Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (84 page)

BOOK: Die Blechtrommel
4.39Mb size Format: txt, pdf, ePub
ads

»Laß sie laufen«, orakelte Lankes. »Die kommt wieder oder kommt nicht wieder.«

Nur kurze Zeit konnte ich mich ruhig halten und der Zigarette des Malers zusehen. Auf den Bunker stieg ich und überblickte den durch die Flut näher herangeworfenen Strand.

»Na?« wollte Lankes etwas von mir wissen.

»Sie entkleidet sich.« Mehr Auskünfte konnte er mir nicht entlocken. »Wahrscheinlich will sie baden gehen, wegen der Abkühlung.«

Ich hielt das für gefährlich bei der Flut, auch so kurz nach dem Essen. Bis zu den Knien war sie schon drinnen, versank immer weiter und hatte einen runden Rücken. Das Ende August sicherlich nicht ' allzu warme Wasser schien sie nicht abzuschrecken: sie schwamm, schwamm geschickt, übte sich in verschiedenen Stilarten und durchschnitt tauchend die Wellen.

»Laß sie schwimmen und komm endlich vom Bunker runter!« Ich blickte hinter mich und sah Lankes ausgestreckt qualmen. Die blanke Gräte des Kabeljaus flimmerte weiß und den Tisch beherrschend in der Sonne.

Als ich vom Beton sprang, öffnete Lankes die Maleraugen und sagte: »Das gibt ein dolles Bild: Flutende Nonnen. Oder: Nonnen bei Flut.« • »Du Unmensch!« schrie ich. »Und wenn sie nun ertrinkt?«

Lankes schloß die Augen: »Dann heißt das Bild: Ertrinkende Nonnen.«

»Und wenn sie zurückkommt, dir vor die Füße fällt?«

Mit offenen Augen sprach der Maler sein Urteil: »Dann wird man sie und das Bild eine gefallene Nonne nennen.«Er kannte nur entweder oder, Kopf oder Schwanz, ertranken oder gefallen. Mir nahm er die Zigaretten ab, den Oberleutnant warf er von der Düne, von meinem Fisch aß er, und einem Kind, das eigentlich dem Himmel geweiht war, zeigte er das Innere unseres Bunkers, malte, während sie noch in die offene See hinausschwamm, mit grobem, knolligem Fuß Bilder in die Luft, gab sogleich die Formate an, betitelte sie: Flutende Nonnen. Nonnen bei Flut. Ertrinkende Nonnen.

Fallende Nonnen. Fünfundzwanzigtausend Nonnen. Querformat: Nonnen auf der Höhe von Trafalgar.

Hochformat: Nonnen besiegen Lord Nelson. Nonnen bei Gegenwind. Nonnen bei Segelwind. Nonnen gegen den Wind kreuzend. Schwarz, viel Schwarz, kaputtes Weiß und Blau auf Eis gelegt: Die Invasion, oder: Mystisch, barbarisch, gelangweilt — sein alter Betontitel aus Kriegszeiten. Und alle diese Bilder, Hochformate und Querformate, malte der Maler Lankes, als wir ins Rheinland zurückkehrten, fertigte ganze Nonnenserien an, fand einen Kunsthändler, der auf die Nonnenbilder scharf war, stellte dreiundvierzig Nonnenbilder aus, verkaufte siebzehn an Sammler, Industrielle, Kunstmuseen, auch an einen Amerikaner, veranlaßte Kritiker, ihn, Lankes, mit Picasso zu vergleichen, und überredete mit seinem Erfolg mich, Oskar, jenes Visitenkärtchen des Konzertmanagers Dr. Dösch hervorzusuchen, denn nicht nur seine Kunst, auch meine Kunst schrie nach Brot: es galt, die Erfahrungen des dreijährigen Blechtrommlers Oskar während der Vorkriegs-und Kriegszeit mittels der Blechtrommel in das pure, klingende Gold der Nachkriegszeit zu verwandeln.

DER RINGFINGER

Na«, sagte Zeidler, »Sie woll'n wohl nich mehr arbeiten.« Es ärgerte ihn, daß Klepp und Oskar entweder in Klepps oder Oskars Zimmer saßen und so gut wie nichts taten. Zwar hatte ich mit dem letzten Geld, das mir der Dr. Dösch auf dem Südfriedhof anläßlich Schmuhs Begräbnis als Vorschuß gegeben hatte, die Oktobermiete für beide Zimmer bezahlt, aber der November drohte auch in finanzieller Hinsicht ein trüber November zu werden.

