Vorsichtig ging ich mit den Stücken um, trommelte selten, nur noch notfalls, versagte mir ganze Trommlernachmittage und, widerwillig genug, meine mir den Tag erträglich machenden Trommlerfrühstücke. Oskar übte Askese, magerte ab, wurde dem Dr. Hollatz und dessen immer knochiger werdenden Assistentin Schwester Inge vorgeführt. Die gaben mir süße, saure, bittere und geschmacklose Medizin, sprachen meine Drüsen schuldig, die wechselnd nach der Ansicht des Dr.Hollatz durch Überfunktion oder Unterfunktion mein Wohlbefinden zu stören hatten.
Um dem Hollatz zu entgehen, übte Oskar seine Askese mäßiger, nahm wieder zu, war im Sommer neununddreißig annähernd der alte, dreijährige Oskar, der sich die Rückgewinnung seiner Pausbäckigkeit mit dem endgültigen Zerschlagen der letzten, noch vom Markus stammenden Trommel erkaufte. Das Blech klaffte, klapperte haltlos, gab weißen und roten Lack auf, rostete und hing mir mißtönend vor dem Bauch.
Es wäre sinnlos gewesen, Matzerath um Hilfe anzugehen, obgleich jener von Natur aus hilfsbereit, sogar gutmütig war. Seit dem Tode meiner armen Mama dachte der Mann nur noch an seinen Parteikram, zerstreute sich mit Zellenleiterbesprechungen oder unterhielt sich um Mitternacht, nach starkem Alkoholgenuß, laut und vertraulich mit den schwarzgerahmten Abbildungen Hitlers und Beethovens in unserem Wohnzimmer, ließ sich vom Genie das Schicksal und vom Führer die Vorsehung erklären und sah das Sammeln für die Winterhilfe im nüchternen Zustand als sein vorgesehenes Schicksal an.
Ungern erinnere ich mich dieser Sammlersonntage. Unternahm ich doch an solch einem Tag den ohnmächtigen Versuch, in den Besitz einer neuen Trommel zu gelangen. Matzerath, der vormittags auf der Hauptstraße vor den Kunstlichtspielen, auch vor dem Kaufhaus Sternfeld gesammelt hatte, kam mittags nach Hause und wärmte für sich und mich die Königsberger Klopse auf. Nach dem, wie ich .mich heute noch erinnere, schmackhaften Essen — Matzerath kochte selbst als Witwer leidenschaftlich gerne und vorzüglich — legte sich der müde Sammler auf die Chaiselongue, um ein Nickerchen zu machen. Kaum atmete er schlafgerecht, griff ich mir auch schon die halbvolle Sammelbüchse vom Klavier, verschwand mit dem Ding, das die Form einer Konservendose hatte, im Laden unter dem Ladentisch und verging mich an der lächerlichsten aller Blechbüchsen. Nicht etwa, daß ich mich an den Groschenstücken hätte bereichern wollen! Ein blöder Sinn befahl mir, das Ding als Trommel auszuprobieren. Wie ich auch schlug und die Stöcke mischte, immer gab es nur eine Antwort: Kleine Spende fürs WHW! Keiner soll hungern, keiner soll frieren! Kleine Spende fürs WHW!
Nach einer halben Stunde resignierte ich, langte mir aus der Ladenkasse fünf Guldenpfennige, spendete die fürs Winterhilfswerk und brachte die so bereicherte Sammelbüchse zurück zum Klavier, damit Matzerath sie finden und den restlichen Sonntag fürs WHW klappernd totschlagen konnte.
Dieser mißglückte Versuch heilte mich für immer. Nie mehr habe ich ernsthaft versucht, eine Konservendose, einen umgestülpten Eimer, die Standfläche einer Waschschüssel als Trommel zu benutzen. Wenn ich es dennoch getan habe, bemühe ich mich, diese ruhmlosen Episoden zu vergessen, und räume ihnen auf diesem Papier keinen oder so wenig wie möglich Platz ein. Eine Konservendose ist eben keine Blechtrommel, ein Eimer ist ein Eimer, und in einer Waschschüssel wäscht man sich oder seine Strümpfe. So wie es heute keinen Ersatz gibt, gab es schon damals keinen; eine weißrot geflammte Blechtrommel spricht für sich, bedarf also keiner Fürsprache.
