Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (34 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Jan lag zusammengekauert, hielt den Kopf verborgen und zitterte. Ich erkannte ihn nur an seinem eleganten, nun jedoch mit Kalk und Sand bestäubten, dunkelgrauen Anzug. Die Schnürsenkel seines rechten, gleichfalls grauen Schuhes hatten sich gelöst. Ich bückte mich und band sie ihm zur Schleife.

Als ich die Schleife anzog, zuckte Jan, schob sein viel zu blaues Augenpaar über den linken Ärmel und starrte mich unbegreiflich blau und wäßrig an. Obgleich er, wie Oskar sich flüchtig prüfend überzeugte, nicht verwundet war, weinte er lautlos. Jan Bronski hatte Angst. Ich ignorierte sein Geflenne, wies auf die Blechtrommel des evakuierten Naczalnikschen Sohnes und forderte Jan mit deutlichen Bewegungen auf, bei aller Vorsicht und den toten Winkel des Kinderzimmers nutzend, sich an das Gestell heranzumachen, mir das Blech herunterzulangen. Mein Onkel verstand mich nicht.

Mein mutmaßlicher Vater begriff mich nicht. Der Geliebte meiner armen Mama war mit seiner Angst so beschäftigt und ausgefüllt, daß meine ihn um Hilfe angehenden Gesten allenfalls geeignet waren, seine Angst zu steigern. Oskar hätte ihn anschreien mögen, mußte aber befürchten, vom Kobyella, der nur auf sein Gewehr zu hören schien, entdeckt zu werden.

So legte ich mich links neben Jan hinter die Sandsäcke, drückte mich an ihn, um einen Teil meiner mir geläufigen Gleichmut auf den unglücklichen Onkel und mutmaßlichen Vater zu übertragen. Bald darauf wollte er mir auch etwas ruhiger vorkommen. Es gelang meinem regelmäßig betonten Atem, seinem Puls eine ungefähre Regelmäßigkeit zu empfehlen. Als ich dann allerdings viel zu früh Jan ein zweites Mal auf die Blechtrommel des Naczalnik Junior aufmerksam machte, indem ich seinen Kopf zwar langsam und sanft, schließlich bestimmt in Richtung des mit Spielzeug überladenen Holzgestelles zu drehen versuchte, verstand mich Jan abermals nicht. Angst besetzte ihn von unten nach oben, flutete von oben nach unten zurück, fand unten, vielleicht wegen der Schuhsohlen mit Einlagen, so starken Widerstand, daß die Angst sich Luft machen wollte, aber zurückprallte, über Magen, Milz und Leber flüchtend in seinem armen Kopf dergestalt Platz nahm, daß ihm die Blauaugen vorquollen und verzwickte Äderchen im Weiß zeigten, die Oskar am Augapfel seines mutmaßlichen Vaters wahrzunehmen zuvor nicht Gelegenheit gefunden hatte.

Es kostete mich Mühe und Zeit, die Augäpfel des Onkels zurückzutreiben, seinem Herzen einigen Anstand beizubringen. All mein Fleiß im Dienste der Ästhetik war jedoch umsonst, als die Leute von der Heimwehr zum erstenmal die mittlere Feldhaubitze einsetzten und in direktem Beschuß, durchs Rohr visierend, den Eisenzaun vor dem Postgebäude flach legten, indem sie einen Ziegelpfeiler nach dem anderen mit bewundernswerter Genauigkeit, ein hohes Ausbildungsniveau verratend, ins Knie schlugen und zum endgültigen, das Eisengitter mitreißenden Kniefall zwangen. Mein armer Onkel Jan erlebte jeden Sturz der fünfzehn bis zwanzig Pfeiler mit Herz und Seele und so leidenschaftlich betroffen mit, als stieße man nicht nur Sockel in den Staub, sondern hätte mit den Sockeln auch auf den Sockeln stehende imaginäre, dem Onkel vertraute und lebensnotwendige Götterbilder gestürzt.

