Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (63 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Das hing anfangs noch mit den Läusen zusammen und wurde dann zur Gewohnheit. Die Läuse entdeckte er zuerst bei Kurtchen, dann bei mir, bei Maria und bei sich. Wahrscheinlich hatte uns jener Kalmücke die Läuse hinterlassen, der Maria den Matzerath genommen hatte. Wie schrie der Herr Fajngold, als er die Läuse entdeckte. Nach seiner Frau und seinen Kindern rief er, verdächtigte seine ganze Familie des Ungeziefers, handelte Pakete verschiedenartigster Desinfektionsmittel gegen Kunsthonig und Haferflocken ein und begann, sich selbst, seine ganze Familie, das Kurtchen, Maria und mich, auch mein Krankenbett tagtäglich zu desinfizieren. Er rieb uns ein, bespritzte und puderte uns. Und während er spritzte, puderte und einrieb, blühte mein Fieber, floß seine Rede, erfuhr ich von Güterwagen voller Karbol, Chlor und Lysol, die er gespritzt, gestreut und gesprenkelt hatte, als er noch Desinfektor im Lager Treblinka gewesen war und jeden Mittag um zwei die Lagerstraßen, Baracken, die Duschräume, Verbrennungsöfen, die gebündelten Kleider, die Wartenden, die noch nicht geduscht hatten, die Liegenden, die schon geduscht hatten, alles was aus den Öfen herauskam, alles was in die Öfen hineinwollte, als Desinfektor Mariusz Fajngold tagtäglich mit Lysolwasser besprenkelt hatte. Und er zählte mir die Namen auf, denn er kannte alle Namen: vom Bilauer erzählte er, der dem Desinfektor eines Tages im heißesten August geraten hatte, die Lagerstraßen von Treblinka nicht mit Lysolwasser, sondern mit Petroleum zu besprenkeln. Das tat Herr Fajngold. Und der Bilauer hatte das Streichholz. Und der alte Zew Kurland von der ZOB nahm allen den Eid. ab.

Und der Ingenieur Galewski brach die Waffenkammer auf. Und der Bilauer erschoß den Herrn Hauptsturmführer Kutner. Und der Sztulbach und der Wary ski rauf auf den Zisenis. Und die anderen gegen die Trawnikileute. Und ganz andere knipsten den Zaun auf und fielen um. Aber der Unterscharführer Schöpke, der immer Witzchen zu machen pflegte, wenn er die Leute zum Duschen führte, der stand im Lagertor und schoß. Doch das half ihm nichts, weil die anderen über ihn rüber: der Adek Kawe, der Motel Lewit und Henoch Lerer, auch Hersz Rotblat und Letek agiel und Tosias Baran mit seiner Debora. Und Lolek Begelmann schrie: »Auch der Fajngold soll kommen, bevor die Flugzeuge kommen.« Aber Herr Fajngold wartete noch auf seine Frau Luba. Doch die kam schon damals nicht, wenn er nach ihr rief. Da packten sie ihn links und rechts. Links der Jakub Gelernter und rechts der Mordechaj Szwarcbard. Und vor ihm lief der kleine Doktor Atlas, der schon im Lager Treblinka, der später noch in den Wäldern bei Wilna zum fleißigsten Lysolsprenkeln geraten hatte, der behauptete: Lysol ist wichtiger als das Leben! Und Herr Fajngold konnte das nur bestätigen; denn er hatte ja Tote,nicht einen Toten, nein Tote, was soll ich eine Zahl sagen, Tote, sag ich, gab es, die er mit Lysol besprenkelt hatte. Und Namen wußte er, daß es langweilig wurde, daß mir, der ich im Lysol schwamm, die Frage nach Leben oder Tod von hunderttausend Namen nicht so wichtig war wie die Frage, ob man das Leben, und wenn nicht das Leben, dann den Tod mit Herrn Fajngolds Desinfektionsmitteln auch rechtzeitig und ausreichend desinfiziert hatte.

