Die Blechtrommel (36 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

BOOK: Die Blechtrommel
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Man versteht ja sein eigenes Wort nicht!«

Richtig ärgerlich wurde der arme Jan, als die Tür zur Briefkammer aufgerissen und der fix und fertige Konrad hereingeschleppt wurde.

»Tür zu, es zieht!« protestierte er. Es zog wirklich. Die Kerzen flackerten bedenklich und kamen erst wieder zur Ruhe, als die Männer, die den Konrad in eine Ecke geknüllt hatten, die Tür hinter sich zugemacht hatten. Abenteuerlich sahen wir drei aus. Von unten traf uns das Kerzenlicht, gab uns das Aussehen alles vermögender Zauberer. Und als dann Kobyella seinen Herz ohne Zwein ausreizte und siebenundzwanzig, dreißig sagte, nein, gurgelte und dabei ständig die Augen verrutschen ließ und in der rechten Schulter etwas sitzen hatte, das raus wollte, zuckte, ganz unsinnig lebendig tat, endlich schwieg, doch nun den Kobyella vornübersinken ließ und den drangebundenen Wäschekorb voller Briefe mit dem toten Mann ohne Hosenträger drauf ins Rollen brachte, als Jan dann mit einem einzigen Hieb und ganzem Einsatz Kobyella samt Wäschekorb zum Stehen brachte, als Kobyella, so abermals am Fortgang gehindert, endlich »Herzhand« röhrte und Jan sein »Contra« zischen, Kobyella sein »Re« herauspressen konnten, da begriff Oskar, daß die Verteidigung der Polnischen Post geglückt war, daß jene, die da angriffen, den gerade begonnenen Krieg schon verloren hatten; selbst wenn es ihnen gelänge, im Verlauf des Krieges Alaska und Tibet, die Osterinseln und Jerusalem zu besetzen.

Schlimm allein war, daß Jan seinen großen, bombensicheren Grandhand, mit Viern, Schneiderschwarz angesagt, nicht zu Ende spielen konnte.

Er begann mit der Kreuzflöte, nannte mich jetzt Agnes, sah im Kobyella seinen Nebenbuhler Matzerath, zog dann scheinheilig Karo Bube — ich täuschte ihm übrigens lieber meine arme Mama als den Matzerath vor — Herz Bube hinterher — mit Matzerath wollte ich unter keinen Umständen verwechselt werden — Jan wartete ungeduldig, bis jener Matzerath, der in Wirklichkeit Invalide, Hausmeister war und Kobyella hieß, abgeworfen hatte; das brauchte seine Zeit, doch dann knallte Jan Herz Aß auf die Dielen und konnte und wollte nicht begreifen, hatte ja nie recht begreifen können, war immer nur blauäugig, roch nach Kölnisch Wasser, blieb ohne Begriff und verstand deshalb auch nicht, weshalb der Kobyella auf einmal alle Karten fallen ließ, den Wäschekorb mit den Briefen und dem toten Mann drauf auf die Kippe stellte, bis erst der tote Mann, dann eine Lage Briefe und schließlich der ganze sauber geflochtene Korb kippten, uns eine Flut Post zustellten, als seien wir die Empfänger, als sei es jetzt an uns, die Spielkarten zur Seite zu schieben und Episteln zu lesen oder Briefmarken zu sammeln. Aber Jan wollte nicht lesen, wollte nicht sammeln, der hatte als Kind zuviel gesammelt, der wollte spielen, seinen Grandhand zu Ende spielen, gewinnen wollte Jan, siegen. Und er hob den Kobyella auf, stellte den Korb auf die Räder, ließ den toten Mann aber liegen, schaufelte auch nicht die Briefe zurück, beschwerte den Korb also ungenügend und zeigte sich trotzdem erstaunt, als der Kobyella, am leichten beweglichen Korb hängend, kein Sitzfleisch bewies, sich mehr und mehr neigte, bis Jan ihn anschrie: »Alfred, ich bitt dich, sei kein Spielverderber, hörst du? Nur das Spielchen noch und dann gehn wir nach Hause, hör doch!« Oskar erhob sich müde, überwand seine immer stärker werdenden Glieder-und Kopfschmerzen, legte Jan Bronski seine kleinen, zähen Trommlerhände auf die Schultern und zwang sich zum halblauten, aber eindringlichen Sprechen: »Laß ihn doch, Papa. Er ist tot und kann nicht mehr. Wenn du willst, können wir Sechsundsechzig spielen.«

Jan, den ich gerade noch als Vater angesprochen hatte, gab das zurückgebliebene Fleisch des Hausmeisters frei, starrte mich blau und blau überfließend an und weinte neinneinneinneinneinneinei...