Nur so läßt sich erklären, daß Jan jeden Treffer der Haubitze mit schrillem Schrei quittierte, der, wäre er nur bewußter und gezielter geformt gewesen, gleich meinem glastötenden Schrei die Tugend eines scheibenschneidenden Diamanten gehabt hätte. Zwar schrie Jan inbrünstig, aber doch planlos und erreichte schließlich nur, daß der Kobyella seinen knochigen, invaliden Hausmeisterkörper zu uns herüberwarf, seinen mageren, wimpernlosen Vogelkopf hob und wäßrig graue Pupillen über unserer Notgemeinschaft bewegte. Er schüttelte Jan. Jan wimmerte. Er öffnete ihm das Hemd, suchte hastig Jans Körper nach einer Verwundung ab — fast hätte ich lachen müssen —, drehte ihn dann, als sich auch nicht die geringste Verletzung finden ließ, auf den Rücken, packte Jans Kinnlade, verschob die, ließ sie knacken, zwang Jans blauen Bronskiblick, das wäßrig graue Flackern der Kobyellalichter auszuhalten, fluchte ihm polnisch und Speichel sprühend ins Gesicht und warf ihm schließlich jenes Gewehr zu, welches Jan vor seiner extra für ihn ausgesparten Schießscharte bisher unbenutzt hatte liegen lassen; denn die Flinte war nicht einmal entsichert. Der Gewehrkolben schlug trocken gegen seine linke Kniescheibe. Der kurze und nach all den seelischen Schmerzen erstmals körperliche Schmerz schien ihm gut zu tun, denn er faßte das Gewehr, wollte erschrecken, als er die Kälte der Metallteile in den Fingern und gleich darauf im Blut hatte, kroch dann jedoch, vom Kobyella halb fluchend, halb zuredend angefeuert, auf seine Schießscharte zu.

Mein mutmaßlicher Vater hatte eine solch genaue und bei all seiner weich üppigen Phantasie realistische Vorstellung vom Krieg, daß es ihm schwerfiel, ja, unmöglich war, aus mangelnder Einbildungskraft mutig zu sein. Ohne daß er sein Schußfeld durch die ihm zugewiesene Schießscharte wahrgenommen und ein lohnendes Ziel suchend abgetastet hätte, schoß er, das Gewehr schräg, weit von sich und über die Dächer der Häuser am Heveliusplatz richtend, schnell und blindlings ballernd sein Magazin leer, um sich abermals und mit ledigen Händen hinter den Sandsäcken zu verkriechen.

Jener um Nachsicht bittende Blick, den Jan dem Hausmeister aus seinem Versteck zuwarf, las sich wie das schmollend verlegene Schuldbekenntnis eines Schülers ab, der seine Aufgaben nicht gemacht hatte. Kobyella klappte mehrmals mit dem Unterkiefer, lachte dann laut, wie unaufhörlich, brach beängstigend plötzlich das Gelächter ab und trat Bronski, der ja als Postsekretär sein Vorgesetzter war, drei oder viermal gegen das Schienbein, holte schon aus, wollte Jan seinen unförmigen Schnürschuh in die Seite knallen, ließ aber, als Maschinengewehrfeuer die restlichen oberen Scheiben des Kinderzimmers abzählte und die Decke aufrauhte, den orthopädischen Schuh sinken, warf sich hinter sein Gewehr und gab mürrisch und hastig, als wollte er die mit Jan verlorene Zeit einholen, Schuß auf Schuß ab — was alles dem Munitionsverbrauch während des zweiten Weltkrieges zuzuzählen ist.

Hatte der Hausmeister mich nicht bemerkt? Er, der sonst so streng und unnahbar sein konnte, wie nur Kriegsinvaliden einen gewissen respektvollen Abstand herausfordern können, ließ mich in dieser windigen Bude, deren Luft bleihaltig war. Dachte Kobyella etwa: das ist ein Kinderzimmer, folglich darf Oskar hier bleiben und während der Gefechtspausen spielen?

Ich weiß nicht, wie lange wir so lagen: ich zwischen Jan und der linken Zimmerwand, wir beide hinter den Sandsäcken, Kobyella hinter seinem Gewehr, für zwei schießend. Etwa gegen zehn Uhr ebbte das Feuer ab. So still wurde es, daß ich Fliegen brummen hörte, Stimmen und Kommandos vom Heveliusplatz her vernahm und der dumpf grollenden Arbeit der Linienschiffe im Hafenbecken zeitweilig Gehör schenkte. Ein heiterer bis wolkiger Septembertag, die Sonne pinselte Altgold, hauchdünn alles, empfindlich und dennoch schwerhörig. Es stand in den nächsten Tagen mein fünfzehnter Geburtstag bevor. Und ich wünschte mir, wie jedes Jahr im September, eine Blech trommel, nichts Geringeres als eine Blech trommel; auf alle Schätze dieser Welt verzichtend, richtete sich mein Sinnen nur und unverrückbar auf eine Trommel aus weißrot gelacktem Blech.