Oskar war allein, verraten und verkauft. Wie sollte er auf die Dauer sein dreijähriges Gesicht bewahren können, wenn es ihm am Notwendigsten, an seiner Trommel fehlte? All die jahrelangen Täuschungsversuche wie: gelegentliches Bettnässen, allabendliches kindliches Plappern der Abendgebete, die Angst vor dem Weihnachtsmann, der in Wirklichkeit Greif hieß, das unermüdliche Stellen dreijähriger, typisch drolliger Fragen wie: Warum haben die Autos Räder? all diesen Krampf, den die Erwachsenen von mir erwarteten, mußte ich ohne meine Trommel leisten, war bald kurz vorm Aufgeben und suchte deshalb verzweifelt jenen, der zwar nicht mein Vater war, der mich jedoch höchstwahrscheinlich gezeugt hatte, Oskar wartete nahe der Polensiedlung an der Ringstraße auf Jan Bronski.
Der Tod meiner armen Mama hatte das zuweilen fast freundschaftliche Verhältnis zwischen Matzerath und dem inzwischen zum Postsekretär avancierten Onkel, wenn nicht auf einmal und plötzlich, so doch nach und nach, und je mehr sich die politischen Zustände zuspitzten, um so endgültiger entflochten, trotz schönster gemeinsamer Erinnerungen gelöst. Mit dem Zerfall der schlanken Seele, des üppigen Körpers meiner Mama, zerfiel die Freundschaft zweier Männer, die sich beide in jener Seele gespiegelt, die beide von jenem Fleisch gezehrt hatten, die nun, da diese Kost und dieser Konvexspiegel wegfielen, nichts Unzulängliches fanden als ihre politisch gegensätzlichen, jedoch den gleichen Tabak rauchenden Männerversammlungen. Aber eine Polnische Post und hemdsärmelige Zellenleiterbesprechungen können keine schöne und selbst beim Ehebruch noch gefühlvolle Frau ersetzen. Bei aller Vorsicht — Matzerath mußte auf die Kundschaft und die Partei, Jan auf die Postverwaltung Rücksicht nehmen — kam es während der kurzen Zeitspanne zwischen dem Tode meiner armen Mama und dem Ende des Sigismund Markus dennoch zu Begegnungen meiner beiden mutmaßlichen Väter.
Um Mitternacht hörte man zwei-oder dreimal im Monat Jans Knöchel an den Scheiben unserer Wohnzimmerfenster. Wenn Matzerath dann die Gardine zurückschob, das Fenster einen Spalt weit öffnete, war die Verlegenheit beiderseits grenzenlos, bis der eine oder der andere das erlösende Wort fand, einen Skat zu später Stunde vorschlug. Den Greff holten sie aus seinem Gemüseladen, und wenn der nicht wollte, wegen Jan nicht wollte, nicht wollte, weil er als ehemaliger Pfadfinderführer — er hatte seine Gruppe inzwischen aufgelöst — vorsichtig sein mußte, dazu schlecht und nicht allzu gerne Skat spielte, dann war es meistens der Bäcker Alexander Scheffler, der den dritten Mann abgab. Zwar saß auch der Bäckermeister ungern meinem Onkel Jan am selben Tisch gegenüber, aber eine gewisse Anhänglichkeit an meine arme Mama, die sich wie ein Erbstück auf Matzerath übertrug, auch der Grundsatz Schefflers, daß Geschäftsleute des Einzelhandels zusammenhalten müßten, ließen den kurzbeinigen Bäcker, von Matzerath gerufen, aus dem Kleinhammerweg herbeieilen, am Tisch unseres Wohnzimmers Platz nehmen, mit bleichen, wurmstichigen Mehlfingern die Karten mischen und wie Semmeln unters hungrige Volk verteilen.
Da diese verbotenen Spiele zumeist erst nach Mitternacht begannen und um drei Uhr früh, da Scheffler in seine Backstube mußte, abgebrochen wurden, gelang es mir nur selten, in meinem Nachthemd, jedes Geräusch vermeidend, meinem Bettchen zu entkommen und ungesehen, auch ohne Trommel, den schattigen Winkel unter dem Tisch zu erreichen.