Dann aber ließ mein Fieber nach und es wurde April. Dann nahm mein Fieber wieder zu, das Karussell drehte sich, und Herr Fajngold sprenkelte Lysol auf Tote und Lebende. Dann ließ mein Fieber wieder nach, und der April war zu Ende. Anfang Mai wurde mein Hals kürzer, der Brustkorb weitete sich, rutschte höher hinauf, so daß ich mit dem Kinn, ohne den Kopf senken zu müssen, Oskars Schlüsselbein reiben konnte. Es kam noch einmal etwas Fieber und etwas Lysol. Auch hörte ich Maria im Lysol schwimmende Worte flüstern: »Wenn er sich nur nich verwächst. Wenn es man nur nich zu nem Buckel mecht kommen. Wenn das man bloß kein Wasserkopp mecht werden!«

Herr Fajngold jedoch tröstete Maria, erzählte ihr von Leuten, die er gekannt habe, die es trotz Buckel und Wasserkopf zu etwas gebracht hätten. Von einem Roman Frydrydi wußte er zu berichten, der mit seinem Buckel nach Argentinien auswanderte und dort ein Geschäft für Nähmaschinen aufmachte, das dann später ganz groß wurde und einen Namen bekam.

Der Bericht über den erfolgreichen, buckligen Frydrych tröstete zwar nicht Maria, versetzte aber den Erzähler, den Herrn Fajngold, in solche Begeisterung, daß er sich entschloß, unserem Kolonialwarengeschäft ein anderes Gesicht zu geben. Mitte Mai, kurz nach Kriegsende bekam der Laden neue Artikel zu sehen. Die ersten Nähmaschinen und Nähmaschinenersatzteile tauchten auf, doch blieben, die Lebensmittel noch einige Zeit und halfen mit, den Übergang zu erleichtern.

Paradiesische Zeiten! Es kam kaum noch Bargeld zur Zahlung. Getauscht wurde, weitergetauscht, und der Kunsthonig, die Haferflocken, auch die letzten Beutelchen Dr. Oetkers Backpulver, Zucker, Mehl und Margarine verwandelten sich in Fahrräder, die Fahrräder und Fahrradersatzteile in Elektromotoren, diese in Werkzeug, das Werkzeug wurde zu Pelzwaren, und die Pelze verzauberte der Herr Fajngold in Nähmaschinen. Das Kurtchen machte sich bei diesem Tauschtauschtauschspielchen nützlich, brachte Kunden, vermittelte Geschäfte, lebte sich viel schneller als Maria in die neue Branche ein. Es war beinahe wie zu Matzeraths Zeiten. Maria stand hinter dem Ladentisch, bediente jenen Teil der alten Kundschaft, der noch im Lande war, und versuchte mit mühsamem Polnisch die Wünsche der neuzugezogenen Kunden zu erfahren. Kurtchen war sprachbegabt. Kurtchen war überall.

Herr Fajngold konnte sich auf das Kurtchen verlassen. Das Kurtchen mit seinen noch nicht ganz fünf Jahren spezialisierte sich und lockte unter hundert schlechten bis mittelmäßigen Modellen, die auf dem Schwarzen Markt in der Bahnhofstraße gezeigt wurden, die vorzüglichen Singer-und Pfaff-Nähmaschinen sofort heraus; und Herr Fajngold wußte Kurtchens Kenntnisse zu schätzen. Als Ende Mai meine Großmutter Anna Koljaiczek zu Fuß aus Bissau über Brenntau nach Langfuhr kam, uns besuchte und sich schwer atmend auf die Chaiselongue warf, lobte der Herr Fajngold das Kurtchen sehr und fand auch für Maria lobende Worte. Als er meiner Großmutter lang und breit die Geschichte meiner Krankheit erzählte, dabei immer wieder auf die Nützlichkeit seiner Desinfektionsmittel hinwies, fand er auch Oskar lobenswert, weil ich so still und brav gewesen, während der ganzen Krankheit nie geschrien habe.

Meine Großmutter wollte Petroleum haben, weil es in Bissau kein Licht mehr gab. Fajngold erzählte ihr von seinen Erfahrungen mit Petroleum im Lager Treblinka, auch von seinen vielseitigen Aufgaben als Lagerdesinfektor, ließ Maria zwei Literflaschen Petroleum abfüllen, gab ein Paket Kunsthonig und ein ganzes Sortiment Desinfektionsmittel dazu und lauschte nickend und abwesend zugleich, als meine Großmutter erzählte, was alles in Bissau und Bissau-Abbau während der Kampfhandlungen abgebrannt war. Auch von Schäden in Viereck, das man wieder wie einst Firoga nannte, wußte sie zu berichten. Und für Bissau sagte man wieder, wie vor dem Krieg, Bysewo. Den Ehlers aber, der doch Ortsbauernführer in Ramkau gewesen war und sehr tüchtig, der ihres Bruders Sohn Frau, also die Hedwig vom Jan, der auf der Post geblieben war, geheiratet hatte, den hatten die Landarbeiter vor seiner Dienststelle aufgehängt. Und hätten auch beinahe die Hedwig aufgehängt, weil sie als Frau von einem polnischen Helden den Ortsbauernführer genommen, auch weil der Stephan es zum Leutnant gebracht hatte, und die Marga war .doch beim BdM gewesen.

