Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (77 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Merkwürdigerweise meldete sich da der Katholizismus in mir. Ich zweifelte an, ob die Elisabeth überhaupt etwas von der Dudelsackmusik verstehe, machte auch einige Bemerkungen über das schmachvolle Ende der katholischen Maria Stuart, kurz, Oskar ließ Klepp wissen, daß er die Elisabeth für unmusikalisch halte.

Eigentlich hatte ich einen Zornesausbruch des Royalisten erwartet. Der jedoch lächelte wie ein Besserwisser und bat mich um eine Erklärung, der er gegebenenfalls entnehmen könne, ob mir, dem kleinen Mann — so nannte'mich der Dicke — in Sachen Musik ein Urteil zuzutrauen sei.

Längere Zeit lang sah Oskar den Klepp an. Er hatte mich angesprochen, ohne zu wissen, was er in mir ansprach. Vom Kopf schoß es mir in den Buckel. Es war wie am Jüngsten Tag all meiner alten, zerschlagenen, erledigten Blechtrommeln. Die tausend Bleche, die ich zum Schrott geworfen hatte, und das eine Blech, das auf dem Friedhof Saspe begraben lag, sie standen auf, erstanden aufs neue, feierten heil und ganz Auferstehung, ließen sich hören, füllten mich aus, trieben mich von der Bettkante hoch, zogen mich, nachdem ich Klepp um Entschuldigung und einen Moment Geduld gebeten hatte, aus dem Zimmer, rissen mich an der Milchglastür und Kammer der Schwester Dorothea vorbei — noch lag das halbverdeckte Viereck des Briefes auf den Korridordielen — peitschten mich in mein Zimmer, ließen mir jene Trommel entgegenkommen, die mir der Maler Raskolnikoff geschenkt hatte, als er die Madonna 49 malte; und ich ergriff die Trommel, hatte das Blech, dazu beide Stöcke im Griff, drehte mich oder wurde gedreht, verließ mein Zimmer, sprang an der verfluchten Kammer vorbei, betrat wie ein Überlebender, der von langer Irrfahrt zurückkehrt, Klepps Spaghettiküche, machte keine Umstände, setzte mich auf die Bettkante, rückte mir die Weißrotgelackte zurecht, tändelte zuerst mit den Stöcken in der Luft, war wohl noch etwas verlegen und sah an dem erstaunten Klepp vorbei, ließ dann, wie zufällig, einen Stock auf das Blech fallen, ach, und das Blech gab Oskar Antwort, der war gleich mit dem zweiten Stock hinterdrein; und ich begann zu trommeln, der Reihe nach, am Anfang war der Anfang: der Falter trommelte zwischen Glühbirnen meine Geburtsstunde ein; die Kellertreppe mit ihren neunzehn Stufen trommelte ich und meinen Sturz von der Treppe, als man meinen dritten sagenhaften Geburtstag feierte; den Stundenplan der Pestalozzischule trommelte ich rauf und runter, bestieg mit der Trommel den Stockturm, saß mit der Trommel unter politischen Tribünen, trommelte Aale und Möwen, Teppichklopfen am Karfreitag, saß trommelnd auf dem zum Fußende hin verjüngten Sarg meiner armen Mama, nahm mir dann Herbert Truczinskis narbenreichen Rücken als Trommelvorlage und bemerkte, als ich die Verteidigung der polnischen Post am Heveliusplatz auf meinem Blech zusammenschlug, von weit her eine Bewegung am Kopfende jenes Bettes, auf dem ich saß, sah mit halbem Blick den aufgerichteten Klepp, der eine lächerliche Holzflöte unter dem Kopfkissen hervorzog, diese Flöte ansetzte und Töne hervorbrachte, die so süß, so unnatürlich, so meiner Trommelei gemäß waren, daß ich ihn auf den Friedhof Saspe zu Schugger Leo führen konnte, daß ich, als Schugger Leo ausgetanzt hatte, vor ihm, für ihn und mit ihm das Brausepulver meiner ersten Liebe aufschäumen lassen konnte; selbst in den Dschungel der Frau Lina Greff führte ich ihn, ließ auch die große fünfundsiebenzig Kilo aufwiegende Trommelmaschine des Gemüsehändlers Greff abschnurren, nahm Klepp auf in Bebras Fronttheater, ließ Jesus auf meinem Blech laut werden, trommelte Störtebeker und alle Stäuber vom Sprungturm hinunter — und unten saß Luzie — ich aber erlaubte Ameisen und Russen, meine Trommel zu besetzen, führte ihn aber nicht noch einmal auf den Friedhof Saspe, wo ich die Trommel dem Matzerath nachwarf, sondern schlug mein großes, nie endendes Thema an: Kaschubische Kartoffeläcker, Oktoberregen drüber, da sitzt meine Großmutter in ihren vier Röcken; und Oskars Herz drohte zum Stein zu werden, als ich vernahm, wie aus Klepps Flöte der Oktoberregen rieselte, wie Klepps Flöte unter Regen und vier Röcken meinen Großvater, den Brandstifter Joseph Koljaiczek aufspürte und wie dieselbe Flöte die Zeugung meiner armen Mama feierte und bewies.