Jan rührte sich nicht. Kobyella schnaufte so gleichmäßig, daß Oskar schon annahm, er schlafe, nehme die kurze Kampfpause zum Anlaß für ein Nickerchen, weil schließlich alle Menschen, selbst Helden dann und wann eines erfrischenden Nickerchens bedürfen. Nur ich war hellwach und mit aller Unerbittlichkeit meines Alters auf das Blech aus. Nicht etwa, daß mir erst jetzt, während zunehmender Stille und absterbendem Gebrumm einer vom Sommer ermüdeten Fliege, die Blech trommel des jungen Naczalnik wieder in den Sinn gekommen wäre. Oskar hatte sie auch während des Gefechtes, umtobt vom Kampflärm, nicht aus dem Auge gelassen. Jetzt aber wollte sich mir jene Gelegenheit zeigen, die zu versäumen mir jeder Gedanke verbot.

Oskar erhob sich langsam, bewegte sich leise, Glasscherben ausweichend, dennoch zielstrebig auf das Holzgestell mit dem Spielzeug zu, türmte in Gedanken aus einem Kinderstühlchen mit draufgestelltem Baukasten schon ein Podest, das hoch und sicher genug gewesen wäre, ihn zum Besitzer einer funkelnagelneuen Blechtrommel zu machen, da holte mich Kobyellas Stimme und gleich darauf des Hausmeisters trockener Griff ein. Verzweifelt wies ich auf die so nahe Trommel. Kobyella zerrte mich zurück. Mit beiden Armen verlangte ich nach dem Blech. Der Invalide zögerte schon, wollte schon hochlangen, mich glücklich machen, da griff Maschinengewehrfeuer ins Kinderzimmer, vor dem Portal detonierten Panzerabwehrgranaten; Kobyella schleuderte mich in die Ecke zu Jan Bronski, goß sich wieder hinter sein Gewehr und lud schon zum zweitenmal durch, als ich noch immer mit den Augen bei der Blechtrommel war.

Da lag Oskar, und Jan Bronski, mein süßer blauäugiger Onkel, hob nicht einmal die Nase, als mich der Vogelkopf mit dem Klumpfuß und dem Wasserblick ohne Wimpernwuchs kurz vor dem Ziel beiseite, in jene Ecke hinter die Sandsäcke wischte. Nicht etwa, daß Oskar weinte! Wut vermehrte sich in mir.

Fette, weißbläuliche, augenlose Maden vervielfältigten sich, suchten nach einem lohnenden Kadaver: was ging mich Polen an! Was war das, Polen? Die hatten doch ihre Kavallerie! Sollten sie reiten! Die küßten den Damen die Hände und merkten immer zu spät, daß sie nicht einer Dame die müden Finger, sondern einer Feldhaubitze ungeschminkte Mündung geküßt hatten. Und da entlud sie sich schon, die Jungfrau aus dem Geschlecht der Krupp. Da schnalzte sie mit den Lippen, imitierte schlecht und doch echt Schlachtgeräusche, wie sie in Wochenschauen zu hören sind, pfefferte ungenießbare Knallbonbons gegen das Hauptportal der Post, wollte die Bresche schlagen und schlug die Bresche und wollte durch die aufgerissene Schalterhalle hindurch das Treppenhaus anknabbern, damit keiner mehr rauf, keiner runter konnte. Und ihr Gefolge hinter den Maschinengewehren, auch die in den eleganten Panzerspähwagen, die so hübsche Namen wie »Ostmark« und »Sudetenland« draufgepinselt trugen, die konnten nicht genug bekommen, fuhren ratternd, gepanzert und spähend vor der Post auf und ab: zwei junge bildungsbeflissene Damen, die ein Schloß besichtigen wollten, aber das Schloß hatte noch geschlossen. Das steigerte die Ungeduld der verwöhnten, immer Einlaß begehrenden Schönen und zwang sie, Blicke, bleigraue, durchdringliche Blicke vom selben Kaliber in alle einsehbaren Gemächer des Schlosses zu werfen, damit es den Kastellanen heiß, kalt und eng werde.

Gerade rollte der eine Panzerspähwagen — ich glaube, es war die »Ostmark« — von der Rittergasse kommend wieder auf die Post zu, da schob Jan, mein seit geraumer Zeit wie lebloser Onkel, sein rechtes Bein gegen die Schießscharte, hob es in der Hoffnung, ein Spähwagen erspähe es, beschieße es; oder es erbarme sich ein verirrtes Geschoß, streife seine Wade oder Hacke und füge ihm jene Verletzung zu, die dem Soldaten den übertrieben gehumpelten Rückzug gestattet.

