gelb die Glühbirne hinter dem gefalteten Bezug des Lampenschirmes das Schlafzimmer ausleuchtete. Prall aufgeschlagen und unberührt häufte sich immer noch das Oberbett am Fußende.

Das Tütchen auf dem Berg hatte sich in der Dunkelheit nicht zu bewegen gewagt. Marias Großmutternachthemd raschelte, ein Ärmel des Hemdes mit dazugehörender Patschhand hob sich, und Oskar sammelte Speichel in seiner Mundhöhle.

Wir beide haben während der folgenden Wochen über ein Dutzend Tütchen Brausepulver zumeist mit Waldmeistergeschmack, schließlich, als der Waldmeister ausging, mit Zitronen-und Himbeergeschmack auf immer dieselbe Art entleert, mit meinem Speichel zum Aufbrausen gebracht und ein Gefühl gefördert, das Maria immer mehr zu schätzen wußte. Ich bekam einige Übung im Speichelansammeln, benutzte Tricks, die mir das Wasser schnell und reichlich im Munde zusammenlaufen ließen, und war bald imstande, mit dem Inhalt eines Tütchens Brausepulver Maria dreimal kurz nacheinander das begehrte Gefühl zu bescheren.Maria war mit Oskar zufrieden, drückte ihn manchmal an sich, küßte ihn nach dem Brausepulvergenuß sogar zwei-oder dreimal irgendwohin ins Gesicht und schlief zumeist schnell ein, nachdem Oskar sie im Dunkeln noch kurz kichern gehört hatte.

Mir fiel das Einschlafen immer schwerer. Sechzehn Jahre zählte ich, hatte einen beweglichen Geist und das schlafvertreibende Bedürfnis, meiner Liebe zu Maria andere, ungeahntere Möglichkeiten zu bieten als die, die da im Brausepulver schlummerten, durch meinen Speichel erweckt, immer dasselbe Gefühl bemühten.

Oskars Überlegungen beschränkten sich nicht nur auf die Zeit nach dem Lichtausknipsen. Tagsüber brütete ich hinter der Trommel, blätterte in meinen zerlesenen Rasputinauszügen, erinnerte mich früherer Unterrichtsorgien zwischen dem Gretchen Scheffler und meiner armen Mama, befragte auch Goethe, den ich gleich Rasputin in den Auszügen der Wahlverwandtschaften besaß, nahm also des Gesundbeters Triebhaftigkeit, glättete jene mit dem alle Welt einbeziehenden Naturgefühl des Dichterfürsten, gab Maria bald das Aussehen der Zarin, auch die Züge der Großfürstin Anastasia, wählte Damen aus Rasputins adlig-exzentrischem Gefolge, um Maria alsbald, vom allzu Brünstigen abgestoßen, in der himmlischen Durchsichtigkeit einer Ottilie oder hinter der zuchtvoll gemeisterten Leidenschaft Charlottens zu erblicken. Sich selbst sah Oskar abwechselnd als Rasputin persönlich, dann als seinen Mörder, sehr oft als Hauptmann, seltener als Charlottens wankelmütigen Gatten und einmal — ich muß es gestehen — als einen in Goethes bekannter Gestalt über der schlafenden Maria schwebenden Genius.

Merkwürdigerweise erwartete ich von der Literatur mehr Anregungen als vom nackten, tatsächlichen Leben. So konnte mir Jan Bronski, den ich ja oft genug das Fleisch meiner armen Mama hatte bearbeiten sehen, so gut wie nichts beibringen. Obgleich ich wußte, dieses abwechselnd aus Mama und Jan oder Matzerath und Mama bestehende, seufzende, angestrengte, endlich ermattet ächzende, Fäden ziehend auseinanderfallende Knäuel bedeutet Liebe, wollte Oskar dennoch nicht glauben, daß Liebe Liebe war, und suchte aus Liebe andere Liebe und kam doch immer wieder auf die Knäuelliebe und haßte diese Liebe, bevor er sie als Liebe exerzierte und als einzig wahre und mögliche Liebe sich selbst gegenüber verteidigen mußte.

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