Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (75 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Den Kamm, den Oskar, um die Brieftasche besser handhaben zu können, auf die Marmorplatte gelegt hatte, nahm ich noch einmal, als ich Brieftasche und Beute in der Jacke trug. Ich hielt ihn gegen die ungeschützte Glühbirne, ließ ihn durchsichtig sein, folgte den beiden verschieden starken Sprossengruppen, stellte das Fehlen zweier Sprossen in der schmächtigeren Gruppe fest, ließ es mir nicht nehmen, den Fingernagel des linken Zeigefingers entlang den Kuppen der gröberen Sprossen schnurren zu lassen, und erfreute Oskar während der ganzen verspielten Zeit mit dem Aufleuchten einiger weniger Haare, die ich abzustreifen mit Absicht, um keinen Verdacht zu erregen, versäumt hatte.

Endgültig sank der Kamm in die Haarbürste. Von dem Toilettentisch, der mich viel zu einseitig orientierte, fand ich fort. Auf dem Weg zum Bett der Krankenschwester stieß ich gegen einen Küchenstuhl, dem ein Büstenhalter anhing.

Die beiden Negativformen jener an den Rändern verwaschenen und verfärbten Stütze konnte Oskar mit nichts anderem füllen als mit seinen Fäusten, und die füllten nicht, nein, die bewegten sich fremd, unglücklich, zu hart, zu nervös in Schüsseln, die ich tagtäglich, die Kost nicht kennend, gerne ausgelöffelt hätte; ein zeitweiliges Erbrechen schon einbeziehend, denn jeder Brei ist manchmal zum Kotzen, dann wieder süß hinterher, zu süß oder so süß, daß der Brechreiz Geschmack findet und wahrer Liebe Proben stellt.

Es fiel mir der Dr. Werner ein, und ich nahm meine Fäuste aus dem Büstenhalter. Sogleich verging mir wieder der Dr. Werner, und ich konnte mich vor das Bett der Schwester Dorothea stellen. Dieses Bett der Krankenschwester! Wie oft hatte Oskar es sich vorgestellt, und nun war es dasselbe häßliche Gestell, das auch meiner Ruhe und gelegentlichen Schlaflosigkeit den braungestrichenen Rahmen gab.

Ein weißlackiertes Metallbett mit Messingknöpfen, ein Gitter leichtester Art hätte ich ihr gewünscht, nicht dieses plumpe lieblose Möbel. Unbeweglich, mit schwerem Kopf, keiner Leidenschaft, selbst der Eifersucht nicht fähig, stand ich eine Zeit lang vor einem Schlafaltar, dessen Federbett aus Granit sein mochte, drehte mich dann, vermied den beschwerlichen Anblick. Nie hätte Oskar sich die Schwester Dorothea und ihren Schlaf in dieser ihm so verhaßten Gruft vorstellen mögen.

Schon wieder auf dem Wege zum Toilettentisch, vielleicht von der Absicht bewogen, nun endlich die vermeintlichen Salbendöschen öffnen zu wollen, befahl mir der Schrank, seine Ausmaße zu beachten, seinen Anstrich schwarzbraun zu nennen, den Profilen seines Gesimses zu folgen und ihn endlich zu öffnen; denn jeder Schrank will geöffnet werden.

Den Nagel, der an Stelle eines Schlosses die Türen zusammenhielt, bog ich senkrecht: sogleich und ohne meine Hilfe fiel das Holz seufzend auseinander und bot soviel Aussicht, daß ich einige Schritte hinter mich treten mußte, um über verschränkten Armen kühl beobachten zu können. Oskar wollte sich nicht wie über dem Toilettentisch in Einzelheiten verlieren, wollte nicht, wie dem Bett gegenüber, von Vorurteilen belastet ein Urteil sprechen; ganz frisch und wie am ersten Tage wollte er dem Schrank begegnen, weil auch der Schrank ihn mit offenen Armen empfing.

Dennoch konnte sich Oskar, der unverbesserliche Ästhet, eine Kritik nicht ganz und gar versagen: hatte doch ein Barbar dem Schrank hastig und splitterreißend die Füße abgesägt, um ihn platt und verzogen auf die Dielen zu stellen.

Die innere Ordnung des Möbels war tadellos. Rechts stapelten sich in drei tiefen Fächern die Leibwäsche und die Blusen. Weiß und rosa wechselten mit einem hellen, sicher waschechten Blau.