Wir spielten mehrere Stunden lang. Als wir die Flucht meines Großvaters über die Holzflöße hinreichend variiert hatten, beendeten wir leicht erschöpft, aber auch glücklich das Konzert mit der hymnischen Andeutung einer möglichen, wunderbaren Rettung des verschollenen Brandstifters.

Mit dem letzten Ton noch halb in der Flöte sprang Klepp aus seinem eingelegenen Bett.

Leichengerüche folgten ihm. Er aber riß die Fenster auf, verstopfte mit Zeitungspapier das Kaminloch, zerfetzte das bunte Bild der Elisabeth von England, erklärte das Ende der royalistischen Zeit, ließ Wasser aus dem Leitungshahn in den Spülstein springen: wusch sich, er wusch sich, Klepp begann sich zu waschen, alles wagte er abzuwaschen, das war kein Waschen mehr, das war eine Waschung; und als der Gewaschene abließ vom Wasser und dick, tropfend, nackt, schier platzend, mit häßlichem schief hängendem Geschlecht vor mir stand, mich hob, mit gestreckten Armen hob — denn Oskar war und ist leicht — als dann das Lachen in ihm ausbrach, herausfand und gegen die Zimmerdecke schlug, da begriff ich, nicht nur Oskars Trommel war auferstanden, auch Klepp war ein Auferstandener — und wir beglückwünschten uns gegenseitig und küßten uns die Wangen.

Am selben Tag noch — wir gingen gegen Abend aus, tranken Bier, aßen Blutwurst mit Zwiebeln — schlug mir Klepp vor, mit ihm eine Jazzkapelle zu begründen. Zwar bat ich mir Bedenkzeit aus, aber Oskar hatte sich schon entschlossen, nicht nur seinen Beruf, das Schriftklopfen beim Steinmetz Korneff, sondern auch das Modellstehen mit der Muse Ulla aufzugeben und Schlagzeuger einer Jazz-Band zu werden.

AUF DEM KOKOSTEPPICH

So lieferte damals Oskar seinem Freund Klepp die Gründe fürs Aufstehen. Wenn er auch überfreudig aus seinen muffigen Tüchern sprang, sogar Wasser an sich heranließ und ganz zu dem Mann wurde, der Hoppla sagt und Was kostet die Welt, möchte ich heute, da der Betthüter Oskar heißt, behaupten: Klepp will sich an mir rächen, will mir das Gitterbett der Heil-und Pflegeanstalt vermiesen, weil ich ihm das Bett seiner Spaghettiküche vermieste.

Einmal in der Woche muß ich mir seinen Besuch gefallen lassen, seine optimistischen Jazztiraden, seine musikalisch-kommunistischen Manifeste muß ich mir anhören, denn er, der als Betthüter einen treuen Royalisten abgab und dem englischen Königshaus anhing, wurde, kaum hatte ich ihm sein Bett und seine Dudelsack-Elisabeth genommen, zahlendes Mitglied der KPD, treibt das heute noch als illegales Hobby, indem er Bier trinkt, Blutwurst tilgt und harmlosen Männchen, die an Theken stehen und Flaschenaufschriften studieren, die beglückenden Gemeinsamkeiten einer vollbeschäftigten Jazzband und einer sowjetischen Kolchose aufzählt.

Es bieten sich dem aufgescheuchten Träumer heutzutage nur noch wenige Möglichkeiten. Einmal dem eingelegenen Bett entfremdet, konnte Klepp Genosse werden — sogar illegal, was den Reiz erhöhte.Jazzfan hieß die zweite, ihm gebotene Konfession. Drittens hätte er, der getaufte Protestant, konvertieren und Katholik werden können.

Man muß es Klepp lassen: er hat sich die Zufahrtstraßen zu allen Glaubensbekenntnissen offengehalten. Vorsicht, sein schweres glänzendes Fleisch und sein Humor, der vom Beifall lebt, gaben ihm ein Rezept ein, nach dessen bauernschlauen Regeln die Lehren des Marx mit dem Mythos des Jazz zu vermixen sind. Sollte ihm eines Tages ein etwas linksorientierter Priester, Typ Arbeiterpriester, über den Weg laufen, der außerdem eine Schallplattensammlung mit Dixielandmusik betreut, wird von jenem Tage an ein jazzwiederkäuender Marxist sonntags die Sakramente empfangen und seinen oben beschriebenen Körpergeruch mit den Ausdünstungen einer neugotischen Kathedrale mischen.