Dabei hatten wir Angebote genug. In dieser und jener Tanzgaststätte, auch in Nachtlokalen hätten wir Jazz spielen können. Oskar jedoch wollte keinen Jazz mehr spielen. Klepp und ich, wir stritten uns. Er sagte, meine neue Art, die Blechtrommel zu behandeln, habe nichts mehr mit Jazz zu tun. Ich widersprach nicht. Da nannte er mich einen Verräter an der Idee der Jazzmusik.

Erst als Klepp Anfang November einen neuen Schlagzeuger, Bobby aus dem »Einhorn«, also einen tüchtigen Mann fand, und mit dem Schlagzeuger auch zugleich ein Engagement in der Altstadt, sprachen wir wieder wie Freunde miteinander, auch wenn Klepp zu dem Zeitpunkt schon begann, im Sinne der KPD mehr zu reden als zu. denken.

Mir stand nur noch das Türchen zur Konzertagentur des Dr. Dösch offen. Zu Maria konnte und wollte ich nicht zurückkehren, zumal ihr Verehrer, der Stenzel, sich scheiden lassen wollte, um nach der Scheidung meine Maria zu einer Maria Stenzel machen zu können. Dann und wann schlug ich beim Korneff im Bittweg eine Grabsteininschrift, fand auch in die Akademie, ließ mich von fleißigen Kunstjüngern anschwärzen und abstrahieren, besuchte recht oft, doch ohne alle Absichten, die Muse Ulla, die die Verlobung mit dem Maler Lankes kurz nach unserer Reise zum Atlantikwall lösen mußte, weil Lankes nur noch teure Nonnenbilder malen, die Muse Ulla nicht einmal mehr schlagen wollte.

Das Visitenkärtchen des Dr. Dösch aber lag still und aufdringlich auf meinem Tisch neben der Badewanne. Als ich es eines Tages zerriß, wegwarf, weil ich mit dem Dr. Dösch nichts zu tun haben wollte, mußte ich mit Entsetzen feststellen, daß ich die Telefonnummer und auch die genaue Adresse der Konzertagentur wie ein Gedicht auswendig hersagen konnte. Das tat ich drei Tage lang, konnte der Telefonnummer wegen nicht einschlafen, suchte deshalb am vierten Tag eine Telefonkabine auf, wählte die Nummer, bekam den Dösch an den Apparat, der tat so, als habe er meinen Anruf stündlich erwartet, und er bat mich, am Nachmittag desselben Tages in die Agentur zu kommen, er wolle mich dem Chef vorstellen: Der Chef erwartet den Herrn Matzerath.

Die Konzertagentur »West« befand sich in der achten Etage eines neuerbauten Bürohochhauses. Bevor ich den Fahrstuhl bestieg, fragte ich mich, ob sich hinter dem Namen der Agentur nicht ein ärgerliches Politikum verberge. Wenn es eine Konzertagentur »West« gibt, findet sich in einem ähnlichen Bürohochhaus gewiß auch eine Agentur »Ost«. Der Name war nicht ungeschickt gewählt, denn sogleich gab ich der Agentur »West« den Vorzug und hatte, als ich im achten Stockwerk den Fahrstuhl verließ, das gute Gefühl, auf dem Wege zur rechten Agentur zu sein. Spannteppiche, viel Messing, indirekte Beleuchtung, alles schalldicht, Tür an Tür Eintracht, Sekretärinnen, die langbeinig und knisternd den Zigarrengeruch ihrer Chefs an mir vorbei trugen; fast lief ich den Büroräumen der Agentur »West« davon.

Dr. Dösch empfing mich mit offenen Armen. Oskar war froh, daß er ihn nicht an sich drückte. Die Schreibmaschine eines grünen Pullovermädchens schwieg, als ich eintrat, holte dann alles nach, was sie meines Eintrittes wegen versäumt hatte. Dösch meldete mich beim Chef an. Oskar nahm Platz auf dem vorderen linken Sechstel eines englischrot gepolsterten Sessels. Dann tat sich eine Flügeltür auf, die .Schreibmaschine hielt die Luft an, ein Sog nahm mich vom Polster, die Türen schlössen hinter mir, ein Teppich floß durch einen lichtenSaal, der Teppich nahm mich mit, bis ein Stahlmöbel mir sagte: jetzt steht Oskar vorm Schreibtisch des Chefs, wieviel Zentner mag er wiegen? Ich erhob meine blauen Augen, suchte den Chef hinter der unendlich leeren Eichenholzfläche und fand, in einem Rollstuhl, der sich gleich einem Zahnarztstuhl hochschrauben und schwenken ließ, meinen gelähmten, nur mit den Augen und Fingerspitzen noch lebenden Freund und Meister Bebra.