Ich streichelte ihn, aber er verneinte immer noch. Ich küßte ihn bedeutungsvoll, aber er dachte nur an seinen nicht zu Ende gespielten Grandhand.

»Ich hätte ihn gewonnen, Agnes. Ganz sicher hätte ich ihn nach Hause gebracht.« So klagte er mir an Stelle meiner armen Mama, und ich — sein Sohn — fand mich in die Rolle, stimmte ihm zu, schwor darauf, daß er gewonnen hätte, daß er im Grunde schon gewonnen habe, er müsse nur fest daran glauben und auf seine Agnes hören. Aber Jan glaubte weder mir noch meiner Mama, weinte erst laut und hoch klagend, dann leise einem unmodulierten Lallen verfallend, kratzte die Skatkarten unter dem erkalteten Berg Kobyella hervor, zwischen den Beinen schürfte er, die Brieflawine gab einige her, nicht Ruhe fand Jan, bis er alle zweiunddreißig beisammen hatte. Und er säuberte sie von jenem klebrigen Saft, der dem Kobyella aus den Hosen sickerte, gab sich Mühe mit jeder Karte und mischte das Spiel, wollte wieder austeilen und begriff endlich hinter seiner wohlgeformten, nicht einmal niedrigen aber wohl doch etwas zu glatten und undurchlässigen Stirnhaut, daß es auf dieser Welt keinen dritten Mann für den Skat mehr gab.

Da wurde es sehr still in dem Lagerraum für Briefsendungen. Auch draußen bequemte man sich zu einer ausgedehnten Gedenkminute für den letzten Skatbruder und dritten Mann. War es Oskar doch, als öffnete sich leise die Tür. Und über die Schulter blickend, allesüberirdisch Mögliche erwartend, sah er Viktor Wehluns merkwürdig blindes und leeres Gesicht. »Ich habe meine Brille verloren, Jan.

Bist du noch da? Wir sollten fliehen. Die Franzosen kommen nicht oder kommen zu spät. Komm mit mir, Jan. Führe mich, ich habe meine Brille verloren!«

Vielleicht dachte der arme Viktor, er habe sich im Raum geirrt. Denn als er weder eine Antwort noch seine Brille, noch Jans fluchtbereiten Arm geboten bekam, zog er sein brillenloses Gesicht zurück, schloß die Tür, und ich hörte noch einige Schritte lang, wie sich Viktor tastend und einen Nebel teilend auf die Flucht machte.

Was mochte in Jans Köpfchen Witziges passiert sein, daß er erst leise, noch unter Tränen, dann jedoch laut und fröhlich dem Lachen verfiel, seine frische, rosa, für allerlei Zärtlichkeiten zugespitzte Zunge spielen ließ, die Skatkarten hochwarf, auffing, und endlich, da es windstill und sonntäglich in der Kammer mit den stummen Männern und Briefen wurde, begann er mit vorsichtigen ausgewogenen Bewegungen, unter angehaltenem Atem ein hochempfindliches Kartenhaus zu bauen: da gaben Pique Sieben und Kreuz Dame das Fundament ab. Die beiden deckte Karo, der König. Da gründete er aus Herz Neun und Pique Aß, mit Kreuz Acht als Deckel drauf, das zweite, neben dem ersten ruhende Fundament. Da verband er die beiden Grundlagen mit weiteren hochkant gestellten Zehnen und Buben, mit quergelegten Damen und Assen, daß sich alles gegenseitig stützte. Da beschloß er, dem zweiten Stockwerk ein drittes draufzusetzen, und tat das mit beschwörenden Händen, die, ähnlichen Zeremonien gehorchend, meine arme Mama gekannt haben mußte. Und als er Herz Dame so gegen den König mit dem roten Herzen lehnte, fiel das Gebäude nicht etwa zusammen; nein, luftig stand es, empfindsam, leicht atmend in jenem Raum voller atemloser Toter und Lebendiger, die den Atem anhielten, und erlaubte uns, die Hände zusammenzulegen, ließ den skeptischen Oskar, der ja das Kartenhaus nach allen Regeln durchschaute, den beizenden Qualm und Gestank vergessen, der sparsam und gewunden durch die Türritzen des Briefraumes schlich und den Eindruck erweckte: das Kämmerlein mit dem Kartenhaus drin grenzt direkt und Tür an Tür an die Hölle.