Daß es auch mir so ergehe, sei mein Bett vor, aus dem mich der Bursche mit lebenswarmen Versprechungen locken will. Eingaben über Eingaben macht er beim Gericht, arbeitet Hand in Hand mit meinem Anwalt, verlangt eine Wiederaufnahme des Prozesses: Oskars Freispruch will er, Oskars Freiheit — raus aus der Anstalt mit unserem Oskar — und das alles nur, weil mir Klepp mein Bett nicht gönnt!

Dennoch tut es mir nicht leid, daß ich als Zeidlers Untermieter einen liegenden Freund zu einem stehenden, umherstampfenden, manchmal sogar laufenden Freund machte. Außer jenen anstrengenden Stunden, die ich gedankenschwer der Schwester Dorothea widmete, hatte ich nun ein unbeschwertes Privatleben. »Hallo, Klepp!« schlug ich ihm auf die Schulter, »laß uns eine Jazz-Band gründen.« Und er tätschelte meinen Buckel, den er fast so liebte wie seinen Bauch. »Oskar und ich, wir gründen eine Jazz-Band!« verkündete Klepp der Welt. »Nur fehlt uns noch ein ordentlicher Guitarrist, der auch auf dem Banjo Bescheid weiß.«

In der Tat gehört zur Trommel und Flöte noch ein zweites Melodieinstrument. Ein gezupfter Baß wäre, auch rein optisch, nicht schlecht gewesen, aber Bassisten waren schon damals schwer zu bekommen, und so suchten wir eifrig nach dem fehlenden Guitarristen. Wir gingen viel ins Kino, ließen uns, wie ich anfangs berichtete, zweimal in der Woche fotografieren, stellten mit den Paßbildchen, bei Bier, Blutwurst und Zwiebeln allerlei Unsinn ab. Klepp lernte damals die rote Ilse kennen, schenkte ihr leichtsinnigerweise ein Foto von sich, mußte sie alleine deshalb schon heiraten — nur einen Guitarristen fanden wir nicht.

Wenn mir auch die Düsseldorfer Altstadt mit ihren Butzenscheiben, mit Senf auf Käse, Bierdunst und niederrheinischer Schunkelei wegen meiner Tätigkeit als Modell auf der Kunstakademie einigermaßen bekannt war, sollte ich sie doch erst an Klepps Seite richtig kennenlernen. Wir suchten den Guitarristen rund um die Lambertuskirche, in allen Kneipen und besonders in der Ratingerstraße, im »Einhorn«, weil dort Bobby zum Tanz aufspielte, uns manchmal mit Flöte und Blechtrommel einsteigen ließ, meinem Blech Beifall spendete, obgleich Bobby selber ein ausgezeichneter Schlagzeuger war, dem leider an der rechten Hand ein Finger fehlte.

Wenn wir auch im »Einhorn« keinen Guitarristen fanden, bekam ich doch einige Routine, hatte ja auch meine Erfahrungen aus der Fronttheaterzeit her und hätte schon nach kürzester Frist einen passablen Schlagzeuger abgegeben, wenn Schwester Dorothea mir nicht dann und wann einen Einsatz vermasselt hätte.

Die Hälfte meiner Gedanken waren immer bei ihr. Das wäre noch zu verschmerzen gewesen, wenn die andere Hälfte der Gedanken vollständig, von Punkt zu Punkt in der Nähe meiner Blechtrommel geblieben wären. Es war aber so
,
daß ein Gedanke bei der Trommel begann und bei der Rotkreuzbrosche der Schwester Dorothea endete. Klepp, der es verstand, meine Versager meisterhaft mit seiner Flöte zu überbrücken, sorgte sich jedesmal, wenn er Oskar so zur Hälfte in Gedanken versunken sah. »Hast du vielleicht Hunger, soll ich Blutwurst bestellen?«

Klepp witterte hinter jedem Leid dieser Welt einen wölfischen Hunger, und so glaubte er auch, jedes Leid mit einer Portion Blutwurst kurieren zu können. Oskar aß in jener Zeit sehr viel frische Blutwurst mit Zwiebelringen und trank Bier dazu, damit sein Freund Klepp glaubte, Oskars Leid heiße Hunger und nicht Schwester Dorothea.

