Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (86 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Oskar trug seit Monaten links außen im Brusttäschchen ein dreieckig hervorlugendes Kavalierstüchlein. Dieses Stück Seide zog er hervor, breitete es aus, bettete den Ringfinger darin, erkannte, daß die Innenseite des Fingers bis hoch ins dritte Glied Linien zeichneten, die auf Fleiß, Strebsamkeit, auch auf ehrgeizige Beharrlichkeit des Fingers schließen ließen.

Nachdem ich den Finger im Tüchlein versorgt hatte, erhob ich mich von der Kabelrolle, tätschelte den Hals des Hundes Lux, machte mich mit Tüchlein und Finger in dem Tüchlein in rechter Hand auf, wollte nach Gerresheim, nach Hause, hatte mit dem Fund dieses und jenes vor, kam auch bis zu dem nahen Zaun eines Schrebergartens — da sprach mich Vittlar an, der in der Astgabel eines Apfelbaumes lag und mich, auch den apportierenden Hund beobachtet hatte.

DIE LETZTE STRASSENBAHN ODER ANBETUNG EINES

WECKGLASES

Schon alleine seine Stimme: dieses hochmütige, geschraubte Näseln. Er lag in der Gabel des Apfelbaumes und sagte: »Sie halten sich einen tüchtigen Hund, mein Herr!«

Ich darauf, etwas fassungslos: »Was machen Sie da auf dem Apfelbaum?« Er zierte sich in der Astgabel, räkelte seinen langen Oberkörper: »Nur Kochäpfel sind es, fürchten Sie bitte nichts.«

Da mußte ich ihn zurechtweisen: »Was gehen mich Ihre Kochäpfel an? Was habe ich zu befürchten?«

»Nun«, züngelte er, »Sie könnten mich für die paradiesische Schlange halten, denn auch damals gab es schon Kochäpfel.«

Ich wütend: »Allegorisches Geschwätz!«

Er überschlau: »Ja glauben Sie etwa, nur Tafelobst ist eine Sünde wert?«

Schon wollte ich mich davonmachen. Nichts wäre mir in jenem Moment unerträglicher gewesen als eine Diskussion über die Obstsorten des Paradieses. Da kam er mir direkt, sprang behende aus der Astgabel, stand lang und windig am Zaun: »Was war es denn, was Ihr Hund aus dem Roggen brachte?«

Warum antwortete ich nur: »Einen Stein brachte er.«

Das artete zu einem Verhör aus: »Und Sie steckten den Stein in die Tasche?«

»Ich trage gerne Steine in der Tasche.«

»Mir sah, was der Hund Ihnen brachte, eher wie ein Stöckchen aus.«

»Ich bleibe bei Stein, und wenn es zehnmal ein Stöckchen ist oder sein könnte.«

»Also doch ein Stöckchen?«

»Von mir aus: Stock oder Stein, Kochäpfel oder Tafelobst...«

»Ein bewegliches Stöckchen?«

»Den Hund zieht es heim, ich gehe!«

»Ein fleischfarbenes Stöckchen?«

»Passen Sie lieber auf Ihre Äpfel auf! — Komm Lux!«

»Ein beringtes, fleischfarbenes und bewegliches Stöckchen?«

»Was wollen Sie von mir? Ich bin ein Spaziergänger, der sich einen Hund ausgeliehen hat.«

»Sehen Sie, auch ich möchte mir etwas ausleihen. Dürfte ich eine Sekunde lang jenen hübschen Ring über meine kleinen Finger streifen, der an Ihrem Stöckchen glänzte und das Stöckchen zu einem Ringfinger machte? — Vittlar, meine Name. Gottfried von Vittlar. Ich bin der Letzte unseres Geschlechtes.«

So machte ich Vittlars Bekanntschaft, schloß noch am selben Tage mit ihm Freundschaft, nenne ihn heute noch meinen Freund und sagte deshalb vor einigen Tagen — er besuchte mich — zu ihm: »Ich bin froh, lieber Gottfried, daß du, mein Freund, damals die Anzeige bei der Polizei machtest und nicht irgendein x-beliebiger Mensch.«

Wenn es Engel gibt, sehen sie sicher aus wie von Vittlar: Lang, windig, lebhaft, zusammenklappbar, eher die unfruchtbarste aller Straßenlaternen umarmend als ein weiches, zuschnappendes Mädchen.

Man bemerkt Vittlar nicht sogleich. Eine bestimmte Seite zeigend, kann er, je nach Umgebung, zum Faden, zur Vogelscheuche, zum Garderobenständer, zu einer liegenden Astgabel werden. Deshalb fiel er mir auch nicht auf, als ich auf der Kabeltrommel saß und er im Apfelbaum lag. Selbst der Hund bellte nicht; weil Hunde einen Engel weder wittern noch sehen noch anbellen können.