Zwei miteinander verbundene rotgrün karierte Wachstuchtaschen hingen nahe den Wäschefächern an der Innenseite der rechten Schranktür und bewahrten oben die geflickten, unten die durch Laufmaschen verletzten Damenstrümpfe auf. Verglichen mit jenen Strümpfen, die Maria von ihrem Chef und Verehrer geschenkt bekam und auch trug, wollten mir die Gewebe in den Wachstuchtaschen zwar nicht gröber, doch dichter und haltbarer vorkommen. Im geräumigen Teil des Schrankes hingen links auf Kleiderbügeln matt glänzende, gestärkte Krankenschwesterntrachten. Im Hutfach darüber reihten sich empfindlich, keine unkundige Berührung vertragend, die schlichtschönen Schwesternhäubchen. Nur einen kurzen Blick warf ich auf die links von den Wäschefächern versorgten zivilen Kleider. Die nachlässige und billige Auswahl bestätigte meine stille Hoffnung: nur mäßiges Interesse widmete Schwester Dorothea diesem Teil ihrer Ausstattung. So nahmen sich auch die drei oder vier topfähnlichen Kopfbedeckungen, die nachlässig und ihre jeweiligen komischen Blumenimitationen drückend, im Hutfach neben den Häubchen übereinander hingen, insgesamt wie ein mißglückter Kuchen aus. Gleichfalls lehnten imHutfach ein schmales Dutzend buntrückige Bücher gegen einen mit Wollresten gefüllten Schuhkarton.

Oskar legte den Kopf schief, mußte nähertreten, um die Titel lesen zu können. Nachsichtig lächelnd stellte ich den Kopf wieder senkrecht: die gute Schwester Dorothea las Kriminalromane. Doch genug vom zivilen Teil des Kleiderschrankes. Durch die Bücher nun einmal nahe an den Kasten herangelockt, behielt ich den günstigen Platz, mehr noch, ich beugte mich ins Innere, wehrte mich nicht mehr gegen den immer stärker werdenden Wunsch, dazugehören zu dürfen, Inhalt des Schrankes zu sein, dem Schwester Dorothea einen nicht geringen Teil ihres Aussehens anvertraute.

Die praktisch sportlichen Schuhe, die im unteren Teil des Kastens mit flachen Absätzen auf der Bodenplatte standen und peinlich geputzt auf Ausgang warteten, mußte ich nicht einmal zur Seite räumen. Fast absichtsvoll einladend war die Ordnung des Schrankes so bestellt, daß Oskar in der Mitte des Gehäuses mit angezogenen Knien, auf den Hacken ruhend, ohne ein Gewand drücken zu müssen, genug Platz und Obdach fand. So stieg ich ein und versprach mir viel davon. Dennoch kam ich nicht sogleich zur Sammlung. Oskar fühlte sich durch Inventar und Glühbirne der Kammer beobachtet. Um meinen Aufenthalt im Schrankinneren intimer zu gestalten, versuchte ich die Schranktüren zuzuziehen. Es ergaben sich Schwierigkeiten, denn die Riegel an den Anschlagleisten der Türen waren ausgeleiert, erlaubten dem Holz, oben zu klaffen; es fiel Licht, doch nicht genug Licht, um mich stören zu können, in den Kasten. Dafür vermehrte sich der Geruch. Alt, sauber, nicht mehr nach Essig, sondern unaufdringlich nach mottenvertreibenden Mitteln roch es; es roch gut.

Was tat Oskar, als er im Schrank saß? Er lehnte die Stirn an das erste Berufskleid der Schwester Dorothea, eine Ärmelschürze, die am Hals schloß, fand sogleich zu allen Stationen des Krankenhauswesens die Türen offen — da griff meine rechte Hand, vielleicht eine Stütze suchend, nach hinten, an den zivilen Kleidern vorbei, verirrte sich, verlor den Halt, griff zu, hielt etwas Glattes, Nachgebendes, fand endlich — das Glatte noch im Griff haltend — eine stützende Leiste und rutschte einer Querlatte entlang, die waagerecht draufgenagelt mir und der hinteren Kastenwand Halt bot; schon hatte Oskar die Hand wieder rechts von sich, zufrieden hätte er sein können, da zeigte ich mir, was ich in meinem Rücken gegriffen hatte.

