Die Blechtrommel (67 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

BOOK: Die Blechtrommel
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Dem Steinmetz gehorchend, überschlief ich meinen kleinen Gedanken eine Woche lang, verglich tagsüber Kurtchens Feuersteine mit den Grabsteinen am Bittweg, hörte mir Marias Vorwürfe an: »Du liegst uns auf der Tasche, Oskar. Fang etwas an: Tee, Kakao oder Trockenmilch!« fing aber nichts an, ließ mich von Guste, die mir den abwesenden Köster als Beispiel pries, wegen meiner Enthaltsamkeit in punkto Blackmarket loben, litt jedoch sehr unter meinem Sohn Kurt, der mich, Zahlenkolonnen erfindend und zu Papier bringend, auf ähnliche Art übersah, wie ich es jahrelang verstanden hatte, einen Matzerath zu übersehen.vWir saßen beim Mittagessen. Guste hatte die Klingel abgestellt, damit uns keine Kundschaft bei Rührei mit Speck überraschen konnte. Maria sagte: »Siehste Oskar, das können wir uns nur jenehmigen, weil wir die Hände nidi in den Schoß nich legen.« Kurtchen seufzte.

Die Feuersteine waren auf achtzehn gefallen. Guste aß viel und schweigsam. Ich tat es ihr nach, fand Geschmack, fühlte mich aber, Geschmack findend, womöglich des Trockeneipulvers wegen, unglücklich und verspürte, auf etwas Knorpel im Speck beißend, jäh und bis in die Ohrenränder ein Bedürfnis nach Glück, gegen alles bessere Wissen wollte ich Glück, alle Skepsis wog nicht das Verlangen nach Glück auf, hemmungslos glücklich wollte ich werden und erhob mich, Während die anderen noch aßen und mit Trockeneipulver zufrieden waren, ging auf den Schrank zu, als hielte der Glück bereit, kramte in meinem Fach, fand, nein nicht Glück, aber hinter dem Fotoalbum, unter dem Bildungsbuch die zwei Päckchen Desinfektionsmittel des Herrn Fajngold, fingerte aus dem einen Päckchen, nein, gewiß nicht das Glück, aber das gründlich desinfizierte Rubinencollier meiner armen Mama, das Jan Bronski vor Jahren, in einer nach Schnee riechenden Winternacht einem Schaufenster entnommen hatte, dem kurz zuvor Oskar, -der damals noch glücklich war und Glas zersingen konnte, eine kreisrunde Lücke gesungen hatte. Und ich verließ mit dem Schmuck die Wohnung, sah in dem Schmuck die Vorstufe zum, machte mich auf den Weg zum, fuhr zum Hauptbahnhof, weil, dachte mir, wenn das klappt dann, verhandelte lange über und war mir im klaren, daß... aber der Einarmige und der Sachse, den die anderen Assessor nannten, waren sich nur über den Sachwert im klaren, ahnten nicht, wie überreif sie mich fürs Glück machten, als sie mir für das Collier meiner armen Mama eine echtlederne Aktentasche und fünfzehn Stangen Amizigaretten, Lucky Strike gaben.

Am Nachmittag war ich wieder in Bilk bei der Familie. Ich packte aus: fünfzehn Stangen, ein Vermögen, Lucky Strike in Zwanzigerpackungen, ließ die anderen staunen, schob ihnen den verpackten blonden Tabakberg zu, sagte, das ist für euch, nur laßt mich von heut' an in Ruhe, die Zigaretten dürften wohl meine Ruhe wert sein und außerdem, von heut an jeden Tag einen Henkelmann voller Mittagessen, den ich von heut an jeden Tag in meiner Aktentasche aus dem Haus zu meiner Arbeitsstelle zu tragen gedenke. Werdet ihr glücklich mit Kunsthonig und Feuersteinen, sagte ich ohne Zorn und Anklage, meine Kunst soll anders heißen, mein Glück wird fortan auf Grabsteine geschrieben oder zünftiger, in Grabsteine gemeißelt werden.

