Lustig sahen diese Tücher aus, ließen sich nicht nur als Tränentüchlein, auch als Kopftücher verwenden. Die Herren unter den Gästen des Zwiebelkellers ließen aus bunten Vierecken dreieckige Wimpel nähen, hängten die in die Rückfenster ihrer Autos und trugen während der Ferienmonate Schmuhs Zwiebelkeller nach Paris, an die Cöte d'Azur, nach Rom, Ravenna, Rimini, sogar ins ferne Spanien.
Noch eine andere Aufgabe fiel uns Musikern und unserer Musik zu: dann und wann, besonders wenn einige Gäste zwei Zwiebeln kurz nacheinander geschnitten hatten, kam es im Zwiebelkeller zu Ausbrüchen, die allzu leicht zu Orgien hätten werden können. Einerseits liebte Schmuh diese letzte Hemmungslosigkeit nicht, befahl uns, sobald einige Herren die Krawatten lösten, einige Damen an ihren Blusen nestelten, Musik zu machen, mit Musik beginnender Schamlosigkeit zu begegnen;
andererseits war es jedoch immer wieder Schmuh selbst, der den Weg zur Orgie bis zu einem bestimmten Punkte freigab, indem er besonders anfälligen Gästen nach der ersten Zwiebel sogleich eine zweite Zwiebel lieferte.
Der meines Wissens nach größte Ausbruch, den der Zwiebelkeller erlebte, sollte auch für Oskar wenn nicht zu einem Wendepunkt in seinem Leben, so doch zum einschneidenden Erlebnis werden.
Schmuhs Gattin, die lebenslustige Billy, kam nicht oft in den Keller, und wenn sie kam, kam sie mit Freunden, die Schmuh nicht gerne sah. So kam sie eines Abends mit dem Musikkritiker Woode und dem Architekten und Pfeifenraucher Wackerlei. Die beiden Herren gehörten zu den ständigen Gästen des Zwiebelkellers, trugen aber reichlich langweiligen Kummer mit sich: Woode weinte aus religiösen Gründen — er wollte konvertieren oder war schon Konvertit oder konvertierte schon zum zweitenmal — der Pfeifenraucher Wackerlei weinte wegen einer Professur, die er in den zwanziger Jahren einer extravaganten Dänin wegen abgelehnt hatte, die Dänin jedoch nahm einen anderen, einen Südamerikaner, hatte mit dem sechs Kinder, und das kränkte den Wackerlei, das ließ seine Pfeife immer wieder kalt werden. Der etwas boshafte Woode war es, der Schmuhs Gattin zum Zerschneiden einer Zwiebel überredete. Sie tat es, kam zu Tränen, begann auszupacken, stellte Schmuh, den Wirt, bloß, erzählte Dinge, die Oskar Ihnen taktvoll verschweigt, und es verlangte kräftige Männer, als Schmuh sich auf seine Gattin stürzen wollte; denn schließlich lagen überall Küchenmesser auf den Tischen. Man hielt den Zornigen so lange zurück, bis die leichtsinnige Billy mit ihren Freunden Wood und Wackerlei verschwinden konnte.Schmuh war erregt und betroffen. Ich sah es seinen fliegenden Händen an, die immer wieder seinen Zwiebelshawl neu ordneten. Mehrmals verschwand er hinter dem Vorhang, beschimpfte die Toilettenfrau, kam endlich mit einem vollen Korb zurück, verkündete verkrampft und übertrieben lustig den Gästen, er, Schmuh, sei in Gönnerlaune, es gebe jetzt eine Gratisrunde Zwiebeln, und sogleich teilte er aus.
Damals blickte selbst Klepp, dem schließlich jede, noch so peinliche menschliche Situation wie ein vortrefflicher Spaß schmeckte, wenn nicht nachdenklich, so doch angespannt, und er hielt sich seine Flöte griffbereit. Wußten wir doch, wie gefährlich es war, wenn man dieser empfindsamen und verfeinerten Gesellschaft zweimal kurz nacheinander die Möglichkeit des enthemmenden Weinens bot.
