Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (87 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Wenn ich anfänglich über die Beweisführung meines neugewonnenen Freundes lächeln wollte, muß ich doch zugeben, daß ein aufgeschlossener Mensch die Folge: Trommelstock, Narbe, Patronenhülse, Ringfinger mühelos begreifen müßte.

Ein drittes Taxi brachte mich nach jenem Abendessen nach Hause. Wir verabredeten uns, und als ich nach drei Tagen der Verabredung gemäß den Angeklagten besuchte, hielt der für mich eine Überraschung bereit.

Zuerst zeigte er mir seine Wohnung, das heißt, seine Zimmer, denn Herr Matzerath wohnte in Untermiete. Anfangs hatte er wohl nur ein recht dürftiges, ehemaliges Badezimmer gemietet, zahlte dann später, als seine Trommelkunst ihm Ansehen und Wohlstand brachte, für eine fensterlose Kammer, die er Schwester Dorotheas Kammer nannte, weitere Miete und scheute sich nicht, auch für ein drittes Zimmer, das zuvor ein gewisser Herr Münzer, Musiker und Kollege des Angeklagten, bewohnt hatte, ein Sündengeld auszugeben, denn jener Herr Zeidler, der Mietherr der Wohnung, trieb, da erum den Wohlstand des Herrn Matzerath wußte, die Mieten unverschämt in die Höhe.

In der sogenannten Kammer der Schwester Dorothea hielt der Angeklagte die Überraschung für mich bereit. Auf der Marmorplatte einer Waschkommode mit Spiegel stand ein Weckglas von jener Größe, wie es meine Mutter Alice von Vittlar zum Einwecken des Apfelmuses aus unseren Kochäpfeln verwendet. Jenes Weckglas jedoch beherbergte den im Spiritus schwimmenden Ringfinger. Stolz zeigte der Angeklagte mir mehrere dicke wissenschaftliche Bücher, die ihn beim Konservieren des Fingers geleitet hatten. Ich blätterte nur flüchtig in den Bänden, verweilte kaum über den Abbildungen, gab aber zu, daß es dem Angeklagten gelungen sei, das Aussehen des Fingers zu wahren, auch nahm sich das Glas mit Inhalt vor dem Spiegel recht hübsch und dekorativ interessant aus; was ich als ein Dekorateur von Beruf immer wieder bestätigen konnte.

Als der Angeklagte merkte, daß ich mich mit dem Anblick des Weckglases befreundet hatte, verriet er mir, daß er jenes Glas gelegentlich anbete. Neugierig, auch etwas keß bat ich ihn sogleich um eine Probe seines Gebetes. Er bat mich um einen Gegendienst, versorgte mich mit Bleistift und Papier, verlangte, ich möge doch sein Gebet mitschreiben, auch Fragen stellen bezüglich des Fingers, er wolle nach bestem Wissen betend antworten.

Hier gebe ich als Zeugnis Worte des Angeklagten, meine Fragen, seine Antworten — die Anbetung eines Weckglases: Ich bete an. Wer ich? Oskar oder ich? Ich fromm, Oskar zerstreut. Hingebung, ohne Unterlaß, nur keine Angst vor Wiederholungen. Ich, einsichtig, weil ohne Gedächtnis. Oskar, einsichtig, weil voller Erinnerungen. Kalt, heiß, warm, ich. Schuldig bei Nachfrage. Unschuldig ohne Nachfrage. Schuldig weil, kam zu Fall weil, wurde schuldig trotz, sprach mich frei von, wälzte ab auf, biß mich durch durch, hielt mich frei von, lachte aus an über, weinte um vor ohne, lästerte sprechend, verschwieg lästernd, spreche nicht, schweige nicht, bete. Ich bete an. Was? Glas. Was Glas?

Weckglas. Was weckt das Glas ein? Weckglas weckt Finger ein. Was Finger? Ringfinger. Wessen Finger? Blond. Wer blond? Mittelgroß. Mißt Mittelgroß einen Meter sechzig? Mittelgroß mißt einen Meter dreiundsechzig. Was besonderes? Leberfleck. Wo Fleck? Oberarm Innenseite. Links reckts?

Rechts. Ringfinger wo? Links. Verlobt? Ja, doch ledig. Bekenntnis? Reformiert. Unberührt?

Unberührt. Geboren wann? Weiß nicht. Wann? Bei Hannover. Wann? Im Dezember. Schütze oder Steinbock? Schütze. Und der Charakter? Ängstlich. Gutwillig? Fleißig, auch schwatzhaft. Besonnen?