Korneff stellte mich für hundert Reichsmark im Monat als Praktikant ein. Das war soviel wie gar nichts und machte sich schließlich dennoch bezahlt. Schon nach einer Woche zeigte sich, daß meine Kräfte für grobe Steinmetzarbeiten nicht reichten. Ich sollte eine bruchfrische Wand Belgisch Granit für ein vierstelliges Grab bossieren und konnte nach einer knappen Stunde kaum noch das Eisen und nur hoch gefühllos den Bossierschlägel halten. Auch das Grobspitzen mußte ich Korneff überlassen, während ich, Geschicklichkeit beweisend, das Feinspitzen, Zahnen, das Ersehen einer Fläche mit zwei Richtlatten, das Ziehen der vier Schläge und das Schlag für Schlag Abscharieren der Dolomiteinfassungen zu meiner Arbeit machte. Ein senkrechtgestelltes Vierkantholz, darüber, ein T bildend, das Brettdien, auf dem ich saß, rechts das Eisen führte und links, gegen Korneffs Einspruch, der aus mir einen Rechtshänder machen wollte, links ließ ich die hölzernen Birnen, Knüppel, die eisernen Schlägel, den Stockhammer knallen, klingen, mit vierundsechzig Stockhammerzähnen gleichzeitig den Stein beißen und zermürben: Glück, das war zwar nicht meine Trommel, Glück, war nur Ersatz, Glück kann aber auch ein Ersatz sein, Glück gibt es vielleicht nur ersatzweise, Glück immer Ersatz fürs Glück, das lagert sich ab: Marmorglück, Sandsteinglück, Eibsandstein, Mainsandstein, Deinsandstein, Unsersandstein, Glück Kirchheimer, Glück Grenzheimer.

Hartes Glück: Blaubank. Wolkig brüchiges Glück: Alabaster. Widiastahl dringt glücklich in Diabas.

Dolomit: grünes Glück. Sanftes Glück: Tuff. Buntes Glück von der Lahn. Poriges Glück: Basalt.

Erkaltetes Glück aus der Eifel. Wie ein Vulkan brach das Glück aus und lagerte sich staubig ab und knirschte mir zwischen den Zähnen.

Die glücklichste Hand zeigte ich beim Schriftklopfen. Selbst Korneff ließ ich hinter mir, leistete den ornamentalen Teil der Bildhauerarbeit: Akanthusblätter, geknickte Rosen für Kindergrabsteine, Palmenzweige, christliche Symbole wie PX oder INRI, Hohlkehlen, Rundstäbe, Eierstäbe, Fasen und Doppelfasen. Mit allen erdenklichen Profilen beglückte Oskar Grabsteine in allen Preislagen. Und wenn ich acht Stunden lang einer polierten, unter meinem Atem immer wieder erblindenden Diabaswand eine Inschrift beigebracht hatte wie: Hier ruht in Gott mein lieber Mann — neue Zeile — Unser guter Vater, Bruder und Onkel — neue Zeile — Joseph Esser - neue Zeile — geb. am 3. 4.1885

gest. am 22. 6.1946 — neue Zeile — der Tod ist das Tor zum Leben — dann war ich, diesen Text endlich überlesend, ersatzweise, das heißt, angenehm glücklich und dankte dem im Alter von einundsechzig Jahren verstorbenen Joseph Esser " und den grünen Diabaswölkchen vor meinem Schrifteisen immer wieder dafür, indem ich den fünf Os in der Esserschen Grabsteininschrift besondere Sorgfalt angedeihen ließ; so kam es, daß mir der Buchstabe O, den Oskar besonders liebte, zwar regelmäßig und endlos, aber immer etwas zu groß glückte.

Ende Mai begann meine Zeit als Steinmetzpraktikant, Anfang Oktober bekam Korneff zwei neue Furunkel, und wir mußten die Travertinwand für Hermann Webknecht und Else Webknecht, geb.

Freytag auf dem Südfriedhof versetzen. Bis zu jenem Tag hatte mich der Steinmetz, der meinen Kräften immer noch nicht traute, auf Friedhöfe nie mitnehmen wollen. Zumeist half ihm bei den Versetzarbeiten ein fast tauber, aber sonst brauchbarer Hilfsarbeiter der Firma Julius Wobei. Dafür sprang Korneff ein, wenn bei Wobei, der acht Leute beschäftigte, Not am Mann war. Immer wieder bot ich vergeblich meine Hilfe bei Friedhofsarbeiten an; zog es mich doch dorthin, wenn auch zu jenem Zeitpunkt keine Entschlüsse zu fassen waren. Glücklicherweise setzte Anfang Oktober bei Wobei die Hochkonjunktur ein, er konnte vor Frosteinbruch keinen Mann entbehren; Korneff war auf mich angewiesen.