Schmuh, der sah, daß wir die Instrumente musikbereit hielten, verbot uns, Musik zu machen. An den Tischen begannen die Küchenmesser ihre Zerkleinerungsarbeit. Die ersten, so schönen, rosenholz-farbenen Häute wurden achtlos zur Seite geschoben. Glasiges Zwiebelfleisch mit blaßgrünen Streifen geriet unters Messer. Das Weinen begann merkwürdigerweise nicht bei den Damen. Herren im besten Alter, der Besitzer einer Großmühle, ein Hotelier mit seinem leichtgeschminkten Freund, ein adliger Generalvertreter, ein ganzer Tisch mit Fabrikanten der Herren-Oberbekleidung, die einer Vorstahdssitzung wegen in der Stadt weilten, und jener glatzköpfige Schauspieler, der bei uns der Knirscher genannt wurde, weil er beim Weinen mit den Zähnen knirschte, sie alle kamen zu Tränen, bevor die Damen mithalfen. Doch Damen und Herren verfielen nicht jenem erlösenden Weinen, wie es die erste Zwiebel hervorgerufen hatte, sondern wurden von Weinkrämpfen überfallen: schrecklich knirschte der Knirscher, gab einen Schauspieler ab, der jedes Theaterpublikum zum Mitknirschen verfuhrt hätte, der Großmühlenbesitzer ließ seinen gepflegten Graukopf immer wieder auf die Tischplatte schlagen, der Hotelier mischte seinen Weinkrampf mit dem Krampf seines grazilen Freundes, Schmuh, der neben der Treppe stand, ließ seinen Shawl hängen, prüfte verkniffen und nicht ohne Genuß die halbwegs entfesselte Gesellschaft. Und dann zerriß eine ältere Dame vor den Augen ihres Schwiegersohnes ihre Bluse. Plötzlich stand der Freund des Hoteliers, dessen leicht exotischer Einschlag vorher schon aufgefallen war, mit nacktem, naturbraunem Oberkörper auf einer, dann auf der nächsten Tischplatte, tanzte, wie man im Orient tanzen mag, und verkündete den Anfang einer Orgie, die zwar heftig begann, aber wegen mangelnder oder schlicht läppischer Einfalle keine eingehende Schilderung verdient.
Nicht nur Schmuh war enttäuscht, auch Oskar hob angeödet die Augenbrauen. Einige niedliche Entkleidungsszenen, Herren taten sich Damenunterwäsche an, Amazonen griffen zu Krawatten und Hosenträgern, hier und da verschwanden zwei unter der Tischplatte, allenfalls läßt sich der Knirscher nennen, der einen Büstenhalter mit den Zähnen zerriß, kaute und teilweise wohl auch verschluckte.
Wahrscheinlich veranlaßte der schreckliche Lärm, dieses »Juhu« und »Uahhh«, hinter dem so gut wie nichts steckte, den Wirt Schmuh enttäuscht, womöglich auch die Polizei fürchtend, seinen Platz an der Treppe aufzugeben. Zu uns, die wir unter der Hühnerleiter saßen, beugte er sich herab, stieß erst Klepp an, dann mich, zischte: »Musik! Spielt, sag ich euch! Musik, damit Schluß ist mit dem Getue!«
Es stellte sich jedoch heraus, daß Klepp, der ja genügsam war, seinen Spaß gefunden hatte. Gelächter schüttelte ihn, ließ ihn nicht an die Flöte kommen. Scholle, der in Klepp seinen Meister sah, machte dem alles, so auch das Gelächter nach. So blieb nur Oskar übrig — und auf mich konnte sich Schmuh verlassen. Die Blechtrommel zog ich unter der Bank hervor, zündete mir gelassen eine Zigarette an und begann zu trommeln.
Ohne jeden Plan machte ich mich auf dem Blech verständlich. Alle routinemäßige Gaststättenmusik vergaß ich. So spielte Oskar auch keinen Jazz. Ich liebte es ohnehin nicht, daß die Leute in mir einen rasenden Schlagzeuger sahen. Wenn ich auch einen versierten Drummer abgab, war ich dennoch kein reinblütiger Jazzmusiker. Ich liebe die Jazzmusik, wie ich den Wiener Walzer liebe. Beides konnte ich spielen, mußte es aber nicht spielen. Als Schmuh mich um den Einsatz meiner Blechtrommel bat, spielte ich nicht, was ich konnte, sondern was ich vom Herzen her wußte. Es gelang Oskar, einem einst dreijährigen Oskar die Knüppel in die Fäuste zu drücken. Alte Wege trommelte ich hin und zurück, machte die Welt aus dem Blickwinkel der Dreijährigen deutlich, nahm die zur wahren Orgie unfähige Nachkriegsgesellschaft zuerst an die Leine, was heißen soll, ich führte sie in den Posadowskiweg, in Tante Kauers Kindergarten, hatte sie schon soweit, daß sie die Unterkiefer hängenließen, sich bei den Händchen nahmen, die Fußspitzen einwärts schoben, mich, ihren Rattenfänger erwarteten. Und so gab ich den Platz unter der Hühnerleiter auf, übernahm die Spitze, brachte ihnen, den Damen und Herren, zunächst und als Pröbchen »Backe, backe, Kuchen« bei, jagte ihnen dann, als ich überall kindliche Heiterkeit als Erfolg registrieren konnte, sogleich den ganzen großen Schreck ein, trommelte: »Ist die Schwarze Köchin da?