Ich sah einen schwarzen Lackgürtel, sah aber sogleich mehr als den Lackgürtel, weil es im Kasten so grau war, daß mein Lackgürtel nicht nur ein solcher sein mußte. Genauso hätte es auch etwas anderes bedeuten können, etwas genauso Glattes, Gestrecktes, das ich als unentwegt dreijähriger Blechtrommler auf der Hafenmole zu Neufahrwasser gesehen hatte: meine arme Mama im marineblauen Frühjahrsmantel mit den himbeerfarbenen Aufschlägen, Matzerath im Paletot, Jan Bronski mit Sammetkragen, an Oskars Matrosenmütze das Band mit goldgestickter Inschrift »SMS

Seydlitz« gehörten mit zur Partie, und Paletot und Sammetkragen sprangen vor mir und Mama, die wegen der Stöckelschuhe nicht springen konnte, von Stein zu Stein bis zum Seezeichen, unter dem der Angler saß mit der Wäscheleine und dem Kartoffelsack voller Salz und Bewegung. Wir aber, die wir den Sack und die Leine sahen, wollten wissen, warum der Mann unter dem Seezeichen mit einer Wäscheleine angelte, doch der Kerl aus Neufahrwasser oder Brösen, wo er auch herkam, lachte und spuckte braun dick ins Wasser, daß es noch lange neben der Mole schaukelte und nicht vom Fleck kam, bis eine Möwe es mitnahm; denn eine Möwe nimmt alles mit, ist keine empfindliche Taube, schon gar keine Krankenschwester — es wäre auch allzu einfach, könnte man alles, was Weiß trägt, in einen Hut werfen, in einen Schrank stecken, dasselbe kann man von Schwarz sagen, denn damals fürchtete ich mich noch nicht vor der Schwarzen Köchin, saß furchtlos im Schrank und wiederum nicht im Schrank, stand ähnlich furchtlos bei Windstille auf der Hafenmole zu Neufahrwasser, hielt hier den Lackgürtel, dort etwas anderes, das zwar auch schwarz und schlüpfrig und dennoch kein Gürtel war, suchte, weil ich im Schrank saß, nach einem Vergleich, denn Schränke zwingen dazu, nannte die Schwarze Köchin, doch ging mir das damals noch nicht unter die Haut, war in punkto Weiß viel beschlagener, wußte zwischen einer Möwe und Schwester Dorothea kaum zu unterscheiden, wies aber Tauben und ähnlichen Unsinn von mir, zumal es nicht Pfingsten war, sondern Karfreitag, da wir nach Brösen fuhren und später zur Mole gingen — auch gab es keine Tauben über dem Seezeichen, unter dem der Kerl aus Neufahrwasser mit der Wäscheleine saß, saß, auch spuckte. Und als der Kerl aus Brösen die Leine einholte, bis dann die Leine aufhörte und bewies, warum es so schwer gewesen war, sie aus dem brackigen Mottlauwasser zu ziehen, als meine arme Mama dann Jan Bronski die Hand auf Schulter und Sammetkragen legte, weil ihr der Käse ins Gesicht trat, weil sie weg wollte, und mußte dann doch zusehen, wie der Kerl den Pferdekopf auf die Steine klatschte, wie die kleineren, seegrünen Aale aus den Zotteln fielen, und die größeren, dunkleren würgte er aus dem Kadaver, als gelte es Schrauben zu ziehen, und jemand zerriß ein Federbett, ich meine, Möwen kamen, die stießen zu, weil Möwen, wenn sie zu dritt oder noch mehr sind, einen kleinen Aal ohne Mühe schaffen, während größere Burschen Schwierigkeiten bereiten. Da aber sperrte der Kerl dem Rappen das Maul auf, zwängte ihm ein Stück Holz zwischen das Gebiß, was den Gaul lachen ließ, und griff hinein mit seinem haarigen Arm, packte zu, faßte nach, wie ich im Schrank zupackte, nachfaßte, so hatte auch er und zog raus, wie ich den Lackgürtel, er zwei auf einmal, und schlenkerte die in der Luft, knallte die auf die Steine, bis meiner armen Mama das Frühstück aus dem Gesicht sprang, was aus Milchkaffee, Eiweiß und Eigelb, auch bißchen Marmelade und Weißbrotbrocken bestand und so reichlich war, daß sich die Möwen gleich schräg stellten, ein Stockwerk tiefer zogen, gespreizt ansetzten, vom Geschrei wollen wir gar nicht reden, auch daß die Möwen böse Augen haben, ist allgemein bekannt, und ließen sich nicht vertreiben, von Jan Bronski gewiß nicht, denn der hatte Angst vor den Möwen und hielt beide Hände vor seine beiden blauen Kulleraugen, auf meine Trommel hörten die auch nicht, sondern schlangen in sich hinein, während ich auf dem Blech wütend und auch begeistert manch neuen Rhythmus fand, aber meiner armen Mama war das alles egal, die war voll und ganz beschäftigt und würgte und würgte, kam aber nichts mehr, weil sie nicht allzuviel gegessen hatte, denn Mama wollte schlank werden, deshalb turnte sie auch zweimal in der Woche bei der Frauenschaft, aber das half kaum was, weil sie heimlich doch aß und immer einen kleinen Ausweg fand, wie auch der Kerl aus Neufahrwasser, aller Theorie zum Trotz, als Abschluß, da alle Anwesenden dachten, jetzt kommt nix mehr, dem Gaul einen Aal aus dem Ohr zog. Ganz voller weißer Grütze war der, weil er dem Gaul im Hirn gestöbert hatte. Wurde aber solange geschlenkert, bis die Grütze abfiel, bis der Aal seinen Lack zeigte und wie ein Lackgürtel glänzte, denn das will ich damit gesagt haben: solch einen Lackgürtel trug Schwester Dorothea, wenn sie privat und ohne die Rotkreuzbrosche ausging.

