Die Blechtrommel (27 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

BOOK: Die Blechtrommel
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»Du endest noch mal wie dein Vater jeendet is«, stichelte sie dem schwer atmenden, aufstöhnenden Herbert ins Ohr. Doch nie sagte sie deutlich, wie und wo jener Mann im schwarzen Lackrahmen sein Ende gefunden oder womöglich gesucht hatte.»Wä warres denn diesmal?« wollte die grauhaarige Maus über verschränkten Armen wissen.

»Schweden und Norske, wie immer«, wälzte sich Herbert, und das Bett krachte.

»Wie immer, wie immer! Tu bloß nich so, als wenn es immer nur die wären. Letztes Mal waren es welche von dem Schulschiff, wie heißtes schon, nu sag doch, na, vonne >Schlageter<, was hab ich gesagt, und du redst mir von Schwedens und Norske!«

Herberts Ohr — ich sah sein Gesicht nicht — wurde rot bis hinter die Ränder: »Diese Heinis, immer die Fresse aufreißen und dicken Mann markieren!«

»Laß sie doch, die Jungs. Was jeht das dich an. Inne Stadt, wenn man se sieht, wenn se Ausgang haben, sehen se immer ordentlich aus. Hast sie wohl wieder von deine Ideen mit Lenin erzählt, oder hast dir im spanischen Birjerkriech reingemischt?«

Herbert gab keine Antwort mehr, und Mutter Truczinski schlorrte in die Küche zu ihrem Malzkaffee.

Sobald Herberts Rücken ausgeheilt war, durfte ich ihn ansehen. Er saß dann auf dem Küchenstuhl, ließ die Hosenträger über die blaubetuchten Schenkel fallen, streifte sich langsam, als ließen ihn schwierige Gedanken zögern, das Wollhemd ab.

Der Rücken war rund, beweglich. Muskeln wanderten unermüdlich. Eine rosige Landschaft, mit Sommersprossen besät. Unterhalb der Schulterblätter wucherte fuchsiges Haar beiderseits der im Fett eingebetteten Wirbelsäule. Abwärts kräuselte es, bis es in jenen Unterhosen verschwand, die Herbert auch im Sommer trug. Aufwärts, vom Rand der Unterhosen bis zu den Halsmuskeln bedeckten den Rücken wulstige, den Haarwuchs unterbrechende, Sommersprossen tilgende, Falten ziehende, bei Wetterumschlag juckende, vielfarbige, vom Blauschwarz bis zum grünlichen Weiß abgestufte Narben.

Diese Narben durfte ich anfassen.

Was habe ich, der ich zu Bett liege, aus dem Fenster blicke, die Wirtschaftsgebäude der Heil-und Pflegeanstalt und den darunterliegenden Oberrather Wald seit Monaten betrachte und dennoch gründlich übersehe, was habe ich bis zu diesem Tage anfassen dürfen, das gleich hart, gleich empfindlich und gleich verwirrend war wie die Narben auf Herbert Truczinskis Rücken? Es sind dieses die Teile einiger Mädchen und Frauen, mein eigenes Glied, das gipserne Gießkännchen des Jesusknaben und jener Ringfinger, den mir vor knapp zwei Jahren der Hund aus dem Roggenfeld brachte, den ich vor einem Jahr noch hüten durfte, in einem Einmachglas zwar und unantastbar, dennoch so deutlich und vollzählig, daß ich jetzt noch jedes Glied des Fingers spüren und abzählen kann, wenn ich nur zu meinen Trommelstöcken greife. Immer wenn ich mich an die Narben auf Herbert Truczinskis Rücken erinnern wollte, saß ich trommelnd, also trommelnd dem Gedächtnis nachhelfend, vor dem Weckglas mit dem Finger. Immer wenn ich, was selten genug vorkam, dem Körper einer Frau nachging, erfand ich mir, von den narbenähnlichen Teilen einer Frau nicht ausreichend überzeugt, Herbert Truczinskis Narben.

Aber genau so gut könnte ich sagen: Die ersten Berührungen jener Wülste auf dem weiten Rücken des Freundes verhießen mir schon damals Bekanntschaft und zeitweiligen Besitz jener Verhärtungen, die zur Liebe bereite Frauen kurzfristig an sich haben. Gleichfalls versprachen mir die Zeichen auf Herberts Rücken zu jenem frühen Zeitpunkt schon den Ringfinger, und bevor mir Herberts Narben Versprechungen machten, waren es die Trommelstöcke, die mir vom dritten Geburtstag an die Narben, Fortpflanzungsorgane und endlich den Ringfinger versprachen. Doch muß ich noch weiter zurückgreifen: schon als Embryo, als Oskar noch gar nicht Oskar hieß, verhieß mir das Spiel mit meiner Nabelschnur nacheinander die Trommelstöcke, Herberts Narben, die gelegentlich aufbrechenden Krater jüngerer und älterer Frauen, schließlich den Ringfinger und immer wieder, vom Gießkännchen des Jesusknaben an, mein eigenes Geschlecht, das ich unentwegt, wie das launenhafte Denkmal meiner Ohnmacht und begrenzten Möglichkeiten, bei mir trage.

