Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (74 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Schwester Dorothea erhielt selten, aber immerhin mehr Post als ich. Ihr voller Name lautete Dorothea Köngetter; doch nannte ich sie nur Schwester Dorothea, vergaß von Zeit zu Zeit ihren Familiennamen, der sich ja auch hei einer Krankenschwester vollkommen erübrigt. Von ihrer Mutter aus Hildesheim bekam sie Post. Briefe und Postkarten kamen aus den verschiedensten Krankenhäusern Westdeutschlands. Es schrieben ihr Pflegerinnen, mit denen sie gemeinsam den Schwesternlehrgang absolviert hatte. Nun hielt sie schleppend und mühsam die Verbindung zu ihren Kolleginnen durch Postkartenschreiben aufrecht, bekam diese Antworten, die sich, wie Oskar flüchtig feststellte, albern und nichtssagend lasen.

Einiges erfuhr ich dennoch über Schwester Dorotheas Vorleben aus jenen Postkarten, die auf den Vorderseiten zumeist die mit Efeu berankten Fassaden von Krankenhäusern zeigten: sie, die Schwester, hatte eine Zeitlang im Vinzenthospital Köln, in einer Privatklinik bei Aachen, auch in Hildesheim gearbeitet. Von dort her schrieb auch ihre Mutter. Sie stammte also entweder aus Niedersachsen oder war wie Oskar ein Ostflüchtling, hatte dort kurz nach dem Krieg Zuflucht gefunden. Ferner erfuhr ich, daß Schwester Dorothea ganz in der Nähe, im Marienhospital, arbeitete, mit einer Schwester Beate eng befreundet sein mußte, denn viele Postkarten wiesen auf diese Freundschaft hin, brachten auch Grüße für jene Beate.

Sie beunruhigte mich, die Freundin. Oskar spekulierte mit ihrer Existenz. Briefe an die Beate setzte ich auf, bat in dem einen Brief um Fürsprache, verschwieg im nächsten die Dorothea, wollte mich zuerst an die Beate heranmachen und dann zur Freundin überwechseln. Fünf oder sechs Briefe entwarf ich, hatte auch schon einige im Kuvert, war auf dem Wege zum Postkasten und schickte dennoch keinen ab.

Vielleicht aber hätte ich dennoch eines Tages, toll wie ich war, solch einen Schrieb an die Schwester Beate abgeschickt, hätte sich nicht an einem Montag — damals begann Maria das Verhältnis mit ihrem Arbeitgeber, dem Stenzel, was mich merkwürdigerweise kalt ließ — jener Brief auf dem Korridor gefunden, der meine Leidenschaft, der es nicht an Liebe mangelte, in Eifersucht umbog.

Der vorgedruckte Absender sagte mir, daß da ein Dr. Erich Werner — Marienhospital, der Schwester Dorothea einen Brief geschrieben hatte. Am Dienstag traf ein zweiter Brief ein. Den dritten Brief brachte der Donnerstag. Wie war es an jenem Donnerstag? Oskar fand in sein Zimmer zurück, fiel auf einen der Küchenstühle, die zum Mobiliar gehörten, zog Marias wöchentliches Schreiben aus der Schlafanzugtasche — trotz ihres neuen Verehrers schrieb Maria weiterhin pünktlich, säuberlich, nichts auslassend — öffnete sogar das Kuvert, las und las doch nicht, hörte Frau Zeidler auf dem Flur, gleich darauf ihre Stimme; sie rief den Herrn Münzer, der aber nicht antwortete, dennoch zu Hause sein mußte, denn die Zeidlersche öffnete seine Zimmertür, reichte ihm die Post hinein und hörte nicht auf, auf ihn einzureden.Mir verging die Stimme der Frau Zeidler, noch während sie sprach. Dem Irrsinn der Tapete überließ ich mich, dem senkrechten, waagerechten, dem diagonalen Irrsinn, dem kurvenden, vertausendfachten Irrsinn, fand mich als Matzerath, aß mit ihm das verdächtig bekömmliche Brot aller Betrogenen, ließ es mir leichtfallen, meinen Jan Bronski zu einem billig verzeichneten, satanisch geschminkten Verführer zu kostümieren, der einmal im herkömmlichen Paletot mit Sammetkragen, dann im Arztkittel des Dr. Hollatz, gleich darauf als Chirurg Dr. Werner auftrat, um zu verführen, zu verderben, zu schänden, zu kränken, zu schlagen, zu quälen — um all das zu tun, was ein Verführer anstellen muß, damit er glaubwürdig bleibt.