Sparsam, nüchtern, auch heiter. Schüchtern? Naschhaft, aufrichtig und bigott. Blaß, träumt meistens von Reisen, Menstruation unregelmäßig, träge, leidet gerne und spricht darüber, selbst einfallslos, passiv, läßt es drauf ankommen, hört gut zu, nickt zustimmend, verschränkt die Arme, senkt beim Sprechen die Lider, schlägt, wenn angesprochen, die Augen groß auf, hellgrau mit braun nahe der Pupille, Ring vom Vorgesetzten geschenkt bekommen, der verheiratet, wollte zuerst nicht annehmen, nahm an, schreckliches Erlebnis, faserig, Satan, viel weiß, verreiste, zog um, kam wieder, konnte nicht ablassen, auch Eifersucht aber unbegründet, Krankheit aber nicht selbst, Tod aber nicht selbst, doch, nein, weiß nicht, will nicht, pflückte Kornblumen, da kam, nein, begleitete schon vorher, kann nicht mehr ... Amen? Amen.

Nur deshalb füge ich, Gottfried von Vittlar, meiner Aussage vor Gericht dieses mitgeschriebene Gebet bei, weil, so verworren es sich lesen mag, die Angaben über die Besitzerin des Ringfingers sich zum großen Teil mit den gerichtlichen Angaben über die Ermordete, die Krankenschwester Dorothea Köngetter, decken. Es ist nicht meine Aufgabe, die Aussage des Angeklagten, er habe weder die Krankenschwester ermordet noch von Angesicht zu Angesicht gesehen, hier anzuzweifeln.

Bemerkenswert, und für den Angeklagten sprechend, will mir heute noch die Hingabe sein, mit der mein Freund vor dem Weckglas, das er auf einen Stuhl gestellt hatte, kniete und seine Blechtrommel bearbeitete, die er sich zwischen die Knie geklemmt hatte.

Ich habe noch oft, über ein Jahr lang Gelegenheit gehabt, den Angeklagten beten und trommeln zu sehen, denn er machte mich gegen ein großzügiges Gehalt zu seinem Reisebegleiter, nahm mich auf seine Tourneen mit, die er längere Zeit lang unterbrochen hatte, aber kurz nach dem Fund des Ringfingers wieder aufnahm. Wir bereisten ganz Westdeutschland, hatten auch Angebote in die Ostzone, selbst ins Ausland. Doch Herr Matzerath wollte sich innerhalb der Landesgrenzen halten, wollte, nach seinen eigenen Worten, nicht in den üblichen Konzertreisenrummel hineingeraten.

Niemals trommelte und betete er vor der Vorstellung das Weckglas an. Erst nach seinem Auftritt und nach ausgedehntestem Abendbrot fanden wir uns in seinem Hotelzimmer: er trommelte und betete, ich stellte Fragen und schrieb nieder, hernach verglichen wir das Gebet mit den Gebeten der vorangegangenen Tage und Wochen. Zwar gibt es längere und kürzere Gebete. Auch stoßen sich manchmal die Worte heftig, fließen am nächsten Tag fast beschaulich und langatmig. Dennoch sagen alle von mir gesammelten Gebete, die ich hiermit dem hohen Gericht übergebe, nicht mehr aus als jene erste Niederschrift, die ich meiner Aussage beifügte.

Während dieses Reisejahres lernte ich flüchtig, zwischen Tournee und Tournee, einige Bekannte und Verwandte des Herrn Matzerath kennen. So stellte er mir seine Stiefmutter Frau Maria Matzerath vor, die der Angeklagte sehr, doch zurückhaltend, verehrt. An jenem Nachmittag begrüßte mich auch der Halbbruder des Angeklagten, Kurt Matzerath, ein elfjähriger guterzogener Gymnasiast. Gleichfalls machte die Schwester der Frau Maria Matzerath, Frau Auguste Köster, auf mich einen vorteilhaften Eindruck. Wie mir der Angeklagte gestand, waren seine Familienverhältnisse während der ersten Nachkriegsjahre mehr als gestört. Erst als Herr Matzerath seiner Stiefmutter ein großes Feinkostgeschäft, das auch Südfrüchte führt, einrichtete, auch immer wieder mit seinen Mitteln nachhalf, wenn dem Geschäft Schwierigkeiten drohten, kam es zu jenem freundschaftlichen Bund zwischen Stiefmutter und Stiefsohn.

