Die Blechtrommel (37 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

BOOK: Die Blechtrommel
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Am ersten September neununddreißig — und ich setze voraus, daß auch Sie während jenes unglückseligen Nachmittages in jenem glückseligen, mit Karten spielenden Jan Bronski meinen Vater erkannten — an jenem Tage datierte sich meine zweite große Schuld.

Ich kann es mir nie, selbst bei wehleidigster Stimmung nicht verschweigen: meine Trommel, nein, ich selbst, der Trommler Oskar, brachte zuerst meine arme Mama, dann den Jan Bronski, meinen Onkel und Vater ins Grab.

Doch wie jedermann halte ich mir an Tagen, da mich ein unhöfliches und durch nichts aus dem Zimmer zu weisendes Schuldgefühl in die Kissen meines Anstaltbettes drückt, meine Unwissenheit zugute, die damals in Mode kam und noch heute manchem als flottes Hütchen zu Gesicht steht.

Oskar, den schlauen Unwissenden, brachte man, ein unschuldiges Opfer polnischer Barbarei, mit Fieber und entzündeten Nerven in die Städtischen Krankenanstalten. Matzerath wurde benachrichtigt.

Er hatte meinen Verlust noch am Vorabend angezeigt, obgleich immer noch nicht feststand, daß ich sein Besitz war.

Die dreißig Männer aber, zu denen noch Jan hinzuzuzählen ist, mit den erhobenen Armen und den verschränkten Händen im Nacken, die brachte man, nachdem die Wochenschau ihre Aufnahmen gemacht hatte, zuerst
in
die ausgeräumte Viktoriaschule, dann nahm sie das Gefängnis Schießstange auf und schließlich, Anfang Oktober, der lockere Sand hinter der Mauer des verfallenen, ausgedienten Friedhofes Saspe.

Woher Oskar das weiß? Ich weiß es von Schugger Leo. Denn offiziell wurde natürlich nicht bekanntgegeben, auf welchem Sand, vor welcher Mauer man die einunddreißig Männer erschossen, in welchem Sand man die einunddreißig verbuddelt hatte.

Hedwig Bronski erhielt zuerst eine Räumungsanweisung für die Wohnung in der Ringstraße, die mit den Familienangehörigen eines höheren Luftwaffenoffiziers belegt wurde. Während sie mit Stephans Hilfe packte und den Umzug nach Ramkau vorbereitete - es gehörten ihr dort einige Hektar Land und Wald, dazu die Wohnung des Pächters —, kam der Witwe eine Nachricht zu, die ihre das Leid dieser Welt zwar spiegelnden, aber nicht begreifenden Augen nur langsam und mit Hilfe ihres Sohnes Stephan jenem Sinn nach entziffern konnten, der sie schwarz auf weiß zur Witwe machte.

Da hieß es:

Geschäftsstelle des Gerichtes der Gruppe Eberhardt St. L. 41/39 — Zoppot, den 6. Okt. 1939

Frau Hedwig Bronski, auf Anordnung wird Ihnen mitgeteilt, daß der Bronski, Jan, durch kriegsgerichtliches Urteil wegen Freischärlerei zum Tode verurteilt und hingerichtet ist.

Zelewski (Feldjustizinspektor)

Sie sehen also, von Saspe kein einziges Wörtchen. Man nahm Rücksicht auf die Angehörigen, wollte ihnen die Kosten für. die Pflege eines allzu geräumigen und blumenfressenden Massengrabes ersparen, kam für die Pflege und eventuelle Umbettung selber auf, indem man den Saspeschen Sandboden planierte und die Patronenhülsen bis auf eine einzige — denn eine bleibt immer liegen — einsammelte, weil herumliegende Patronenhülsen den Anblick eines jeden anständigen Friedhofes, selbst wenn er nicht mehr benutzt wird, verunstalten.

Diese eine Patronenhülse aber, die immer liegen bleibt, auf die es ankommt, fand Schugger Leo, dem kein noch so geheim gehaltenes Begräbnis verborgen blieb. Er, der mich von der Beerdigung meiner armen Mama, von der Beerdigung meines narbenreichen Freundes Herbert Truczinski her kannte, der sicher auch wußte, wo sie Sigismund Markus verscharrt hatten — doch ich fragte ihn nie danach — war selig und lief vor Freude fast über, als er mir im späten November — man hatte mich gerade aus den Krankenanstalten entlassen — die verräterische Patronenhülse reichen konnte.