« Ließ sie, die auch mich früher gelegentlich, heute mehr und mehr erschreckt, riesig, kohleschwarz und unübersehbar durch den Zwiebelkeller toben und erreichte, was der Wirt Schmuh nur mit Zwiebeln erreichte: die Damen und Herren weinten kindlich runde Kullertränen, fürchteten sich sehr, forderten zitternd mein Erbarmen heraus, und so trommelte ich, um sie zu beruhigen, auch um ihnen in ihre Kleider, Unterwäsche, in Sammet und Seide zu helfen: »Grün, grün, grün sind alle meine Kleider« auch »Rot, rot, rot sind alle meine Kleider« gleichfalls »Blau, blau, blau...« und »Gelb, gelb, gelb ...« ging alle Farben und Zwischentöne durch, bis ich mich wieder einermanierlich bekleideten Gesellschaft gegenübersah, formierte den Kindergarten zum Umzug, führte ihn durch den Zwiebelkeller, als sei das der Jeschkentaler Weg, als gehe es den Erbsberg hinauf, ums unheimliche Gutenbergdenkmal herum, als blühten da auf der Johanniswiese richtige Gänseblümchen, die sie, die Damen und Herren, kindlich frohlockend pflücken durften. Und erlaubte dann, um allen Anwesenden, auch dem Wirt Schmuh, ein Andenken an den verspielten Kindergartennachmittag zu hinterlassen, ein kleines Geschäftchen, sagte auf meiner Trommel — wir näherten uns der dunklen Teufelsschlucht, sammelten Bucheckern — nun dürft ihr Kinderchen: und sie befriedigten ein Kleinkinderbedürfnis, näßten, alle, die Damen und Herren näßten, auch der Wirt Schmuh näßte, meine Freunde Klepp und Scholle näßten, selbst die ferne Toilettenfrau näßte, pißpißpißpiß machten sie, näßten alle die Höschen und kauerten sich dabei nieder und hörten sich zu. Erst als diese Musik verklungen war — Oskar hatte das Kinderorchester nur leichthin dröselnd begleitet — leitete ich mit großem, direktem Schlag zur unbändigen Fröhlichkeit über. Mit einem ausgelassenen:
Glas, Glas, Gläschen, Zucker ohne Bier, Frau Holle macht das Fenster auf und spielt Klavier ...
führte ich die juchzende, kichernde, mit törichtem Kindermund plappernde Gesellschaft zuerst in die Garderobe, wo ein verdutzter bärtiger Student Schmuhs kindliche Gäste mit den Mänteln versorgte, trommelte alsdann die Damen und Herren mit dem beliebten Liedchen »Wer will fleißige Waschfrauen sehen« die Betontreppe hinauf, am Portier im Schafspelz vorbei und hinaus. Unter einem wie auf Bestellung märchenhaft ausgesternten, doch frischen Frühlingsnachthimmel des Jahres fünfzig entließ ich die Damen und Herren, die lange noch in der Altstadt kindlichen Unfug anstellten, nicht nach Hause fanden, bis Polizisten ihnen wieder zu Alter, Würde und zur Erinnerung an die eigenen Telefonnummern verhalfen.
Ich aber fand, ein kichernder, sein Blech streichelnder Oskar, in den Zwiebelkeller zurück, wo Schmuh immer noch in die Hände klatschte, mit nassen Hosen x-beinig neben der Hühnerleiter stand und sich in Tante Kauers Kindergarten ähnlich wohl zu fühlen schien wie auf den Rheinwiesen, wenn er als erwachsener Schmuh auf Sperlinge schoß.
ODER: ES KÖNNEN DIE BUNKER IHREN BETON NICHT LOSWERDEN
Dabei hatte ich Schmuh, dem Wirt des Zwiebelkellers, helfen wollen. Er jedoch konnte mir meine Solodarbietung auf der Blechtrommel, die seine gutzahlenden Gäste zu lallenden, unbeschwert fröhlichen, aber auch die Höschen nässenden, deshalb weinenden — ohne Zwiebel weinenden Kindern machte, nicht verzeihen.
Oskar versucht ihn zu verstehen. Mußte er nicht meine Konkurrenz fürchten, da immer wieder Gäste die althergebrachten Tränenzwiebeln zur Seite schoben, nach Oskar riefen, nach seinem Blech, nach mir, der ich auf meinem Blech die Kindheit eines jeden Gastes — er mochte noch so hochbetagt sein — heraufbeschwören konnte?