»Nu«, sagte meine Großmutter, »dem Stephan konnten se ja nu nich mähr, weil ä j ef allen is baim Eismeer, da oben. Aber de Marga wollten se ihr wegnehmen und im Lager stecken. Aber da hat der Vinzent sain Mund aufgemacht und jerädet, wie ä noch nie hat. Und nu is de Hedwig midde Marga bai uns und hilft auffem Acker. Aber dem Vinzent hat Reden so mitjenommen, dasser womöglich nich mä lange machen wird kennen. Und was die Oma anjeht, die hattes auch am Härzen und überall, och im Kopp, wo ihr son Damlack draufjetäppert hat, weil ä jemeint hat, er mißt mal.«

So klagte Anna Koljaiczek, hielt sich ihren Kopf, streichelte meinen wachsenden Kopf und kam dabei zu einiger betrachtender Einsicht: »So isses nu mal mit de Kaschuben, Oskarchen. Die trefft es immer am Kopp. Aber ihr werd ja nu wägjehn nach drieben, wo besser is, und nur de Oma wird blaiben.

Denn mit de Kaschuben kann man nich kaine Umzüge machen, die missen immer dablaibenund Koppchen hinhalten, damit de anderen drauftäppern können, weil unserains nich richtich polnisch is und nich richtich deitsch jenug, und wenn man Kaschub is, das raicht weder de Deutschen noch de Pollacken. De wollen es immer jenau haben!«

Laut lachte meine Großmutter, versteckte die Petroleumflasche, den Kunsthonig und die Desinfektionsmittel unter jenen vier Röcken, die trotz heftigster, militärischer, politischer und weltgeschichtlicher Ereignisse nicht von ihrer Kartoffelfarbe gelassen hatten.

Als sie gehen wollte und der Herr Fajngold sie noch um einen Augenblick Geduld bat, da er der Großmutter noch seine Frau Luba und den Rest der Familie vorstellen wollte, sagte Anna Koljaiczek, als Frau Luba nicht kam: »Nu lassen Se ma gut sain. Ech ruf auch immer: Agnes, maine Tochter, nu komm und half daine alte Mutter baim Wäscheauswringen. Und sie kommt jenau so nich, wie Ihre Luba nich mecht kommen. Und da Vinzent, was main Bruder is, jeht nachts wennes duster is trotz saine Krankheit vor de Tür und weckt de Nachbarn aussem Schlaf, wail ä laut ruft nach sain Sohn Jan, da auffe Post war und draufgegangen is.«

Sie stand schon in der Tür und legte sich ihr Tuch um, da rief ich vom Bett aus: »Babka, babka!« das heißt Großmutter, Großmutter. Und sie drehte sich, hob schon ein wenig ihre Röcke, als wollte sie mich drunter lassen und mitnehmen, da erinnerte sie sich wahrscheinlich der Petroleumflaschen, des Kunsthonigs und der Desinfektionsmittel, die jenen Platz schon besetzten — und ging, ging ohne mich, ging ohne Oskar davon.

Anfang Juni fuhren die ersten Transporte in Richtung Westen. Maria sagte nichts, aber ich merkte, daß auch sie von den Möbeln, vom Laden, von dem Mietshaus, von den Gräbern beiderseits der Hindenburgallee und von dem Hügel auf dem Friedhof Saspe Abschied nahm.

Bevor sie mit Kurtchen in den Keller ging, saß sie abends manchmal neben meinem Bett am Klavier meiner armen Mama, hielt links ihre Mundharmonika und versuchte rechts mit einem Finger ihr Liedchen zu begleiten.

Herr Fajngold litt unter der Musik, bat Maria, aufzuhören, und bat sie, sobald sie die Mundharmonika sinken ließ und den Klavierdeckel schließen wollte, doch noch ein bißchen zu spielen.

Dann machte er ihr den Antrag. Oskar hatte das kommen sehen. Herr Fajngold rief immer seltener nach seiner Frau Luba, und als er an einem Sommerabend voller Fliegen und Gesumm ihrer Abwesenheit gewiß war, machte er Maria den Antrag. Sie und beide Kinder, auch den kranken Oskar wollte er aufnehmen. Die Wohnung bot er ihr an und die Teilhaberschaft am Geschäft.