Es mochte diese Beinstellung dem Jan Bronski auf die Dauer anstrengend sein. Er mußte sie von Zeit zu Zeit aufgeben. Erst als er sich auf den Rücken drehte, fand er, das Bein mit beiden Händen in der Kniekehle stützend, Kraft genug, um Wade und Hacke andauernder und mit mehr Aussicht auf Erfolg den streunenden und gezielten Geschossen anzubieten.

So groß mein Verständnis für Jan war und heute noch ist, begriff ich doch die Wut des Kobyella, als jener seinen Vorgesetzten, den Postsekretär Bronski, in solch jämmerlicher und verzweifelter Haltung sah. Mit einem Sprung war der Hausmeister hoch, mit dem zweiten bei Uns, über uns, packte schon zu, faßte Jans Stoff und mit dem Stoff Jan, hob das Bündel, schmetterte es zurück, hatte es wieder im Griff, ließ den Stoff krachen, schlug links, hielt rechts, holte rechts aus, ließ links fallen, erwischte noch rechts im Fluge und wollte mit links und rechts gleichzeitig die große Faust machen, die dann zum großen Schlag losschicken, Jan Bronski, meinen Onkel, Oskars mutmaßlichen Vater treffen — da klirrte es, wie vielleicht Engel zur Ehre Gottes klirren, da sang es, wie im Radio der Äther singt, da traf es nicht den Bronski, da traf es Kobyella, da hatte sich eine Granate einen Riesenspaß erlaubt, da lachten Ziegel sich zu Splitt, Scherben zu Staub, Putz wurde Mehl, Holz fand sein Beil, da hüpfte das ganze komische Kinderzimmer auf einem Bein, da platzten dieKäthe-Kruse-Puppen, da ging das Schaukelpferd durch und hätte so gerne einen Reiter zum Abwerfen gehabt, da ergaben sich Fehlkonstruktionen im Märklinbaukasten, und die polnischen Ulanen besetzten alle vier Zimmerecken gleichzeitig — da warf es endlich das Gestell mit dem Spielzeug um: und das Glockenspiel läutete Ostern ein, auf schrie die Ziehharmonika, die Trompete mag wem was geblasen haben, alles gab gleichzeitig Ton an, ein probendes Orchester: das schrie, platzte, wieherte, läutete, zerschellte, barst, knirschte, kreischte, zirpte ganz hoch und grub doch tief unten Fundamente aus. Mir aber, der ich mich, wie es zu einem Dreijährigen paßte, während des Granateinschlages im Schutzengelwinkel des Kinderzimmers dicht unterm Fenster befunden hatte, mir fiel das Blech zu, die Trommel zu — und sie hatte nur wenige Sprünge im Lack und gar kein einziges Loch, Oskars neue Blechtrommel.

Als ich von meinem frischgewonnenen, sozusagen hastenichgesehn direkt vor die Füße gerollten Besitz aufblickte, sah ich mich gezwungen, Jan Bronski zu helfen. Es wollte ihm nicht gelingen, den schweren Körper des Hausmeisters von sich zu wälzen. Zuerst nahm ich an, es hätte auch Jan getroffen; denn er wimmerte sehr natürlich. Schließlich, als wir den Kobyella, der genauso natürlich stöhnte, zur Seite gerollt hatten, erwies sich der Schaden an Jans Körper als unbeträchtlich.

Glassplitter hatten ihm lediglich die rechte Wange und den einen Handrücken geritzt. Ein schneller Vergleich erlaubte mir, festzustellen, daß mein mutmaßlicher Vater helleres Blut als der Hausmeister hatte, dem es die Hosenbeine in Höhe der Oberschenkel saftig und dunkel färbte.

Wer allerdings dem Jan das elegante, graue Jackett zerrissen und umgestülpt hatte, ließ sich nicht mehr in Erfahrung bringen. War es Kobyella oder die Granate? Es fetzte ihm übel von den Schultern, hatte das Futter gelöst, die Knöpfe befreit, die Nähte gespalten und die Taschen gekehrt.

Ich bitte um Nachsicht für meinen armen Jan Bronski, der zuerst alles wieder zusammenkratzte, was ihm ein grobes Unwetter aus den Taschen geschüttelt hatte, bevor er mit meiner Hilfe den Kobyella aus dem Kinderzimmer schleppte. Seinen Kamm fand er wieder, die Fotos seiner Lieben — es war auch ein Brustbild meiner armen Mama dabei — seine Geldbörse hatte sich nicht einmal geöffnet.

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