Ach ja, seine Stimme gab es noch! Aus Bebra heraus sprach es: »So sieht man sich wieder, Herr Matzerath. Sagte ich nicht schon vor Jahren, da Sie es noch vorzogen, als Dreijähriger dieser Welt zu begegnen: Leute wie wir können sich nicht verlieren?! — Allein, ich stelle zu meinem Bedauern fest, daß Sie Ihre Proportionen unvernünftig stark und unvorteilhaft verändert haben. Maßen Sie seinerzeit nicht knappe vierundneunzig Zentimeter?«

Ich nickte und war dem Weinen nahe. An der Wand, hinter dem gleichmäßig surrenden, von einem Elektromotor betriebenen Rollstuhl des Meisters hing als einziger Bildschmuck das barockgerahmte lebensgroße Brustbild meiner Roswitha, der großen Raguna. Ohne meinem Blick zu folgen, doch um das Ziel meines Blickes wissend, sprach Bebra mit nahezu unbeweglichem Mund: »Ach ja, die gute Roswitha! Ob ihr der neue Oskar gefiele? Wohl kaum. Sie hatte es mit einem anderen Oskar, mit einem dreijährigen, pausbäckigen und dennoch recht liebestollen Oskar. Sie betete ihn an, wie sie mir mehr verkündete denn gestand. Er jedoch wollte ihr eines Tages keinen Kaffee holen, da holte sie ihn selbst und kam dabei ums Leben. Das ist, soviel ich weiß, nicht der einzige Mord, den jener pausbäckige Oskar verübte. War es nicht so, daß er seine arme Mama ins Grab trommelte?«

Ich nickte, konnte gottseidank weinen und hielt die Augen in Richtung Roswitha. Da holte schon Bebra zum nächsten Schlage aus: »Und wie verhielt es sich mit jenem Postbeamten Jan Bronski, den der dreijährige Oskar seinen mutmaßlichen Vater zu nennen beliebte? — Er überantwortete ihn den Schergen. Die schössen ihm in die Brust. Vielleicht können Sie, Herr Oskar Matzerath, der Sie in neuer Gestalt aufzutreten wagen, mir darüber Auskunft geben, was aus des dreijährigen Blechtrommlers zweitem mutmaßlichen Vater, aus dem Kolonialwarenhändler Matzerath wurde?«

Da gestand ich auch diesen Mord ein, gab zu, mich vom Matzerath befreit zu haben, schilderte seinen von mir herbeigeführten Erstickungstod, versteckte mich nicht mehr hinter jener russischen Maschinenpistole, sondern sagte: »Ich war es, Meister Bebra. Das tat ich, und das tat ich auch, diesen Tod verursachte ich, selbst an jenem Tod bin ich nicht unschuldig — Erbarmen!«

Bebra lachte. Ich weiß nicht, womit er lachte. Sein Rollstuhl zitterte, Winde wühlten in seinem weißen Gnomenhaar über jenen hunderttausend Fältchen, die sein Gesicht ausmachten.

Noch einmal flehte ich dringlich um Erbarmen, gab dabei meiner Stimme eine Süße, von der ich wußte, daß sie wirkte, warf auch meine Hände, von denen ich wußte, daß sie schön waren und gleichfalls wirkten, vors Gesicht: »Erbarmen, lieber Meister Bebra!

Erbarmen!«

Da drückte er, der sich zu meinem Richter gemacht hatte und diese Rolle vortrefflich spielte, auf ein Knöpfchen jenes elfenbeinfarbenen Schaltbrettchens, das er zwischen Knien und Händen hielt.

Der Teppich hinter mir brachte das grüne Pullovermädchen. Eine Mappe hielt sie, breitete die auf jener Eichenholzplatte aus, die etwa in Höhe meines Schlüsselbeines auf Stahlrohrgeschlinge stand und mir nicht erlaubte, einzusehen, was das Pullovermädchen ausbreitete. Einen Füllfederhalter reichte sie mir: es galt Bebras Erbarmen mit einer Unterschrift zu erkaufen.

Dennoch wagte ich in Richtung Rollstuhl Fragen zu stellen. Es fiel mir schwer, an jener Stelle, die ein lackierter Fingernagel bezeichnete, blindlings meine Signatur hinzusetzen.

»Das ist ein Arbeitsvertrag«, ließ Bebra hören. »Es bedarf Ihres vollen Namens. Schreiben Sie Oskar Matzerath, damit wir wissen, mit wem wir zu tun haben.«

Gleich nachdem ich unterschrieben hatte, verfünffachte sich das Brummen des Elektromotors, ich riß den Blick von der Füllfeder fort und sah gerade noch, wie ein schnellfahrender Rollstuhl, der während der Fahrt kleiner wurde, sich zusammenfaltete, übers Parkett durch eine Seitentür verschwand.