Heute bin ich wieder bei den Trommelstöcken angelangt. An Narben, Weichteile, an meine eigene, nur noch dann und wann starktuende Ausrüstung erinnere ich mich allenfalls über den Umweg, den meine Trommel vorschreibt. Dreißig muß ich werden, um meinen dritten Geburtstag abermals feiern zu können. Sie werden es erraten haben: Oskars Ziel ist die Rückkehr zur Nabelschnur; alleine deshalb der ganze Aufwand und das Verweilen bei Herbert Truczinskis Narben.

Bevor ich weiterhin des Freundes Rücken beschreibe und deute, schicke ich voraus, daß sich, bis auf eine Bißwunde am linken Schienbein, die ihm eine Prostituierte aus Ohra hinterlassen hatte, auf der Vorderseite seines mächtigen, kaum zu schützenden, also zielbreiten Körpers keine Narben befanden.

Nur von hinten konnten sie gegen ihn an. Nur von hinten war er zu erreichen, nur seinen Rücken zeichneten die finnischen und polnischen Messer, die Poggenkniefe der Stauer von der Speicherinsel, die Segelmesser der Kadetten von den Schulschiffen.

Wenn Herbert zu Mittag gegessen hatte — dreimal in der Woche gab es Kartoffelflinsen, die niemand so dünn, fettarm und dennoch knusprig wie Mutter Truczinski backen konnte — wenn Herbert also den Teller zur Seite schob, reichte ich ihm die »Neuesten Nachrichten«. Er ließ die Hosenträger herunter, pellte sich das Hemd ab und ließ mich, während er las, seinen Rücken befragen. Auch Mutter Truczinski saß während dieser Fragestunden meistens am Tisch, ribbelte die Wolle alter Strümpfe auf, machte zustimmende oder abfällige Bemerkungen und versäumte nicht, von Zeit zu Zeit auf den — wie man annehmen kann — schrecklichen Tod jenes Mannes hinzuweisen,der fotografiert und retouschiert hinter Glas, Herberts Bett gegern über, an der Wand hing.

Die Befragung begann, indem ich mit dem Finger auf eine der Narben tippte. Manchmal tippte ich auch mit einem meiner Trommelstöcke.

»Drück nochmal, Jung. Ich weiß nich, welche. Die scheint heut' zu schlafen.« Dann drückte ich nochmals, nachdrücklicher.

»Ach die! Das war'n Ukrainer. Der hatte es mit einem aus Gdingen. Zuerst saßen sie wie de Brieder an einem Tisch. Und denn sagte der aus Gdingen zu dem anderen: Ruski. Das vätrug der Ukrainer nich, der alles megliche nur kein Ruski nich sein wollt'. Mit Holz warrer de Weichsel runterjekommen und vorher noch paar andere Flüsse, und nu hatter ne Menge Geld im Stiebel und hält' auch schon den halben Stiebel voll beim Starbusch rundenweise anjelegt, als der aus Gdingen Ruski sagt, und ich die beiden gleich darauf trennen muß, ganz sachte, wie das so meine Art ist. Und Häbert hat noch beide Hände voll zu tun, da sagt der Ukrainer Wasserpollack zu mir, und der Pollack, der tagsüber auffem Bagger Modder hochhievte, der hing mir'n Wort an, das sich wie Nazi anhörte. Nu, Oskarchen, du kennst ja den Häbert Truczinski: der vom Bagger, son blasser Heizertyp, lag schnell und verknautscht vor de Garderobe. Und grad wollt ich dem Ukrainer erklären, was der Unterschied zwischen nem Wasserpollack und nem Danziger Bowke ist, da pikt der mir von hinten — und das is de Narbe.«

Wenn Herbert »und das is de Narbe« sagte, blätterte er immer gleichzeitig, sein Wort bekräftigend, die Zeitung um und trank einen Schluck Malzkaffee, bevor ich auf die nächste Narbe drücken durfte, ein oder zweimal.