»Sei doch so gut, lieber Gottfried«, bat ich ihn vorgestern, »und schicke mir eine Abschrift jener Anzeige vor Gericht, die du vor etwa zwei Jahren machtest, die meinen Prozeß auslöste.«

Hier habe ich die Abschrift, lasse nun ihn, der vor Gericht gegen midi aussagte, sprechen:

Ich, Gottfried von Vittlar, lag an jenem Tage in der Gabel eines Apfelbaumes, der in meiner Mutter Schrebergarten jedes Jahr soviele Kochäpfel trägt, wie unsere sieben Weckgläser an Apfelmus fassen können. In der Astgabel lag ich, lag also auf der Seite, den linken Beckenknochen im tiefsten, etwas bemoosten Punkt der Gabel gebettet. Meine Füße wiesen gegen die Glashütte Gerresheim. Ich blickte — wohin blickte ich? — geradeaus blickte ich und erwartete, daß sich etwas in meinem Blickfeld zutragen würde.

Der Angeklagte, der heute mein Freund ist, trat in mein Blickfeld. Ein Hund begleitete ihn, umkreiste ihn, benahm sich, wie ein Hund sich benimmt, und hieß, wie mir der Angeklagte später verriet, Lux, war ein Rottweiler, den man in der Nähe der Rochuskirche, in einer Hundeleihanstalt ausleihen konnte.Der Angeklagte setzte sieh auf jene leere Kabeltrommel, die seit Kriegsende dem Schrebergarten meiner Mutter Alice von Vittlar vorliegt. Wie das hohe Gericht weiß, muß man den Körperwuchs des Angeklagten klein, auch verwachsen nennen. Das fiel mir auf. Noch merkwürdiger berührte mich das Benehmen des kleinen, gut angezogenen Herrn. Er trommelte mit zwei dürren Ästen gegen den Rost der Kabeltrommel. Wenn man jedoch bedenkt, daß der Angeklagte von Beruf Trommler ist und, wie sich erwiesen hat, wo er geht und steht, diesen Trommlerberuf ausübt, auch daß die Kabeltrommel — die heißt nicht umsonst so — jeden, selbst einen Laien zum Trommeln verführen kann, wird man sagen müssen: der Angeklagte Oskar Matzerath nahm an einem gewittrigen Sommertag auf jener Kabeltrommel Platz, die dem Schrebergarten der Frau Alice von Vittlar vorlag, und intonierte mit zwei ungleichgroßen dürren Weidenästen rhythmisch geordnete Geräusche.

Weiterhin sage ich aus, daß der Hund Lux längere Zeit lang in einem schnittreifen Roggenfeld verschwand. Über die Länge der Zeit befragt, wüßte ich keine Antwort zu geben, da mir, sobald ich in der Astgabel unseres Apfelbaumes liege, jeder Sinn für die Länge oder Kürze einer Zeit abgeht. Wenn ich dennoch sage, der Hund blieb längere Zeit verschwunden, bedeutet das, daß ich den Hund vermißte, weil er mir mit seinem schwarzen Fell und den Schlappohren gefiel.

Der Angeklagte jedoch — so glaube ich sagen zu dürfen — vermißte den Hund nicht.

Als der Hund Lux aus dem schnittreifen Roggenfeld zurückkam, trug er etwas in der Schnauze. Nicht etwa, daß ich erkannte, was der Hund in der Schnauze hielt! An einen Stock dachte ich, an einen Stein, weniger an eine Blechbüchse oder gar an einen Blechlöffel. Erst als der Angeklagte das corpus delicti der Hundeschnauze entnahm, erkannte ich deutlich, um was es sich handelte. Doch von jenem Augenblick an, da der Hund die noch gefüllte Schnauze am — glaube ich — linken Hosenbein des Angeklagten rieb, bis zu dem leider nicht mehr zu fixierenden Zeitpunkt, da der Angeklagte besitzergreifend hinein griff, vergingen, vorsichtig gesagt, mehrere Minuten.

So sehr sich der Hund auch um die Aufmerksamkeit seines Leihherren bemühte: der trommelte unentwegt in jener eintönig einprägsamen, dennoch unfaßbaren Art, wie Kinder trommeln. Erst als der Hund zu einer Unart Zuflucht nahm, die feuchte Schnauze zwischen die Beine des Angeklagten stieß, ließ jener die Weidenäste sinken und trat — ich erinnere mich genau — rechtsbeinig den Hund. Der schlug einen halben Bogen, näherte sich hündisch zitternd abermals, bot seine gefüllte Schnauze an.