Auch machte mich Herr Matzerath mit einigen ehemaligen Kollegen, vorwiegend Jazzmusikern bekannt. So heiter und umgänglich mir der Herr Münzer, den der Angeklagte vertraulich Klepp nennt, vorkommen wollte, hatte ich bis heute nicht Mut und Willen genug, diese Kontakte weiter zu pflegen.

Wenn ich es dank der Großzügigkeit des Angeklagten auch nicht nötig hatte, weiterhin den Beruf des Dekorateurs auszuüben, übernahm ich dennoch, aus Freude am Beruf, sobald wir nach einer Tournee wieder im Lande waren, die Dekoration einiger Schaufenster. Auch der Angeklagte interessierte sich freundlich für mein Handwerk, stand oftmals zu später Nachtstunde auf der Straße und wurde nicht müde, meinen bescheidenen Künsten den Zuschauer zu liefern. Gelegentlich machten wir nach getaner Arbeit noch einen kleinen Bummel durchs nächtliche Düsseldorf, mieden aber die Altstadt, da der Angeklagte keine Butzenscheiben und altdeutschen Wirtschaftsschilder sehen mag. So führte uns — und ich komme jetzt zum letzten Teil meiner Aussage — ein Spaziergang nach Mitternacht durchs nächtliche Unterrath vor das Straßenbahndepot.

Wir standen einträchtig und sahen den letzten planmäßig einlaufenden Straßenbahnwagen zu. Hübsch ist solch ein Schauspiel. Rings die dunkle Stadt. Fern grölt, weil Freitag ist, ein betrunkener Bauarbeiter. Sonst Stille, denn die letzten einlaufenden Straßenbahnen machen, selbst wenn sie klingeln und gekurvte Schienen sprechen lassen, keinen Lärm. Die meisten Wagen fuhren sogleich ins Depot ein. Einige Wagen jedoch standen kreuz und quer, leer, aber festlich beleuchtet auf den Gleisen.

Wessen Idee war es? Es war unsere Idee, aber ich sagte: »Nun, lieber Freund, wie wäre es?« Herr Matzerath nickte, wir stiegen ohne Hast ein, ich stellte mich an den Führerstand, fand mich sofort zurecht, fuhr weich, schnell Geschwindigkeit gewinnend, an, zeigte mich als ein guter Straßenbahnführer, was mir Herr Matzerath — wir hatten die Helligkeit des Depots schon hinter uns — freundlich mit diesem Sätzchen quittierte: »Gewiß bist du ein getaufter Katholik, Gottfried, sonst könntest du nicht so gut Straßenbahn fahren.«

In der Tat machte mir die kleine Gelegenheitsarbeit viel Freude. Man schien am Depot unsere Abfahrt nicht bemerkt zu haben; denn niemand verfolgte uns, auch hätte man durch das Abschalten des Leitungsstromes unser Gefährt mühelos stoppen können. Ich führte den Wagen in Richtung Flingern, durch Flingern hindurch, überlegte, ob ich bei Haniel links einbiegen, nach Rath, Ratingen hinauffahren sollte, da bat mich Herr Matzerath, die Strecke Grafenberg, Gerresheim einzuschlagen.

Obgleich ich die Steigung unterhalb der Tanzgaststätte Löwenburg fürchtete, kam ich dem Wunsch des Angeklagten nach, schaffte die Steigung, hatte die Tanzgaststätte schon hinter mir, da mußte ich den Wagen bremsen, weil drei Männer auf den Schienen standen und ein Halt mehr erzwangen denn erbaten.

Herr Matzerath hatte schon kurz hinter Haniel das Innere des Wagens aufgesucht, um eine Zigarette zu rauchen. So mußte ich als Straßenbahnführer »Einsteigen bitte!« rufen. Es fiel mir auf, daß der dritte, hutlose Mann, den die beiden anderen, die grüne Hüte mit schwarzen Hutbändern trugen, in der Mitte hatten, beim Einsteigen ungeschickt oder sehbehindert mehrmals das Trittbrett verfehlte. Recht brutal halfen ihm seine Begleiter oder Wächter in meinen Führerstand und gleich darauf in den Wagen.

Ich fuhr schon wieder, da hörte ich von hinten her, aus dem Wageninneren zuerst ein klägliches Wimmern, auch ein Geräusch, als verteilte jemand Ohrfeigen, dann jedoch, zu meiner Beruhigung, die feste Stimme des Herrn Matzerath, der die frisch Zugestiegenen zurechtwies und sie ermahnte, einen verletzten, halbblinden Menschen, der unter dem Verlust seiner Brille leide, nicht zu schlagen.