Maria war damals zweiundzwanzig. Ihre anfängliche, noch wie vom Zufall gefügte Schönheit zeigte sich gefestigt, wenn nicht verhärtet. Die letzten Kriegs-und Nachkriegsmonate hatten ihr jene Dauerwellen genommen, die Matzerath noch bezahlt hatte. Wenn sie auch nicht, wie zu meiner Zeit, Zöpfe trug, hing ihr das Haar doch lang auf die Schultern, erlaubte, in ihr ein etwas ernstes, womöglich verbittertes Mädchen zu sehen — und dieses Mädchen sagte nein, wies den Antrag des Herrn Fajngold zurück. Auf unserem ehemaligen Teppich stand Maria, hielt das Kurtchen links, zeigte mit dem rechten Daumen in Richtung Kachelofen, und Herr Fajngold und Oskar hörten sie sprechen:

»Das jeht nich. Das is hier futsch und vorbei. Wir jehn ins Rheinland zu meine Schwester Guste. Die is da mit ainem Oberkellner aussem Hotelfach verheiratet. Der heißt Köster und wird uns vorlaifig aufnehmen, alle drei.«

Am nächsten Tag schon stellte sie die Anträge. Drei Tage später hatten wir unsere Papiere. Der Herr Fajngold sprach nicht mehr, schloß das Geschäft, saß, während Maria packte, im dunklen Laden auf dem Ladentisch neben der Waage und mochte auch keinen Kunsthonig löffeln. Erst als Maria sich von ihm verabschieden wollte, rutschte er von seinem Sitz, holte das Fahrrad mit dem Anhänger und bot uns seine Begleitung zum Bahnhof an.

Oskar und das Gepäck — wir durften pro Person fünfzig Pfund mitnehmen — wurden in dem zweirädrigen Anhänger, der auf Gummireifen lief, verladen. Herr Fajngold schob das Rad. Maria hielt Kurtchens Hand und drehte sich Ecke Eisenstraße, als wir links einbogen, noch einmal um. Ich konnte mich nicht mehr in Richtung Labesweg drehen, da mir das Drehen Schmerzen bereitete. So blieb Oskars Kopf ruhig zwischen den Schultern. Nur mit den Augen, die sich ihre Beweglichkeit bewahrt hatten, grüßte ich die Marienstraße, den Strießbach, den Kleinhammerpark, die immer noch ekelhaft tropfende Unterführung zur Bahnhofstraße, meine unzerstörte Herz-Jesu-Kirche und den Bahnhof des Vorortes Langfuhr, den man jetzt Wrzeszcz nannte, was sich kaum aussprechen ließ.

Wir mußten warten. Als dann der Zug einrollte, war es ein Güterzug. Menschen gab es, viel zu viel Kinder. Das Gepäck wurde kontrolliert und gewogen. Soldaten warfen in jeden Güterwagen einen Strohballen. Keine Musik spielte. Es regnete aber auch nicht. Heiter bis wolkig war es, und der Ostwind wehte.

Wir kamen in den viertletzten Wagen. Herr Fajngold stand mit dünnem rötlich wehendem Haar unter uns auf den Gleisen, trat, als die Lokomotive durch einen Stoß ihre Ankunft verriet, näher heran, reichte Maria drei Päckchen Margarine und zwei Päckchen Kunsthonig, fügte, als polnische Kommandos, Geschrei und Weinen die Abfahrt ankündigten, dem Reiseproviant noch ein Paket mit Desinfektionsmitteln hinzu — Lysol ist wichtiger als das Leben — und wir fuhren, ließen den Herrn Fajngold zurück, der auch richtig und ordnungsgemäß, wie es sich bei der Abfahrt von Zügen gehört, mit rötlich wehendem Haar immer kleiner wurde, nur noch aus Winken bestand, bis es ihn nicht mehr gab.

WACHSTUM IM GÜTERWAGEN

Das schmerzt mich heute noch. Das warf mir soeben den Kopf in die Kissen. Das läßt Fuß- und Kniegelenke deutlich werden, macht mich zum Knirscher — was heißen soll, Oskar muß mit den Zähnen knirschen, damit er das Knirschen seiner eigenen Knochen in den Gelenkpfannen nicht hört.

Ich betrachte meine zehn Finger und muß mir eingestehen, sie sind geschwollen. Ein letzter Versuch auf meiner Trommel beweist: Oskars Finger sind nicht nur etwas geschwollen, sie sind für diesen Beruf momentan unbrauchbar; die Trommelstöcke entfallen ihnen.

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