Wir bänkten zu zweit die Travertinwand hinter dem Dreiradwagen auf, legten sie dann auf Hartholzrollen, rollten sie auf die Ladefläche, schoben den Sockel daneben, schützten die Kanten mit leeren Papiersäcken, luden Werkzeug, Zement, Sand, Kies, die Hölzer und Kisten zum Abbänken dazu, ich machte die Klappe fest, Korneff saß schon am Steuer und ließ den Motor an, da stieß er Kopf und Furunkelnacken aus dem Seitenfenster und schrie: »Nu mach Jong, mach voran. Hol dich dein Henkelmann und steig ein!«

Langsame Fahrt um die Städtischen Krankenanstalten herum. Vor dem Hauptportal weiße Pflegerinnenwolken. Dazwischen eine mir bekannte Pflegerin, Schwester Gertrud. Ich winke, sie winkt zurück. Glück, denke ich, schon wieder oder noch immer, sollte sie mal einladen, auch wenn ich sie jetzt nicht mehr sehe, weil wir Richtung Rhein, zu irgend etwas einladen, Richtung Kappes Hamm, vielleicht ins Kino oder Gründgens ansehen im Theater, da winkt er schon, der gelbe Ziegelbau, mal einladen, muß nicht Theater sein, und Rauch stößt über halbleeren Bäumen das Krematorium aus, wie wäre es, Schwester Gertrud, mal die Tapete wechseln? Anderer Friedhof, andere Grabsteingeschäfte: Ehrenrunde für Schwester Gertrud vor dem Hauptportal: Beutz & Kranich, Pottgiessers Natursteine, Böhms Grabmalkunst, Friedhofsgärtnerei Gockeln, Kontrolle im Tor, es ist gar nicht so einfach, auf den Friedhof zu kommen, Verwaltung mit Friedhofsmütze: Travertin für zweistelliges Grab, Numero neunundsiebenzig, Feld acht, Webknecht, Hermann, Hand an Friedhofsmütze, Henkelmänner zum Wärmen beim Krematorium abgeben; und vorm Leichenhaus steht Schugger Leo.

Ich sagte zu Korneff: »Ist das nicht ein gewisser Schugger Leo, der mit den weißen Handschuhen?«

Korneff, die Furunkel hinter sich greifend: »Dat is Sabber Willem und nich Schugger Leo, da wohnt hier!«

Wie hätte ich mich mit dieser Auskunft zufriedengeben können. Schließlich hatte es mich zuvor in Danzig gegeben, und nun gab es mich in Düsseldorf, und immer noch hieß ich Oskar: »Bei uns gab es einen auf den Friedhöfen, der sah genau so aus und hieß Schugger Leo, und ganz zu Anfang, als er nur Leo hieß, war er auf einem Priesterseminar.«

Korneff, linke Hand an den Furunkeln, rechts den Dreiradwagen vor dem Krematorium wendend:

»Dat mag all sein Richtichkeit han. Kenn ne Menge, die so aussehn, anfangs auffem Seminar waren, jetzt auffem Friedhof leben und anners heißen. Dat hier is Sabber Willem!«

Wir fuhren an Sabber Willem vorbei. Der grüßte mit weißem Handschuh, und ich fühlte mich auf dem Südfriedhof wie zu Hause.

Oktober, Friedhofsalleen, der Welt fallen die Haare und Zähne aus, ich meine, immerzu schaukeln gelbe Blätter von oben nach unten. Stille, Sperlinge, Spaziergänger, der Motor des Dreiradwagens in Richtung Feld acht, das noch sehr fern liegt. Dazwischen alte Frauen mit Gießkannen und Enkelkindern, Sonne auf schwarzschwedischem Granit, Obelisken, sinnbildlich geborstene Säulen oder auch echter Kriegsschaden, grün angelaufener Engel hinter Taxus oder taxusähnlichem Grünzeug. Frau mit Marmorhand vor dem Auge, vom eigenen Marmor geblendet. Christus in Steinsandalen segnet Ulmen, und ein anderer Christus auf Feld vier, der eine Birke segnet. Schöne Gedanken auf der Allee zwischen Feld vier und Feld fünf: Sagen wir, das Meer. Und das Meer wirft unter anderem eine Leiche an den Strand. Vom Seesteg Zoppot her Violinenmusik und die schüchternen Anfänge eines Feuerwerkes zugunsten der Kriegsblinden. Ich beuge mich als Oskar und dreijährig über das Strandgut, hoffe, daß es Maria ist, Schwester Gertrud womöglich, die ich endlich mal einladen sollte. Aber es ist schön Luzie, bleich Luzie, wie mir jenes seinem Höhepunkt entgegeneilende Feuerwerk sagt und bestätigt. Auch hat sie wie immer, wenn sie es böse meint, ihr gestricktes Berchtesgadener Jäckchen an. Naß ist die Wolle, die ich ihr ausziehe. Gleichfalls naß ist das Jäckchen, das sie unter dem Strickjäckchen trägt. Und abermals blüht mir ein Berchtesgadener Jäckchen. Und ganz zum Schluß, da auch das Feuerwerk sich verausgabt hat und nur noch die Violinen, ,da finde ich unter Wolle auf Wolle in Wolle, in ein BdM-Turnhemd gewickelt ihr Herz, Luzies Herz, einen kühlen winzigen Grabstein, drauf steht geschrieben: Hier ruht Oskar - Hier ruht Oskar — Hier ruht Oskar ...