Die hatten Flammenwerfer eingesetzt, hatten, den Frontalangriff scheuend, beschlossen, die letzten Verteidiger auszuräuchern. Die hatten den Doktor Michon soweit gebracht, daß er den Stahlhelm absetzte, zu einem Bettlaken griff und, da ihm das nicht ausreichte, noch sein Kavaliertüchlein zog und beides schwenkend, die Übergabe der Polnischen Post anbot.

Und sie verließen, an die dreißig halbblinde, versengte Männer, die erhobenen Arme und Hände im Nacken verschränkt, das Postgebäude durch den linken Nebenausgang, stellten sich vor die Hofmauer, warteten auf die langsam heranrückenden Heimwehrleute.

Und später hieß es, während der kurzen Zeitspanne, da die Verteidiger sich im Hof aufstellten und die Angreifer noch nicht da, aber unterwegs waren, seien drei oder vier geflüchtet: über die Postgarage, über die angrenzende Polizeigarage in die leeren, weil geräumten Häuser am Rahm. Dort hätten sie Kleider gefunden, sogar mit Parteiabzeichen, hätten sich gewaschen, fein zum Ausgehen gemacht, hätten sich dann einzeln verdrückt, und von einem hieß es: er habe auf dem Altstädtischen Graben ein Optikergeschäft aufgesucht, habe sich eine Brille verpassen lassen, da seine während der Kampfhandlungen im Postgebäude verlorengegangen war. Frischbebrillt soll sich Viktor Weluhn, denn er war es, sogar am Holzmarkt ein Bier genehmigt haben und noch eines, weil er durstig war wegen der Flammenwerfer, soll sich dann mit der neuen Brille, die den Nebel vor seinem Blick zwar etwas lichtete, aber bei weitem nicht in dem Maße aufhob, wie es die alte Brille getan hatte, auf jene Flucht gemacht haben, die bis zum heutigen Tage anhält; so zäh sind seine Verfolger.

Die anderen aber — und ich sage, es waren an die Dreißig, die sich nicht zur Flucht entschlossen — die standen schon an der Mauer, dem Seitenportal gegenüber, als Jan gerade die Herz Königin gegen den Herz König lehnte und beglückt seine Hände zurückzog.

Was soll ich noch sagen? Sie fanden uns. Sie rissen die Tür auf, schrien »Rausss!«, machten Luft, Wind, ließen das Kartenhaus zusammenfallen. Die hatten keinen Nerv für diese Architektur. Die schworen auf Beton. Die bauten für die Ewigkeit. Die achteten gar nicht auf des Postsekretärs Bronski empörtes, beleidigtes Gesicht. Und als sie ihn rausholten, sahen sie nicht, daß Jan noch einmal in die Karten griff und etwas an sich nahm, daß ich, Oskar, die Kerzenstummel von meiner neugewonnenen Trommel wischte, die Trommel mitgehen ließ, die Kerzenstummel verschmähte, denn Taschenlampen strahlten uns viel zu viele an; doch die merkten nicht, daß ihre Funzeln uns blendeten und kaum die Tür finden ließen. Die schrien hinter Stabtaschenlampen und vorgehaltenen Karabinern: »Rausss!«

Die schrien immer noch »Rausss!«, als Jan und ich schon auf dem Korridor standen. Die meinten den Kobyella mit ihrem »Rausss!« und den Konrad aus Warschau und auch den Bolack und den kleinen Wischnewski, der zu Lebzeiten in der Telegrammannahme gesessen hatte. Das machte denen Angst, daß die nicht gehorchen wollten. Und erst als die von der Heimwehr begriffen, daß sie sich vor Jan und mir lächerlich machten, denn ich lachte laut, wenn die »Rausss!« brüllten, da hörten sie auf mit der Brüllerei, sagten »Ach so« und führten uns zu den Dreißig auf dem Posthof, die die Arme hoch hielten, die Hände im Nacken verschränkten, Durst hatten und von der Wochenschau aufgenommen wurden.

Kaum daß man uns durchs Nebenportal führte, schwenkten die von der Wochenschau ihre auf einem Personenwagen befestigteKamera herum, drehten von uns jenen kurzen Film, der später in allen Kinos gezeigt wurde.