Wir verließen zumeist sehr früh Zeidlers Wohnung in der Jülicher Straße und frühstückten in der Altstadt. In die Akademie ging ich nur noch, wenn wir Geld fürs Kino brauchten. Die Muse Ulla hatte sich inzwischen zum dritten oder vierten Mal mit dem Maler Lankes verlobt, war also unabkömmlich, denn Lankes bekam seine ersten großen Industrieaufträge. Das Modellstehen ohne Muse machte jedoch Oskar keinen Spaß — man verzeichnete ihn wieder, schwärzte ihn gräßlich an, und so gab ich mich ganz meinem Freund Klepp hin; denn auch bei Maria und Kurtchen fand ich keine Ruhe. Dort hauste allabendlich ihr Chef und verheirateter Verehrer, der Stenzel.

Als Klepp und ich eines Tages, im Frühherbst neunundvierzig, unsere Zimmer verließen, uns auf dem Korridor, etwa auf der Höhe der Milchglastür trafen, mit Instrumenten die Wohnung verlassen wollten, rief uns Zeidler an, der die Tür seines Wohn-und Schlafzimmers einen Spalt breit geöffnet hatte.

Eine schmale, aber dicke Teppichrolle schob er vor sich her, auf uns zu und verlangte, daß wir ihm beim Legen und Befestigen des Teppichs halfen. Der Teppich war ein Kokosläufer. Acht Meter und zwanzig Zentimeter lang war der Läufer. Da der Korridor der Zeidlerschen Wohnung jedoch nur sieben Meter und fünfundvierzig Zentimeter lang war, mußten Klepp und ich fünfundsiebenzig Zentimeterdes Kokosläufers abschneiden. Wir machten das sitzend, da sich das Abschneiden von Kokosfasern als harte Arbeit herausstellte. Nachher war der Kokosläufer um zwei Zentimeter zu kurz.

Da der Läufer genau die Breite des Korridors hatte, bat uns Zeidler, der sich angeblich schlecht bücken konnte, mit vereinten Kräften den Läufer auf die Dielen zu nageln. Es war Oskars Einfall, beim Nageln den Läufer zu strecken. So gelang es uns, die fehlenden zwei .Zentimeter bis auf einen geringfügigen Rest wieder herauszuschinden. Wir vernagelten Nägel mit breiten flachen Köpfen, da schmalköpfige Nägel dem locker geflochtenen Kokosläufer keinen Halt gegeben hätten. Weder Oskar noch Klepp schlugen sich auf den Daumen. Allerdings schlugen wir einige Nägel krumm. Das lag aber an der Qualität der Nägel, die aus Zeidlers Vorrat, also aus Vorwährungsreformzeiten stammten.

Als der Kokosläufer zur Hälfte fest an den Dielen haftete, legten wir unsere Hämmer über kreuz und blickten den Igel, der unsere Arbeit überwachte, zwar nicht aufdringlich, aber erwartungsvoll an. Er verschwand auch in seinem Wohn-und Schlafzimmer, kam mit drei Likörgläsern aus seinem Likörgläservorrat zurück und hatte auch eine Flasche Doppelkorn bei sich. Wir tranken auf die Haltbarkeit des Kokosläufers, meinten hinterher, wiederum nicht aufdringlich, eher erwartungsvoll: Kokosfaser macht durstig. Vielleicht freuten sieh die Likörgläser des Igels, daß mehrmals hintereinander Doppelkorn in ihnen Platz finden durfte, bevor ein familiärer Zornesausbruch des Igels sie zu Scherben werden ließ. Als Klepp versehentlich ein leeres Likörgläschen auf den Kokosläufer kippte, ging das Gläschen nicht kaputt und gab auch keinen Ton von sich. Wir lobten alle den Kokosläufer. Als Frau Zeidler, die von der Wohn-und Schlafzimmertür unserer Arbeit zusah, gleich uns den Kokosläufer lobte, weil der Kokosläufer fallende Likörgläser vor Schaden bewahrte, geriet der Igel in Zorn. Er stampfte den noch nicht festgenagelten Teil des Kokosläufers, riß die drei leeren Likörgläser an sich, verschwand so beladen im Zeidlerschen Wohn-und Schlafzimmer, die Vitrine hörten wir klirren — er faßte noch mehr Gläser, da ihm drei Gläschen nicht genügten — und gleich darauf hörte Oskar eine ihm wohlbekannte Musik: vor seinem geistigen Auge entstand der Zeidlersche Dauerbrandofen, acht zerscherbte Likörgläser lagen zu Füßen des Ofens, und Zeidler bückte sich nach Kehrblech und Handfeger, fegte als Zeidler jene Scherben zusammen, die er als Igel gemacht hatte.

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