»Ach die! Das is man aber nur ne ganz bescheidene. Das war, als vor zwai Jahren etwa die Torpedobootflottille aus Pillau hier festmachte, dicke tat, >Blaue Jungs< spielte und de Marjellchen meschugge wurden. Wie der Schwiemel zur Marine jekommen ist, blaibt mir heute noch schleierhaft.

Aus Dresden kam der, stell dir das vor, Oskarchen, aus Dresden! Aber du hast ja kaine blasse Ahnung, was das heißt, wenn nen Mariner aus Dresden kommt.«

Um Herberts Sinne, die sich allzu beharrlich in der schönen Elbestadt Dresden ergingen, von dort fortzulocken, um sie wieder in Neufahrwasser zu beheimaten, stippte ich noch einmal die, wie er meinte, ganz bescheidene Narbe.

»Na ja, sagte doch schon. Warren Signalgast auffem Torpedoboot. Wollte mächtige Töne riskieren und nen ruhigen Schotten, dem sein Kahn im Trockendock lag, auf de Schippe nehmen. Von wegen Chamberlain, Regenschirm und so. Ich riet ihm ganz ruhig, wie das so meine Art ist, son Jerede sein zu lassen, zumal der Schotte kain Wort verstand und immer nur mit Schnaps auf de Tischplatte malte.

Und wie ich sag, laß das Jungchen, du bist hier nich bei Euch, sondern beim Völkerbund, da sagt der Torpedofritze >Beutedeutscher< zu mir, das auf sächsisch, verstehste — und hatte gleich ein paar kleben, was ihn auch ruhig machte. Ne halbe Stunde später erst, ich bückt mir grade nach nem Gulden, der unterm Tisch jekullert war, und könnt nicht sehn, weil duster war unterm Tisch, da holt der Sachse sein Pikpik und macht ganz schnell pik!«

Lachend blätterte Herbert in den »Neuesten Nachrichten«, sagte noch: »Und das is de Narbe«, schob dann die Zeitung der brummelnden Mutter Truczinski hin und machte Anstalten, aufzustehen. Schnell, bevor Herbert aufs Klo gehen konnte — ich sah seinem Gesicht an, wo er hinwollte — schon drückte er sich an der Tischkante hoch, da tippte ich auf eine schwarzviolette, genähte Narbe, die so breit war, wie eine Skatkarte lang ist.

»Häbert muß auffem Klo, Jungchen. Nachher sag ich dir.« Aber ich tippte nochmals, strampelte, machte auf dreijährig; das half immer.

»Na scheen. Damit Ruh is. Aber ganz kurz nur.« Herbert setzte sich wieder. »Das war Weihnachten anno dreißig. Im Hafen war nischt los. Die Stauer lungerten an de Straßenecken und spuckten auf Länge. Nach de Mitternachtsmesse — wir hatten den Punsch grade färtig — kamen scheen sauber jekämmt und in Blau und Lack die Schweden und die Finnen aus de Seemannskirche jegenieber. Ich ahn schon nichts Gutes, steh inne Tür von uns und seh mir die auffallend frommen Jesichter an, denk, was spielen die so midde Ankerknöppe, da geht es auch schon los: lang sind de Messer und kurz is de Nacht! Na, Finnen und Schweden hatten schon immer was voreinander iebrig. Was aber Häbert Truczinski mit die zu tun hatte, weiß der Deibel. Dem beißt der Äff', denn wenn was los is, darf Häbert nich fehlen. Nix wie raus aus die Tür, und der Starbusch ruft noch: >Sieh dir vor, Häbert !< Aber der hat ne Mission, der will dem Pfarrer, son klain Jungsken, grad frisch von Malmö jekommen, äußern Seminar, und hat noch kein Weihnachten nich mitjemacht mit Finnen und Schweden inne selbe Kirche, dem will er also retten, unter die Arme greifen, damit er auch fein jesund nach Hause kommt, da hab ich, kaum daß ich dem Gottesmann am Tuch zu fassen kriege, das saubere Ding hinten schon drinnen und denk noch >Prost Neujahr<, dabei hatten wir Heiligabend. Und wie ich wieder zu mir komm, da lieg ich schon bei uns auf de Theke und mein scheenes Blut läuft in de Biergläser gratis, und der Starbusch kommt mit seinem Pflasterkasten vons Rote Kreuz und will mir den sojenannten Notverband anlegen.«

»Was mischte dir
da
auch rein«, ärgerte sich Mutter Truczinski und zog sich eine Stricknadel aus dem Dutt. »Dabei gehste sonst nie nich inne Kirche. Im Gegenteil!«

Herbert winkte ab, ging, das Hemd mitschleifend, die Hosenträger hängen lassend, aufs Klo. Ärgerlich ging er, sagte auch ärgerlich: »Und das is de Narbe«, trat diesen Gang an, als wollte er sich von der Kirche und den mit ihr verbundenen Messerstechereien ein für allemaldistanzieren, als sei das Klo der Ort, auf dem man Freidenker ist, wird oder bleibt.