Doch bevor ich Sie mit jenem schon leicht oxydierten Gehäuse, welches vielleicht gerade jenen für Jan bestimmten Bleikern beherbergt hatte, Schugger Leo folgend zum Friedhof Saspe führe, muß ich Sie bitten, das Metallbett der Städtischen Krankenanstalten Danzig, Kinderabteilung, mit dem Metallbett der hiesigen Heil-und Pflegeanstalt zu vergleichen. Beide Betten weißlackiert und dennoch unterschiedlich. Das Bett der Kinderabteilung zwar kleiner, wenn wir die Länge werten, höher jedoch, legen wir messend den Gitterstäben einen Zollstock an. Obgleich ich dem kurzen und hohen Gitterkasten des Jahres neununddreißig den Vorzug gebe, habe ich in meinem heutigen, für Erwachsene bestimmten Kompromißbett meine anspruchslos gewordene Ruhe gefunden und überlasse es der Anstaltsleitung, mein seit Monaten laufendes Gesuch um ein höheres, doch gleichfalls metallenes und lackiertes Bettgitter abzulehnen oder zu genehmigen.

Während ich heute meinen Besuchern fast schutzlos ausgeliefert bin, trennte mich an den Besuchstagen der Kinderabteilung ein hochragender Zaun von dem Besucher Matzerath, von den Besucherehepaaren Greff und Scheffler, und gegen Ende meines Krankenhausaufenthaltes teilte mein Gitter jenen in vier Röcken übereinander wandelnden Berg, der nach meiner Großmutter Anna Koljaiczek benannt war, in bekümmerte, schwer atmende Abschnitte ein. Sie kam, seufzte, hob dann und wann ihre großen vielfältigen Hände, zeigte die rosa rissigen Handflächen und ließ mutlos Hände und Handflächen sinken, auf ihre Oberschenkel klatschen, daß mir dieser Klatschton bis heute zwar gegenwärtig, doch auf meiner Trommel nur ungefähr zu imitieren ist.

Gleich beim ersten Besuch brachte sie ihren Bruder Vinzent Bronski mit, der, ans Bettgitter geklammert, zwar leise aber eindringlich und pausenlos von der Königin Polens, der Jungfrau Maria erzählte oder sang oder singend erzählte. Oskar war froh, wenn mit den beiden eine Krankenschwester in der Nähe war. Klagten sie mich doch an. Hielten mir ihre unbewölkten Bronskiaugen hin, erwarteten von mir, der ich mir Mühe gab, die Folgen des Skatspielens in der Polnischen Post, das Nervenfieber zu überwinden, einen Hinweis, ein Beileidswort, einen schonenden Bericht über Jans letzte, zwischen Angst und Skatkarten verlebte Stunden. Ein Geständnis wollten sie hören, eine Entlastung Jans; als hätte ich ihn entlasten können, als hätte mein Zeugnis Gewicht und Überzeugungskraft haben können.

Was hätte etwa dieser Rapport dem Gericht der Gruppe Eberhardt gesagt: Ich, Oskar Matzerath, gebe zu, am Vorabend des ersten September dem Jan Bronski, der auf dem Heimweg war, aufgelauert zu haben und ihn mittels einer reparaturbedürftigen Trommel in jene Polnische Post gelockt zu haben, die Jan Bronski verlassen hatte, weil er sie nicht verteidigen wollte.Oskar legte dieses Zeugnis nicht ab, entlastete seinen mutmaßlichen Vater nicht, verfiel aber, sobald er sich zum lauten Zeugen entschloß, derart heftigen Krämpfen, daß auf Verlangen der Oberschwester hin die Besuchszeit für ihn beschränkt, Besuche seiner Großmutter Anna und seines mutmaßlichen Großvaters Vinzent untersagt wurden.

Als die beiden alten Leutchen — sie waren zu Fuß von Bissau gekommen und hatten mir Äpfel mitgebracht — den Saal der Kinderabteilung übertrieben vorsichtig und hilflos, wie es die Leute vom Land sind, verließen, vergrößerte sich im selben Maße, wie sich die vier schwankenden Röcke der Großmutter und der schwarze, nach Kuhdung riechende Sonntagsanzug ihres Bruders entfernten, meine Schuld, meine übergroße Schuld.