Nachdem Schmuh sich bis dahin auf das fristlose Entlassen der Toilettenfrauen beschränkt hatte, entließ er uns, seine Musiker, und engagierte einen Stehgeiger, den man bei einiger Nachsicht für einen Zigeuner halten konnte.
Da jedoch nach unserem Rausschmiß mehrere und die besten Gäste dem Zwiebelkeller fernzubleiben drohten, mußte sich Schmuh schon nach wenigen Wochen zum Kompromiß bequemen: dreimal wöchentlich geigte der Stehgeiger. Dreimal wöchentlich spielten wir auf, verlangten und bekamen eine höhere Gage: zwanzig DM pro Abend, auch flössen uns immer reichlichere Trinkgelder zu — Oskar legte ein Sparbuch an und freute sich auf die Zinsen.
Dieses Sparbüchlein sollte mir allzubald zum Helfer in der Not werden, denn da kam der Tod, nahm uns den Wirt Ferdinand Schmuh, nahm uns Arbeit und Verdienst.
Weiter oben sagte ich schon: Schmuh schoß Sperlinge. Manchmal nahm er uns mit, in seinem Mercedes, ließ uns zugucken, wenn er Sperlinge schoß. Trotz gelegentlicher Streitigkeiten meiner Trommel wegen, unter denen auch Klepp und Scholle, die zu mir hielten, zu leiden hatten, blieb das Verhältnis zwischen Schmuh und seinen Musikern ein freundschaftliches Verhältnis, bis, wie gesagt, der Tod kam.
Wir stiegen ein. Schmuhs Gattin saß wie immer am Steuer. Klepp neben ihr. Schmuh zwischen Oskar und Scholle. Das Kleinkalibergewehr hielt er auf den Knien, streichelte es manchmal. Bis kurz vor Kaiserswerth fuhren wir. Baumkulissen beiderseits des Flusses Rhein. Schmuhs Gattin blieb im Wagen und entfaltete eine Zeitung. Klepp hatte sich zuvor Rosinen gekauft, aß davon ziemlich regelmäßig. Scholle, der irgend etwas, bevor er Guitarrist wurde, studiert hatte, verstand es, auswendig Gedichte über den Fluß Rhein aufzusagen. Der zeigte sich auch von der poetischen Seite, trug, trotz sommerlicher Kalenderzeit, außer den gewöhnlichen Schleppkähnen schaukelndeHerbstblätter in Richtung Duisburg; und hätte Schmuhs Kleinkalibergewehr nicht dann und wann ein Wörtchen gesagt, hätte man den Nachmittag unterhalb Kaiserswerth einen friedlichen Nachmittag nennen können.
Als Klepp mit seinen Rosinen fertig war und sich die Finger am Gras abwischte, war auch Schmuh fertig. Zu den elf kalten Federbällen auf dem Zeitungspapier legte er den zwölften und, wie er sagte, noch zuckenden Spatz. Schon packte der Schütze seine Beute zusammen — denn Schmuh nahm, was er schoß, aus unerfindlichen Gründen jedesmal nach Hause mit — da ließ sich ganz in unserer Nähe auf angeschwemmtem Wurzelzeug ein Sperling nieder, tat das so auffällig, war so grau, war solch ein Musterexemplar von einem Sperling, daß Schmuh nicht widerstehen konnte; er, der nie mehr als zwölf Sperlinge an einem Nachmittag schoß, schoß einen dreizehnten Spatz — das hätte Schmuh nicht tun sollen.
Nachdem er den dreizehnten zu den zwölf gelegt hatte, gingen wir und fanden die Gattin Schmuhs schlafend im schwarzen Mercedes. Zuerst stieg Schmuh vorne ein. Dann stiegen Scholle und Klepp hinten ein. Ich hätte einsteigen sollen, stieg aber nicht ein, sagte, ich wolle noch etwas spazieren, nehme die Straßenbahn, man brauche auf mich keine Rücksicht zu nehmen, und so fuhren sie ohne Oskar, der wohlweislich nicht eingestiegen war, in Richtung Düsseldorf ab.
Langsam ging ich hinterher. Weit brauchte ich nicht zu gehen. Es gab da eine Umleitung wegen Straßenarbeiten. Die Umleitung führte an einer Kiesgrube vorbei. Und in der Kiesgrube, etwa sieben Meter unterhalb des Straßenspiegels lag, mit den Rädern nach oben, der schwarze Mercedes.