Wenige Wochen später fand ich Herbert wortlos und zu keiner Fragestunde bereit. Vergrämt kam er mir vor und hatte dennoch nicht den gewohnten Rückenverband. Vielmehr fand ich ihn ganz normal auf dem Rücken liegend im Wohnzimmer auf dem Sofa. Er lag nicht als Verletzter in seinem Bett und schien dennoch schwer verletzt zu sein. Seufzen hörte ich Herbert, Gott, Marx und Engels anrufen und verfluchen. Ab und zu schüttelte er die Faust in der Zimmerluft, ließ die dann auf seine Brust fallen, half mit der anderen Faust nach, und er behämmerte sich wie ein Katholik, der mea culpa ruft, mea maxima culpa.

Herbert hatte einen lettischen Kapitän erschlagen. Zwar sprach das Gericht ihn frei — er hatte, wie das in seinem Beruf oft genug vorkommt, aus Notwehr gehandelt. Der Leite jedoch blieb trotz des Freispruches ein toter Leite und belastete den Kellner zentnerschwer, obgleich es von dem Kapitän hieß: er war ein zierliches, obendrein magenkrankes Männlein.

Herbert ging nicht mehr zur Arbeit. Er hatte gekündigt. Oft kam der Wirt Starbusch, setzte sich zu Herbert neben das Sofa oder zu Mutler Truczinski an den Küchentisch, holte für Herbert eine Flasche Stobbes Machandel nullnull aus seiner Aktentasche, für Mutter Truczinski ein halbes Pfund ungebrannten Bohnenkaffee, der aus dem Freihafen stammte. Entweder versuchte er, Herbert zu bereden, oder er beredete Mutter Truczinski, ihren Sohn zu bereden. Aber Herbert blieb hart oder weich — wie man es nennen will —, er wollte nicht mehr kellnern, in Neufahrwasser, der Seemannskirche gegenüber, schon ganz und gar nicht. Überhaupt nicht mehr kellnern wollte er; denn wer kellnert, wird gestochen, und wer gestochen wird, schlägt eines Tages einen kleinen lettischen Kapitän tot, nur weil er sich den Kapitän vom Leibe halten will, nur weil er einem lettischen Messer nicht erlauben will, neben all den finnischen, schwedischen, polnischen, freistädtischen und reichsdeutschen Narben noch eine lettische Narbe auf dem kreuz und quer gepflügten Rücken eines Herbert Truczinski zu hinterlassen.

»Eher geh ich zum Zoll, als daß ich mir noch mal mecht auf Kellnern in Fahrwasser einlassen«, sagte Herbert. Aber er ging nicht zum Zoll.

NIOBE

Im Jahre achtunddreißig wurden die Zölle erhöht, zeitweilig die Grenzen zwischen Polen und dem Freistaat geschlossen. Meine Großmutter konnte nicht mehr mit der Kleinbahn zum Langfuhrer Wochenmarkt kommen; ihren Stand mußle sie schließen. Sie blieb sozusagen auf ihren Eiern sitzen, ohne die rechte Lust zum Brüten zu haben. Im Hafen stanken die Heringe zum Himmel, die Ware stapelte sich, und die Staatsmänner trafen sich, wurden sich einig; nur mein Freund Herbert lag zwiespältig und arbeitslos auf dem Sofa und grübelte wie ein echter vergrübelter Mensch.

Dabei bot der Zoll Lohn und Brot. Grüne Uniformen bot er und eine grüne, bewachenswerte Grenze.

Herbert ging nicht zum Zoll, wollte nicht mehr kellnern, wollte nur noch auf dem Sofa liegen und grübeln.

Aber der Mensch muß eine Arbeit haben. Nicht nur Mutter Truczinski dachte so. Obgleich sie es ablehnte, auf Geheiß des Wirtes Starbusch ihren Sohn Herbert zum abermaligen Kellnern in Fahrwasser zu bereden, war sie dennoch dafür, Herbert vom Sofa zu locken. Auch er hatte die Zweizimmerwohnung bald satt, grübelte nur noch rein äußerlich und begann eines Tages, die Stellenangebote in den »Neuesten Nachrichten« und, widerwillig genug, im »Vorposten« nach einem Schauerchen durchzusehen.

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