Man trennte mich von dem an der Wand stehenden Haufen. Oskar besann sich seiner Gnomenhaftigkeit, seiner alles entschuldigenden Dreijährigkeit, bekam auch wieder die lästigen Glieder-und Kopfschmerzen, ließ sich mit seiner Trommel fallen, zappelte, einen Anfall halb erleidend, halb markierend, ließ aber auch während des Anfalls die Trommel nicht los. Und als sie ihn packten und in ein Dienstauto der SS-Heimwehr steckten, sah Oskar, als der Wagen losfuhr, ihn in die Städtischen Krankenanstalten bringen wollte, daß Jan, der arme Jan blöde und glückselig vor sich hinlächelte, in den erhobenen Händen einige Skatkarten hielt und links mit einer Karte — ich glaube, es war Herz Dame — dem davonfahrenden Sohn und Oskar nachwinkte.

ER LIEGT AUF SASPE

Soeben las ich den zuletzt geschriebenen Absatz noch einmal durch. Wenn ich auch nicht zufrieden bin, sollte es um so mehr Oskars Feder sein, denn ihr ist es gelungen, knapp, zusammenfassend, dann und wann im Sinne einer bewußt knapp zusammenfassenden Abhandlung zu übertreiben, wenn nicht zu lügen.

Ich möchte jedoch bei der Wahrheit bleiben, Oskars Feder in den Rücken fallen und hier berichtigen, daß erstens Jans letztes Spiel, das er leider nicht zu Ende spielen und gewinnen konnte, kein Grandhand, sondern ein Karo ohne Zwein war, daß zweitens Oskar beim Verlassen der Briefkammer nicht nur das neue Trommelblech, sondern auch das geborstene, das mit dem toten Mann ohne Hosenträger und den Briefen aus dem Wäschekorb gefallen war, an sich nahm. Ferner bleibt noch zu ergänzen: Kaum hatten Jan und ich die Briefkammer verlassen, weil uns die von der Heimwehr mit ihrem »Rauss!« und ihren Stabtaschenlampen und Karabinern dazu aufforderten, stellte sich Oskar schutzsuchend zwischen zwei onkelhaft gutmütig wirkende Heimwehrmänner, imitierte klägliches Weinen und wies auf Jan, seinen Vater, mit anklagenden Gesten, die den Armen zum bösen Mann machten, der ein unschuldiges Kind in die Polnische Post geschleppt hatte, um es auf polnisch unmenschliche Weise als Kugelfang zu benutzen.

Oskar versprach sich einiges für seine heile und seine zerstörte Trommel von diesem Judasschauspiel und sollte recht behalten: die Heimwehrleute traten Jan ins Kreuz, stießen ihn mit den Gewehrkolben, ließen mir jedoch beide Trommeln, und einer, ein schon älterer Heimwehrmann mit grämlichen Familienvatersorgenfalten neben Nase und Mund, tätschelte meine Wangen, während mich ein anderer, weißblonder Kerl mit immer lachenden, deshalb geschlitzten und nie sichtbaren Augen auf den Arm nahm, was Oskar peinlich berührte.

Heute, da ich mich zeitweilig dieser unwürdigen Haltung schäme, sage ich immer wieder: der Jan hat das nicht gemerkt, der war noch bei den Karten, der blieb auch späterhin bei den Karten, den konnte nichts mehr, selbst der lustigste wie teuflischste Einfall der Heimwehrleute von den Skatkarten weglocken. Während sich Jan schon im ewigen Reich der Kartenhäuser befand und glücklich solch ein dem Glück gläubiges Haus bewohnte, standen wir, die Heimwehrleute und ich — denn Oskar zählte sich zu den Heimwehrleuten — zwischen Ziegelmauern, auf gefliesten Korridorfußböden, unter Decken mit Stuckgesimsen, die mit Wänden und Zwischenwänden derart ineinander verkrampft waren, daß man das Schlimmste für jenen Tag befürchten mußte, da all die Klebearbeit, die wir Architektur nennen, diesen oder jenen Umständen gehorchend, den Zusammenhalt aufgeben wird.

Natürlich kann mich diese verspätete Einsicht nicht entschuldigen, zumal mir — der ich beim Anblick von Baugerüsten immer an Abbrucharbeiten denken muß — der Glaube an Kartenhäuser als einzig menschenwürdige Behausung nicht fremd war. Dazu gesellt sich der familiäre Belastungspunkt. War ich doch an jenem Nachmittag fest davon überzeugt, in Jan Bronski nicht nur einen Onkel, sondern auch einen richtigen, nicht nur mutmaßlichen Vater zu haben. Ein Vorsprung also, der ihn von Matzerath für alle Zeiten unterscheidet: denn Matzerath ist entweder mein Vater oder gar nichts gewesen.

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