Manch einer mag nun glauben, daß jener Vertrag in doppelter Ausfertigung, den ich zweimal unterschrieb, meine Seele erkaufte oder Oskar zu schrecklichen Missetaten verpflichtete. Nichts davon! Als ich mit Hilfe des Dr. Dösch im Vorzimmer den Vertrag studierte, verstand ich schnell und mühelos, daß Oskars Aufgabe darin bestand, alleine mit seiner Blechtrommel vor dem Publikum aufzutreten, daß ich so trommeln mußte, wie ich es als Dreijähriger getan hatte und später noch einmal in Schmuhs Zwiebelkeller. Die Konzertagentur verpflichtete sich, meine Tourneen vorzubereiten, erst einmal auf die Werbetrommel zu schlagen, bevor »Oskar der Trommler« mit seinem Blech auftrat.

Während die Werbung anlief, lebte ich von einem zweiten generösen Vorschuß, den mir die Konzertagentur »West« gewährte. Dann und wann suchte ich das Bürohochhaus auf, stellte mich Journalisten, ließ mich fotografieren, verirrte mich einmal in dem Kasten, der überall gleich roch, aussah und sich anfaßte wie etwas höchst Unanständiges, das man mit einem unendlich dehnbaren, alles isolierenden Präservativ überzogen hatte. Dr. Dösch und das Pullovermädchen behandelten mich zuvorkommend, nur den Meister Bebra bekam ich nicht mehr zu Gesicht.

Eigentlich hätte ich mir schon vor der ersten Tournee eine bessere Wohnung leisten können. Doch blieb ich Klepps wegen bei Zeidler, versuchte den Freund, der mir den Umgang mit den Managern verrübelte, zu versöhnen, gab aber nicht nach, ging auch nie mehr mit ihm in die Altstadt, trank kein Bier mehr, aß keine frische Blutwurst mit Zwiebeln, sondern speiste, um mich auf künftige Eisenbahnfahrten vorzubereiten, in den vorzüglichen Bahnhofsgaststätten.

Oskar findet hier nicht den Platz, seine Erfolge lang und breit zu beschreiben. Eine Woche vor dem Beginn der Tournee tauchten jene ersten, schändlich wirksamen Plakate auf, die meinen Erfolg vorbereiteten, meinen Auftritt wie den Auftritt eines Zauberers, Gesundbeters, eines Messias ankündigten. Zuerst hatte ich die Städte im Ruhrgebiet heimzusuchen. Die Säle, in denen ich auftrat, faßten tausendfünfhundert bis über zweitausend Personen. Vor einer schwarzen Sammetwand hockte ich ganz alleine auf der Bühne. Ein Scheinwerfer deutete auf mich. Ein Smoking kleidete mich. Wenn ich auch trommelte, waren dennoch keine jugendlichen Jazzfans meine Anhänger. Erwachsene Personen vom fünfundvierzigsten Lebensjahr aufwärts hörten mir zu, hingen mir an. Um genau zu sein, muß ich sagen, Fünfundvierzigj ährige bis Fünfundfünfzigjährige machten etwa ein Viertel meines Publikums aus. Sie waren die jüngere Anhängerschaft. Ein weiteres Viertel bestand aus Fünfundfünfzigjährigen bis Sechzigjährigen. Greise und Greisinnen stellten die reichliche und dankbarste Hälfte meiner Zuhörer. Hochbetagte Leute sprach ich an, und die antworteten mir, blieben nicht stumm, wenn ich die dreijährige Trommel sprechen ließ, erfreuten sich, allerdings nicht in der Sprache der Greise, sondern mit kindlich dreijährigem Lallen und Babbeln, mit »Raschu, Raschu, Raschu!« an meiner Trommel, sobald Oskar ihnen etwas aus dem wunderbaren Leben des wunderbaren Rasputin vortrommelte. Doch weit mehr Erfolg als mit dem Rasputin, der den meisten Zuhörern schon zu anspruchsvoll war, hatte ich mit Themen, die ohne jede besondere Handlung nur Zustände beschrieben, denen ich Titel gab wie: Die ersten Milchzähne — Der schlimme Keuchhusten — Lange wollene Strümpfe kratzen — Wer Feuer träumt, das Bettchen näßt.

BOOK: Die Blechtrommel
4.39Mb size Format: txt, pdf, ePub
ads

Other books

Kiss at Your Own Risk by Stephanie Rowe
Save the Date! by Heather C. Myers
Tucker’s Grove by Kevin J. Anderson
Be Nobody by Lama Marut
Beneath the Ice by Alton Gansky
Camelback Falls by Jon Talton
The Ropemaker by Peter Dickinson
Alta by Mercedes Lackey