Ohne sich zu erheben, sitzend also, griff der Angeklagte — diesmal linkshändig — dem Hund zwischen die Zähne. Seines Fundes ledig, trat der Hund Lux mehrere Meter hinter sich. Der Angeklagte jedoch blieb sitzen, hielt den Fund in der Hand, schloß die Hand, öffnete sie wieder, schloß abermals und ließ, als er die Hand wieder öffnete, etwas an dem Fund glitzern. Nachdem sich der Angeklagte an den Anblick des Fundes gewöhnt hatte, hielt er ihn mit Daumen und Zeigefinger senkrecht hoch, etwa in Augenhöhe.

Jetzt erst nannte ich für mich den Fund einen Finger, erweiterte, des Glitzerns wegen, den Begriff, sagte Ringfinger und gab damit, ohne es zu ahnen, einem der interessantesten Prozesse der Nachkriegszeit den Namen: Schließlich nennt man mich, Gottfried von Vittlar, den wichtigsten Zeugen im Ringfingerprozeß.

Da der Angeklagte ruhig blieb, blieb auch ich ruhig. Ja, seine Ruhe teilte sich mir mit. Und als der Angeklagte den Finger mit Ring sorgfältig in jenes Tüchlein wickelte, das er zuvor wie ein Kavalier in der Brusttasche hatte blühen lassen, empfand ich Sympathie für den Menschen auf der Kabeltrommel: ein ordentlicher Herr, dachte ich, den möchtest du kennenlernen.

So rief ich ihn an, als er mit seinem Leihhund in Richtung Gerresheim davon wollte. Er aber reagierte zuerst ärgerlich, fast arrogant. Bis heute kann ich nicht begreifen, warum der Angesprochene in mir, nur weil ich im Apfelbaum lag, das Symbol einer Schlange sehen wollte. Auch verdächtigte er die Kochäpfel meiner Mutter, sagte, die seien gewiß paradiesischer Art.

Nun mag es in der Tat zu den Angewohnheiten des Bösen gehören, sich vorzugsweise in Astgabeln zu lagern. Mich jedoch bewog nichts anderes als eine mir mühelos geläufige Langeweile, mehrmals in der Woche den Liegeplatz im Apfelbaum aufzusuchen. Doch vielleicht ist die Langeweile schon das Böse an sich. Was aber trieb den Angeklagten vor die Mauern der Stadt Düsseldorf? Ihn trieb, wie er mir später gestand, die Einsamkeit. Aber ist die Einsamkeit nicht der Vorname der Langeweile? Diese Überlegungen stelle ich alle an, um den Angeklagten zu erklären, und nicht, um ihn zu belasten. War es doch gerade seine Spielart des Bösen, sein Trommeln, das das Böse rhythmisch auflöste, die ihn mir sympathisch machte, so daß ich ihn ansprach und Freundschaft mit ihm schloß. Auch jene Anzeige, die mich als Zeugen, ihn als Angeklagten vor die Schranken des hohen Gerichtes zitiert, ist ein von uns erfundenes Spiel, ein Mittelchen mehr, unsere Langeweile und Einsamkeit zu zerstreuen und zu ernähren.

Auf meine Bitte hin streifte mir der Angeklagte nach einigem Zögern den Ring des Ringfingers, der sich leicht abziehen ließ, auf meinen linken kleinen Finger. Er paßte gut und erfreute mich.

Selbstverständlich verließ ich noch vor der Ringanprobe meine eingelegene Astgabel. Wir standen auf beiden Seiten des Zaunes, tauschten die Namen, sprachen uns ein, indem wir einige politische Themen berührten, und dann gab er mir den Ring. Den Finger behielt er,hielt ihn behutsam. Wir waren uns einig, daß es sich um einen weiblichen Finger handelte. Während ich den Ring trug und ihm Licht gab, begann der Angeklagte mit der freien linken Hand dem Zaun einen tänzerischen, heiter und aufgeräumten Rhythmus anzuschlagen. Nun ist der Holzzaun vor dem Schrebergarten meiner Mutter von so haltloser Art, daß er dem Trommlerbegehren des Angeklagten klappernd, vibrierend, auf hölzerne Weise entgegenkam. Ich weiß nicht, wie lange wir so standen und uns mit den Augen verständigten. Im harmlosesten Spiel fanden wir uns, als ein Flugzeug in mittlerer Höhe seine Motoren hören ließ. Wahrscheinlich wollte die Maschine in 'Lohhausen landen. Obgleich es uns beiden wissenswert war, ob das Flugzeug mit zwei oder vier Motoren zur Landung ansetzen würde, lösten wir dennoch nicht die Blicke voneinander, sprachen das Flugzeug nicht an, nannten dieses Spiel später, als wir dann und wann Gelegenheit fanden, es zu üben, Schugger Leos Askese; denn der Angeklagte will vor Jahren einen Freund gleichen Namens besessen haben, mit dem er dieses Spielchen vorzugsweise auf Friedhöfen spielte.