So vieles ereignet sich gleichzeitig. Während vor meinem Bett Matzerath, die Greffs, die Schefflers mit Obst und Kuchen drängten, während nian aus Bissau über Goldkrug und Brenntau zu Fuß zu mir kam, weil die Eisenbahnlinie Karthaus bis Langfuhr noch nicht frei war, während Krankenschwestern weiß und betäubend Krankenhausklatsch vor sich herplapperten und im Kindersaal Engel ersetzten, war Polen noch nicht verloren, dann bald verloren und schließlich, nach den berühmten achtzehn Tagen, war Polen verloren, wenn sich auch bald darauf herausstellte, daß Polen immer noch nicht verloren war; wie ja auch heute, schlesischen und ostpreußischen Landsmannschaften zum Trotz, Polen noch nicht verloren ist.

Oh, du irrsinnige Kavallerie! — Auf Pferden nach Blaubeeren süchtig. Mit Lanzen, weißrot bewimpelt. Schwadronen Schwermut und Tradition. Attacken aus Bilderbüchern. Über Felder bei Lodz und Kutno. Modlin, die Festung ersetzend. Oh, so begabt galoppierend. Immer auf Abendrot wartend. Erst dann greift die Kavallerie an, wenn Vorder-und Hintergrund prächtig, denn malerisch ist die Schlacht, der Tod ein Modell für die Maler, auf Standbein und Spielbein stehend, dann stürzend, Blaubeeren naschend, die Hagebutten, sie kollern und platzen, ergeben den Juckreiz, ohne den springt die Kavallerie nicht. Ulanen, es juckt sie schon wieder, sie wenden, wo Strohmieten stehen — auch das gibt ein Bild — ihre Pferde und sammeln sich hinter einem, in Spanien er Don Quijote heißt, doch der, Pan Kiehot ist sein Name, ein reingebürtiger Pole von traurig edler Gestalt, der allen seinen Ulanen den Handkuß beibrachte zu Pferde, so daß sie nun immer wieder dem Tod — als war' der 'né Dame — die Hände anständig küssen, doch vorher sammeln sie sich, die Abendröte im Rücken — denn Stimmung heißt ihre Reserve — die deutschen Panzer von vorne, die Hengste aus den Gestüten der Krupp von Bohlen und Halbach, was Edleres ward nie geritten. Doch jener, halb spanisch, halb polnisch, ins Sterben verstiegene Ritter — begabt Pan Kiehot, zu begabt! — der senkt die Lanze bewimpelt, weißrot lädt zum Handkuß Euch ein, und ruft, daß die Abendröte, weiß-

rot klappern Störche auf Dächern, daß Kirschen die Kerne ausspucken, ruft er der Kavallerie zu: »Ihr edlen Polen zu Pferde, das sind keine stählernen Panzer, sind Windmühlen nur oder Schafe, ich lade zum Handkuß Euch ein!«

Und also ritten Schwadronen dem Stahl in die feldgraue Flanke und gaben der Abendröte noch etwas mehr rötlichen Schein. — Man mag Oskar diesen Schlußreim verzeihen und gleichfalls das Poemhafte dieser Feldschlachtbeschreibung. Es wäre vielleicht richtiger, führte ich die Verlustzahlen der polnischen Kavallerie auf und gäbe hier eine Statistik, die eindringlich trocken des sogenannten Polenfeldzuges gedächte. Auf Verlangen aber könnte ich hier ein Sternchen machen, eine Fußnote ankündigen und das Poem dennoch stehen lassen.

Bis etwa zum zwanzigsten September hörte ich, in meinem Spitalbettchen liegend, die Salven aus den Geschützen jener auf den Höhen des Jeschkentaler-und Olivaerwaldes aufgefahrenen Batterien. Dann ergab sich das letzte Widerstandsnest, die Halbinsel Heia. Die Freie Hansestadt Danzig konnte den Anschluß ihrer Backsteingotik an das Großdeutsche Reich feiern und jubelnd jenem unermüdlich im schwarzen Mercedeswagen stehenden, fast pausenlos rechtwinklig grüßenden Führer und Reichskanzler Adolf Hitler in jene blauen Augen sehen, die mit den blauen Augen Jan Bronskis einen Erfolg gemeinsam hatten: den Erfolg bei den Frauen.