Wie Sie zuvor schon bemerkt haben werden, ergab sich mir unter dem Tisch seit jeher die bequemste Art aller Betrachtungen: ich stellte Vergleiche an. Doch wie hatte sich seit dem Hingang meiner armen Mama alles geändert! Da versuchte kein Jan Bronski, oben vorsichtig und dennoch Spiel um Spiel verlierend, unten kühn, mit schuhlosem Strumpf Eroberungen zwischen den Schenkeln meiner Mama zu machen. Unter dem Skattisch jener Jahre gab es keine Erotik mehr, geschweige denn Liebe. Sechs Hosenbeine bespannten, verschiedene Fischgrätenmuster zeigend, sechs nackte, oder Unterhosen bevorzugende, mehr oder weniger behaarte Männerbeine, die sich sechsmal unten Mühe gaben, keine noch so zufällige Berührung zu finden, die oben, zu Rümpfen, Köpfen, Armen vereinfacht und erweitert, sich eines Spieles befleißigten, das aus politischen Gründen hätte verboten sein müssen, das aber in jedem Falle eines verlorenen oder gewonnenen Spieles die Entschuldigung, auch den Triumph zuließ: Polen hat einen Grand Hand verloren; die Freie Stadt Danzig gewann soeben für das Großdeutsche Reich bombensicher einen Karo einfach.
Der Tag ließ sich voraussehen, da diese Manöverspiele ihr Ende finden würden — wie ja alle Manöver eines Tages beendet und auf erweiterter Ebene anläßlich eines sogenannten Ernstfalles in nackte Tatsachen verwandelt werden.
Im Frühsommer neununddreißig zeigte es sich, daß Matzerath bei den wöchentlichen Zellenleiterbesprechungen unverfänglichere Skatbrüder als polnische Postbeamte und ehemalige Pfadfinderführer fand. Jan Bronski besann sich notgedrungen seines ihm zugewiesenen Lagers, hielt sich an die Leute der Post, so an den invaliden Hausmeister Kobyella, der seit seiner Dienstzeit in Marsza ek Pilsudskis legendärer Legion auf einem um einige Zentimeter zu kurzen Bein stand. Trotz dieses Hinkebeines war der Kobyella ein tüchtiger Hausmeister, mithin ein handwerklich geschickter Mann, von dessen eventueller Gutwilligkeit ich die Reparatur meiner kranken Trommel erhoffen durfte. Nur weil der Weg zum Kobyella über Jan Bronski führte, stellte ich mich fast jeden Nachmittag gegen sechs, selbst bei drückendster Augusthitze in der Nähe der Polensiedlung auf und wartete auf den nach Dienstschluß zumeist pünktlich heimkehrenden Jan. Er kam nicht. Ohne mir eigentlich die Frage zu stellen: was treibt dein mutmaßlicher Vater nach Feierabend? wartete ich oft bis sieben, halb acht. Aber er kam nicht. Ich hätte zur Tante Hedwig gehen können. Womöglich war Jan krank, fieberte oder bewahrte ein gebrochenes Bein im Gipsverband auf. Oskar blieb auf dem Fleck und begnügte sich damit, dann und wann Fenster und Gardinen der Postsekretärswohnung zu fixieren. Eine merkwürdige Scheu hielt Oskar davon ab, seine Tante Hedwig aufzusuchen, deren Blick aus warm mütterlichen Kuhaugen ihn traurig stimmte. Auch mochte er die Kinder der Bronskischen Ehe, die mutmaßlich seine Halbgeschwister waren, nicht besonders. Die gingen mit ihm um wie mit einer Puppe. Die wollten mit ihm spielen, ihn als Spielzeug benutzen. Woher nahm der mit Oskar fast gleichaltrige, fünfzehnjährige Stephan das Recht, ihn väterlich, immer belehrend und von oben herab zu behandeln? Und jene zehnjährige Marga mit Zöpfen und einem Gesicht, in dem ständig der Mond voll und fett aufging: sah sie in Oskar eine willenlose Ankleidepuppe, die man stundenlang kämmen, bürsten, zurechtzupfen und erziehen konnte? Natürlich sahen die beiden in mir das anomale, bedauernswerte Zwergenkind, kamen sich selbst gesund und vielversprechend vor, waren ja auch die Lieblinge meiner Großmutter Koljaiczek, der ich es leider schwer machen mußte, in mir einen Liebling zu sehen. Mir konnte man mit Märchen und Bilderbüchern kaum beikommen. Was ich von der Großmutter erwartete, selbst heute noch breit und genußvoll ausmale, war recht eindeutig und deshalb nur selten zu erlangen: Oskar wollte, sobald er sie sah, seinem Großvater Koljaiczek nacheifern, bei ihr untertauchen und, wenn möglich, nie wieder außerhalb ihres Windschattens atmen müssen.
Was habe ich nicht alles getan, um unter die Röcke meiner Großmutter zu gelangen! Ich kann nicht sagen, daß sie es nicht mochte, wenn Oskar ihr darunter saß. Nur zögerte sie, wies mich auch meistens zurück, hätte wohl jedem halbwegs dem Koljaiczek Ähnlichen. Zuflucht geboten, nur mir, der ich weder die Figur noch das immer lockere Streichholz des Brandstifters hatte, mußten trojanische Pferde einfallen, um in die Festung gelangen zu können.