»Mischen Sie sich da nicht rein!« hörte ich einen der Grünhüte brüllen. »Der wird heut' noch sein blaues Wunder erleben. Hat lange genug gedauert.«

Mein Freund, der Herr Matzerath, wollte, während ich langsam gen Gerresheim fuhr, wissen, was der arme Halbblinde denn verbrochen habe. Das Gespräch nahm sogleich eine merkwürdige Wendung:

nach zwei Sätzen befand man sich mitten im Krieg, oder vielmehr drehte es sidi um den ersten September neununddreißig, Kriegsausbruch, der Halbblinde wurde Freischärler genannt, der ein polnisches Postgebäude widerrechtlich verteidigt hatte. Merkwürdigerweise war auch Herr Matzerath, der zu dem Zeitpunkt allenfalls fünfzehn Jahre gezählt hatte, auf dem laufenden, erkannte sogar den Halbblinden, nannte ihn Viktor Weluhn, einen armen, kurzsichtigen Geldbriefträger, der während der Kampfhandlungen seine Brille verlor, der brillenlos floh, den Schergen entkam, doch die ließen nicht locker, verfolgten ihn bis Kriegsende, sogar bis in die Nachkriegsjahre hinein, zeigten auch ein Papier vor, im Jahr neununddreißig ausgestellt, einen Erschießungsbefehl. Endlich hätten sie ihn, schrie der eine Grünhut, und der andere Grünhut versicherte, er sei froh, daß die Geschichte jetzt endlich bereinigt sei. Seine ganze Freizeit, auch die Ferien müsse er opfern, damit ein Erschießungsbefehl aus dem Jahre neununddreißig endlich ausgeführt werde, schließlich habe er noch einen Beruf, sei Handelsvertreter, und sein Kumpel habe als Ostflüchtling gleichfalls seine Schwierigkeiten, der müsse noch mal ganz von vorne anfangen, habe im Osten eine gutgehende Maßschneiderei verloren, aber jetzt sei Feierabend; heute nacht wird der Befehl ausgeführt, dann ist Schluß mit der Vergangenheit — wie gut, daß wir noch die Straßenbahn erwischt haben.

So wurde ich also wider Willen zu einem Straßenbahnführer, der einen zum Tode Verurteilten und zwei Henker mit Erschießungsbefehl nach Gerresheim führte. Auf dem leeren, etwas verkanteten Marktplatz des Vorortes bog ich rechts ein, wollte den Wagen bis zur Endstation nahe der Glashütte führen, dort die Grünhüte und den halbblinden Viktor abladen und mit meinem Freund die Heimreise antreten. Drei Stationen vor der Endhaltestelle verließ Herr Matzerath das Wageninnere, stellte seine Aktentasche, in der, wie ich wußte, aufrecht das Weckglas stand, etwa dorthin, wo berufsmäßige Straßenbahnführer ihre Blechschachtel mit den Butterbroten lagern.

»Wir müssen ihn retten. Es ist Viktor, der arme Viktor!« Herr Matzerath war offensichtlich erregt.

»Immer noch nicht hat er eine passende Brille gefunden. Er ist stark kurzsichtig, sie werden ihn erschießen, und er wird in die falsche Richtung blicken.« Ich hielt die Henker für waffenlos. Aber dem Herrn Matzerath waren die sperrig gebauschten Mäntel der beiden Grünhüte aufgefallen.

»Er war Geldbriefträger bei der Polnischen Post in Danzig. Jetzt übt er denselben Beruf bei der Bundespost aus. Nach Feierabend jedoch hetzen sie ihn, weil es noch immer den Erschießungsbefehl gibt.«

Wenn ich auch den Herrn Matzerath nicht in allen Punkten verstand, versprach ich ihm dennoch, an seiner Seite der Erschießung beizuwohnen und wenn möglich mit ihm die Erschießung zu verhindern.

Hinter der Glashütte, kurz vor den Schrebergärten — ich hätte bei Mondschein den Garten meiner Mutter mit dem Apfelbaum sehen können — bremste ich den Straßenbahnwagen und rief ins Wageninnere: »Aussteigen bitte, Endstation!« Sie kamen auch sogleich mit ihren grünen Hüten und schwarzen Hutbändern. Der Halbblinde hatte abermals Mühe mit dem Trittbrett. Dann stieg Herr Matzerath aus, zog zuvor seine Trommel unter dem Rock hervor und bat mich beim Aussteigen, seine Aktentasche mit dem Weckglas mitzunehmen.

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