Mitte Oktober wurde Oskar aus den Städtischen Krankenanstalten entlassen. Schwer wollte mir der Abschied von den Krankenschwestern fallen. Und als mir eine Schwester — ich glaube, sie hieß Schwester Berni oder auch Erni — als mir Schwester Erni oder Berni meine zwei Trommeln reichte, die zerschlagene, die mich schuldig gemacht hatte, und die heile, die ich während der Verteidigung der Polnischen Post erobert hatte, wurde mir bewußt, daß ich während Wochen nicht mehr an mein Blech gedacht hatte, daß es für mich auf dieser Welt außer Blechtrommeln noch etwas gab:

Krankenschwestern !

Frisch instrumentiert und mit neuem Wissen ausgerüstet verließ ich an Matzeraths Hand die Städtischen Krankenanstalten, um mich im Labesweg, noch etwas unsicher auf den Füßen des permanent Dreijährigen stehend, dem Alltag, der alltäglichen Langeweile und den noch langweiligeren Sonntagen des ersten Kriegsjahres anzuvertrauen.

An einem Dienstag im späten November — ich betrat nach Wochen der Schonung zum erstenmal wieder die Straße — traf Oskar Ecke Max-Halbe-Platz — Brösener Weg, mürrisch vor sich hintrommelnd und der naßkalten Witterung kaum achtend, den ehemaligen Priestersemmaristen Schugger Leo.

Wir standen uns längere Zeit verlegen lächelnd gegenüber, und erst als Leo Glacehandschuhe aus den Taschen seines Gehrockesholte und die weißgelblichen, hautähnlichen Hüllen über seine Finger und Handteller kriechen ließ, begriff ich, wen ich getroffen hatte, was dieses Treffen mir bringen würde — und Oskar fürchtete sich.

Noch guckten wir uns die Auslagen in Kaisers-Kaffee-Geschäft an, sahen einigen Straßenbahnen der Linien Fünf und Neun nach, die sich auf dem Max-Halbe-Platz kreuzten, folgten dann den gleichförmigen Häusern am Brösener Weg, umrundeten mehrmals eine Litfaßsäule, studierten einen Anschlag, der über den Umtausch des Danziger Guldens in Reichsmark berichtete, kratzten an einem Persilplakat, fanden unter weiß und blau etwas rot, begnügten uns damit, wollten schon wieder zum Platz zurück, da schob Schugger Leo den Oskar mit beiden Handschuhen in einen Hauseingang, griff mit den linken behandschuhten Fingern erst hinter sich, dann unter die Schöße seines Rockes, fingerte in seiner Hosentasche, beutelte die, fand etwas, prüfte den Fund noch in der Tasche und zog, für gut befindend, was er gefunden, den geschlossenen Griff aus der Tasche, ließ den Rockschoß wieder fallen, schob langsam die bekleidete Faust vor, schob immer weiter, drängte Oskar an die Hausflurwand, hatte einen langen Arm — und die Wand gab nicht nach — öffnete erst die fünffingrige Haut, als ich schon glauben wollte: gleich springt ihm der Arm aus dem Schultergelenk, macht sich selbständig, schlägt gegen meine Brust, dringt hindurch, findet zwischen den Schulterblättern wieder hinaus und in die Wand dieses muffigen Treppenhauses hinein — und Oskar wird nie sehen, was Leo im Griff hatte, wird allenfalls jenen Text der Hausordnung im Brösener Weg behalten, der sich vom Text der Hausordnung im Labesweg nicht wesentlich unterschied.

Kurz vor meinem Matrosenmantel, einen Ankerknopf schon drückend, öffnete Leo die Handschuh so schnell, daß ich seine Fingergelenke knacken hörte: auf stockigem, glänzendem Stoff, der die Innenseite seiner Hand schützte, lag die Patronenhülse.

Als Leo wieder die Faust machte, war ich bereit, ihm zu folgen. Das Stückchen Metall hatte mich direkt angesprochen. Wir gingen nebeneinander, Oskar an Leos linker Seite, den Brösener Weg hinunter, hielten uns vor keinem Schaufenster, vor keiner Litfaßsäule mehr auf, überquerten die Magdeburger Straße, ließen die beiden hohen, kastenförmigen Schlußhäuser des Brösener Weges, auf denen nachts die Warnlichter für startende und landende Flugzeuge glühten, hinter uns, tippelten zuerst am Rande des umzäunten Flugplatzes, wechselten schließlich doch auf die trocknere Asphaltstraße über und folgten den in Richtung Brösen fließenden Straßenbahnschienen der Linie Neun.

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