Nachdem das Flugzeug seinen Landeplatz gefunden hatte — ich kann wirklich nicht sagen, ob es sich um eine zwei-oder viermotorige Maschine handelte — gab ich den Ring zurück. Der Angeklagte steckte ihn dem Ringfinger an, benutzte abermals sein Taschentüchlein als Verpackungsmaterial und forderte mich auf, seinen Weg zu begleiten.

Das war am siebenten Juli neunzehnhunderteinundfünfzig. In Gerresheim nahmen wir an der Endstation der Straßenbahn nicht etwa die Bahn, sondern ein Taxi. Der Angeklagte hatte später noch oft Gelegenheit, sich mir gegenüber großzügig zu zeigen. Wir fuhren in die Stadt, ließen das Taxi vor der Hundeleihanstalt an der Rochuskirche warten, gaben den Hund Lux ab, fanden wieder ins Taxi, das führte uns quer durch die Stadt über Bilk, Oberbilk zum Werstener Friedhof, dort mußte Herr Matzerath über zwölf Mark bezahlen; dann erst besuchten wir das Grabsteingeschäft des Steinmetz Korneff.

Dort war es sehr schmutzig, und ich war froh, als der Steinmetz den Auftrag meines Freundes nach einer Stunde erledigt hatte. Während mir der Freund umständlich und liebevoll das Werkzeug und die verschiedenen Steinsorten erklärte, machte Herr Korneff, der über den Finger kein Wort verlor, einen Gipsabguß des Fingers ohne Ring. Ich sah ihm bei der Arbeit nur mit einem halben Auge zu, mußte doch der Finger vorbehandelt werden; das heißt, man rieb ihn mit Fett ein, ließ einen Zwirnfaden ums Fingerprofil laufen, trug dann erst Gips auf, teilte mit dem Zwirnfaden die Form, bevor der Gips hart wurde. Zwar ist mir, der ich von Beruf Dekorateur bin, das Anfertigen einer Gipsform nichts Neues, doch bekam der Finger, sobald ihn der Steinmetz in die Hand nahm, etwas Unästhetisches, das sich erst wieder verlor, als der Angeklagte, nach geglücktem Abguß, den Finger wieder an sich nahm, vom Fett reinigte und in seinem Tüchlein versorgte. Mein Freund bezahlte den Steinmetz. Der wollte zuerst nichts annehmen, da er in dem Herrn Matzerath einen Kollegen sah. Auch sagte er, der Herr Oskar habe ihm früher die Furunkel ausgedrückt und gleichfalls nichts dafür verlangt. Als der Guß erstarrt war, nahm der Steinmetz die Form auseinander, lieferte dem Original den Abguß nach, versprach, innerhalb der nächsten Tage noch weitere Abgüsse aus der Stückform zu gewinnen, und begleitete uns durch seine Grabsteinausstellung bis -zum Bittweg.

Eine zweite Taxifahrt brachte uns zum Hauptbahnhof. Dort lud midi der Angeklagte zu einem ausgedehnten Abendessen in den gepflegten Bahnhofsgaststätten ein. Mit den Obern sprach er vertraulich, Woraus ich schloß, daß Herr Matzerath ein Stammgast der Bahnhofsgaststätten sein müsse. Wir aßen Ochsenbrust mit frischem Rettich, auch Rheinsahn, schließlich Käse und tranken hinterher ein Fläschchen Sekt. Als wir wieder auf den Finger zu sprechen kamen, ich dem Angeklagten riet, den Finger als fremdes Eigentum zu betrachten, ihn abzugeben, zumal er jetzt doch den Gipsabguß besitze, erklärte der Angeklagte fest und bestimmt, er betrachte sich als rechtmäßigen Besitzer des Fingers, da man ihm schon anläßlich seiner Geburt, wenn auch verschlüsselt durch das Wort Trommelstock, solch einen Finger versprochen habe; auch könne er die Narben seines Freundes Herbert Truczinski nennen, die fingerlang auf dem Rücken des Freundes den Ringfinger prophezeit hätten; dann gebe es noch jene Patronenhülse, die sich auf dem Friedhof Saspe fand, auch die habe die Maße und die Bedeutung eines zukünftigen Ringfingers gehabt.

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