Wir aber gingen nach Hause, obgleich Matzerath noch bleiben wollte, weil ein Finne von ungefähr tausendachthundert Tonnen einlief und Wellen machte. Den Pferdekopf ließ der Kerl auf der Mole.

Gleich darauf war der Rappe weiß und schrie. Schrie aber nicht, wie Pferde schreien, eher wie eine Wolke schreit, die weiß ist und laut und gefräßig einen Pferdekopf verhüllt. Was damals im Grunde ganz angenehm war, denn so sah man den Gaul nicht mehr, selbst wenn man sich denken konnte, was hinter dem Irrsinn steckte. Auch lenkte der Finne uns ab, der Holz geladen hatte und rostig war wie die Friedhofsgitter auf Saspe. Meine arme Mama jedoch guckte sich weder nach dem Finnen noch nach den Möwen um. Die hatte genug. Wenn sie auch früher auf unserem Klavier »Kleine Möwe flieg nach Helgoland« nicht nur gespielt, auch gesungen hatte, das Liedchen sang sie nie mehr, sang überhaupt nix mehr, wollte auch anfangs keinen Fisch mehr essen, fing aber eines schönen Tages an, so viel und so fetten Fisch zu essen, bis sie nicht mehr konnte, nein, wollte, genug hatte, nicht nur vom Aal, auch vom Leben, besonders von den Männern, vielleicht auch von Oskar, jedenfalls wurde sie, die sonst auf nichts verzichten konnte, plötzlich genügsam, enthaltsam und ließ sich in Brenntau beerdigen. Das aber habe ich wohl von ihr, daß ich einerseits auf nichts verzichten will und andererseits ohne alles auskommen kann; nur ohne geräucherte Aale, auch wenn die noch so teuer sind, kann ich nicht leben.

Das galt auch von Schwester Dorothea, die ich nie gesehen hatte, deren Lackgürtel mir nur mäßig gefiel — und ich konnte mich dennoch nicht von dem Gürtel lösen, der hörte nicht mehr auf, vermehrte sich sogar, denn ich öffnete mir mit der freien Hand die Hosenknöpfe und machte das, um mir die Krankenschwester, die mir durch die vielen gelackten Aale, auch den einlaufenden Finnen undeutlich geworden war, wieder vorstellen zu können.

Allmählich gelang es Oskar, rückfällig immer wieder zur Hafenmole verwiesen, schließlich mit Hilfe der Möwen die Welt der Schwester Dorothea zumindest in jener Hälfte des Kleiderschrankes wiederzufinden, der ihre leere, aber dennoch ansprechende Berufskleidung beherbergte. Als ich sie endlich ganz deutlich sah und Einzelheiten ihres Gesichtes wahrzunehmen glaubte, glitten die Riegel aus den ausgeleierten Fallen: mißtönend fielen die Schranktüren auseinander, jähe Helle wollte mich irritieren, und Oskar mußte sich Mühe geben, daß er die zunächst hängende Armelschürze der Schwester Dorothea nicht befleckte.

Nur um einen notwendigen Übergang zu schaffen, auch um den Aufenthalt im Schrankinneren, der mich wider Erwarten angestrengt hatte, spielerisch aufzulösen, trommelte ich — was ich seit Jahren nicht mehr getan hatte — einige lockere Takte mehr oder weniger geschickt gegen die trockene hintere Kastenwand, verließ dann den Schrank, überprüfte noch einmal den Zustand seiner Sauberkeit — ich konnte mir wirklich nichts vorwerfen — selbst der Lackgürtel hatte noch seinen Glanz, nein, einige blinde Stellen mußten gerieben werden, auch angehaucht, bis der Gürtel nochmals zu dem wurde, was an Aale erinnerte, die man während meiner frühesten Jugend auf der Hafenmole zu Neufahrwasser fing.

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