»Schlaf nich Jong!« unterbrach Korneff meine schönen, vom Meer angeschwemmten, vom Feuerwerk illuminierten Gedanken. Links bogen wir, ein, und Feld acht, ein neues Feld ohne Bäume mit wenig Grabsteinen, lag platt und hungrig vor uns. Deutlich hoben sich aus dem Einerlei der noch ungepflegten, weil zu frischen Gräber die letzten fünf Beerdigungen ab: modernde Berge brauner Kränze mit verflossenen, verregneten Schleifen.

Numero neunundsiebenzig fanden wir schnell am Anfang der vierten Reihe, dicht neben Feld sieben, das einige junge schnellwachsende Bäume aufwies, auch mit Metersteinen, zumeist schlesischem Marmor, verhältnismäßig regelmäßig bewachsen war. Wir fuhren an neunundsiebenzig von hinten heran, luden das Werkzeug, Zement, Kies,Sand, den Sockel und jene Travertinwand ab, die leicht speckig glänzte. Der Dreiradwagen machte einen Sprung, als wir den Brocken von der Ladefläche auf die Kiste mit den Hölzern zum Abbänken rollten. Korneff zog das provisorische Holzkreuz, auf dessen Querbalken H. Webknecht und E. Webknecht stand, aus dem Kopfende des Grabes, ließ sich von mir den Gräber reichen und begann, die beiden Löcher, einssechzig tief nach Friedhofsvorschrift, für die Betonpfeiler auszuheben, während ich auf Feld sieben Wasser holte, dann Beton anmachte, damit fertig war, als er bei einsfünfzig fertig sagte und ich mit dem Ausstampfen der beiden Löcher beginnen konnte, während Korneff schnaufend auf der Travertinwand saß, hinter sich griff und seine Furunkel betastete. »Is bald soweit. Han ich jenau im Jefühl, wenn die soweit sind und hops sagen.« Ich stampfte und dachte mir wenig dabei. Von Feld sieben kroch ein protestantisches Begräbnis über Feld acht nach Feld neun. Als sie drei Reihen vor uns vorbeikamen, rutschte Korneff von der Travertinwand, und wir zogen vom Pastor an bis zu den allernächsten Angehörigen nach Friedhofsvorschrift die Mützen. Hinter dem Sarg ging ganz alleine eine kleine, schwarze, schiefe Frau.

Danach waren alle viel größer und stämmiger.

»Du kriechst de Tör nich zu!« stöhnte Korneff neben mir. »Ich han dat Jefühl, die wolln raus, bevor wir die Wand zum Stehn jebracht han.«

Inzwischen war das Begräbnis auf Feld neun angekommen, sammelte sich und gebar die auf-und abschwellende Stimme eines Pfarrers. Wir hätten jetzt den Sockel aufs Fundament legen können, da der Beton angezogen hatte. Aber Korneff legte sich bäuchlings übet die Travertinwand, schob sich seine Mütze zwischen Stirn und Stein, zerrte, den Nacken freilegend, den Jacken-und Hemdkragen zurück, während Einzelheiten aus dem Leben des Verstorbenen von Feld neun bei uns auf Feld acht bekannt wurden. Nicht nur die Travertinwand mußte ich erklettern, Korneff hockte ich hinten drauf und begriff die ganze Bescherung: es waren zwei nebeneinander. Ein Nachzügler mit zu großem Kranz strebte Feld neun und der langsam zu Ende gehenden Predigt entgegen. Mit einem Buchenblatt wischte ich, nachdem ich mit einem Zug das Pflaster entfernt hatte, die Ichtolansalbe weg und sah die beiden fast gleichgroßen, teerbraun ins Gelb übergehenden Verhärtungen. »Lasset uns beten«, wehte es von Feld neun herüber. Ich nahm das zum Zeichen, hielt den Kopf seitlich weg, drückte und zog mit Buchenblättern unter den Daumen.

»Vater unser...« Korneff knirschte: »Ziehen mußte, nicht drücken.« Ich zog.

»... werde Dein Name.« Korneff gelang es, mitzubeten: »... komme Dein Reich.« Da drückte ich doch, weil ziehen nicht half. »Wille geschehe, wie im, also auch.« Daß es nicht knallte, war ein Wunder.

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