Oskar sieht sich wie ein echter Dreijähriger mit einem Gummiball spielen, bemerkt, wie jener Oskar zufällig den Ball unter die Röcke rollen läßt, dann dem runden Vorwand nachgleitet, bevor Seine Großmutter die List durchschauen, den Ball zurückgeben kann.
Wenn die Erwachsenen dabei waren, duldete mich meine Großmutter nie lange unter den Röcken. Die Erwachsenen verspotteten sie, erinnerten sie mit oftmals anzüglichen Worten an ihre Brautzeitauf dem herbstlichen Kartoffelacker, ließen die Großmutter, die von Natur her nicht bleich war, heftig und anhaltend erröten, was der Sechzigjährigen unter fast weißem Haar nicht schlecht zu Gesicht stand.
Wenn meine Großmutter Anna jedoch alleine war — selten kam es vor und immer seltener sah ich sie nach dem Tode meiner armen Mama, und kaum noch, seit sie den Marktstand auf dem Langfuhrer Wochenmarkt hatte aufgeben müssen — duldete sie mich eher, freiwilliger und länger unter den kartoffelfarbenen Röcken. Nicht einmal den dummen Trick mit dem noch dümmeren Gummiball brauchte es, um Einlaß zu finden. Mit meiner Trommel über die Dielen rutschend, ein Bein unterschlagend, das andere gegen die Möbel stemmend, schob ich mich in Richtung des großmütterlichen Berges, hob, am Fuße angelangt, mit den Trommelstöcken die vierfache Hülle, war schon darunter, ließ den Vorhang viermal und gleichzeitig fallen, blieb ein Minütchen lang still und ergab mich ganz, mit allen Poren atmend, dem strengen Geruch leicht ranziger Butter, der immer und durch keine Saison beeinflußt, unter jenen vier Röcken vorherrschte. Erst dann begann Oskar zu trommeln. Wußte er doch, was seine Großmutter gerne hörte, und so trommelte ich oktoberliche Regengeräusche, ähnlich jenen, die sie damals hinter dem Kartoffelkrautfeuer gehört haben muß, als ihr der Koljaiczek mit dem Geruch eines heftig verfolgten Brandstifters unterlief. Einen feinen schrägen Regen ließ ich aufs Blech fallen, bis über mir Seufzer und heilige Namen laut wurden, und es bleibt Ihnen überlassen, hier jene Seufzer und heiligen Vornamen wiederzuerkennen, die damals im Jahre neunundneunzig laut wurden, als meine Großmutter im Regen saß und der Koljaiczek im Trocknen.
Als ich im August neununddreißig der Polensiedlung gegenüber auf Jan Bronski wartete, dachte ich oft an meine Großmutter. Es hätte ja sein können, daß sie bei der Tante Hedwig zu Besuch war. Wie verlockend auch der Gedanke sein mochte, unter Röcken sitzend ranzigen Buttergeruch einatmen zu können, stieg ich dennoch nicht die zwei Treppen hoch, klingelte nicht an der Tür mit dem Namenschild: Jan Bronski. Was hätte Oskar auch seiner Großmutter bieten können? Seine Trommel war zerschlagen, seine Trommel gab nichts mehr her, seine Trommel hatte vergessen, wie sich ein Regen anhört, der im Oktober fein und schräge auf ein Kartoffelkrautfeuer fällt. Und da Oskars Großmutter nur mit der Geräuschkulisse herbstlicher Niederschläge beizukommen war, blieb er auf der Ringstraße, sah jenen Straßenbahnen entgegen und nach, die den Heeresanger rauf und runter klingelten und alle der Linie Fünf dienten.
Wartete ich noch auf Jan? Hatte ich es nicht schon aufgegeben und stand nur noch auf meinem Fleck, weil mir noch keine passable Form fürs Aufgeben eingefallen war? Längeres Warten wirkt sich erzieherisch aus. Es kann aber auch längeres Warten den Wartenden dazu verführen, die zu erwartende Begrüßungsszene so ins Detail gehend auszumalen, daß dem Erwarteten jede Chance einer geglückten Überraschung genommen wird. Jan überraschte mich dennoch. Vom Ehrgeiz besessen, ihn, den Unvorbereiteten zuerst zu erblicken, mit den Resten meiner Trommel antrommeln zu können, stand ich gespannt und mit griffbereiten Stöcken auf meinem Fleck.