Heute darf ich lächeln, wenn ich mir jenen Einfall zurückrufe, der Oskar damals gelb und tapetenirr werden ließ: Medizin wollte ich studieren, möglichst rasch. Arzt wollte ich werden, und zwar im Marienhospital. Den Dr. Werner wollte ich vertreiben, bloßstellen, ihn der Pfuscherei, ja sogar der fahrlässigen Tötung während einer Kehlkopfoperation bezichtigen. Nie, sollte sich herausstellen, war jener Herr Werner ein studierter Doktor gewesen. Während des Krieges arbeitete er in einem Feldlazarett, eignete sich dort einige Kenntnisse an: fort mit dem Schwindler! Und Oskar wurde zum Chefarzt, so jung und dennoch auf verantwortlichem Posten. Ein neuer Sauerbruch schritt dort, von Schwester Dorothea als Operationsschwester begleitet, von einem weißgekleideten Gefolge umgeben, durch hallende Korridore, machte Visite, entschloß sich in letzter Minute zur Operation. - Wie gut, daß dieser Film nie gedreht wurde!

IM KLEIDERSCHRANK

Nun soll niemand glauben, daß Oskar nur noch für Krankenschwestern zu sprechen war. Schließlich hatte ich mein Berufsleben! Das Sommersemester auf der Kunstakademie hatte angefangen, die Gelegenheitsarbeit des Schriftklopfens während der Ferien mußte ich aufgeben, denn Oskar hatte gegen gute Bezahlung stillzuhalten, alte Stilmittel mußten sich ihm gegenüber bewähren, neue Stile erprobten sich an mir und der Muse Ulla; man hob unsere Gegenständlichkeit auf, man resignierte, verleugnete uns, warf Linien, Vierecke, Spiralen, lauter auswendiges Zeug, das sich allenfalls auf Tapeten bewährt hätte, auf Leinwände und Zeichenbögen, gab den Gebrauchsmustern, denen es an nichts anderem als an Oskar und Ulla, also an geheimnisvoller Spannung fehlte, marktschreierische Titel wie: Aufwärts geflochten. Gesang-über der Zeit. Rot in neuen Räumen. Das taten vor allem die jungen Semester, die noch nicht recht zeichnen konnten. Meine alten Freunde um Professor Kuchen und Maruhn, die Meisterschüler Ziege und Raskolnikoff waren an Schwärze und Farbe zu reich, um mit blassen Kringeln und dünnblütigen Linien der Armut ein Loblied zu singen.

Die Muse Ulla aber, die, wenn sie irdisch wurde, einen recht kunstgewerblichen Geschmack an den Tag legte, erwärmte sich derart für die neuen Tapeten, daß sie den Maler Lankes, der sie verlassen hatte, schnell vergaß und die verschieden großen Dekorationen eines schon älteren Malers, Meitel mit Namen, hübsch, lustig, drollig, phantastisch, enorm und sogar chic fand. Daß sie sich mit dem Künstler, der Formen wie übersüße Ostereier bevorzugte, alsbald verlobte, will nicht viel sagen; sie fand später noch oft Gelegenheit zur Verlobung und steht augenblicklich — sie verriet es mir, als sie mich vorgestern besuchte und mir und Bruno Bonbons mitbrachte — kurz vor einer, wie sie es immer schon ausdrückte, ernsthaften Bindung.

Bei Semesteranfang wollte Ulla als Muse überhaupt nur der neuen, wie sie gar nicht merkte, ach so blinden Richtung ihren Anblick gönnen. Ihr Ostereiermaler, der Meitel, hatte ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt, hatte ihr als Verlobungsgeschenk einen Wortschatz vermittelt, den sie in Kunstgesprächen mit mir ausprobierte. Von Rapporten sprach sie, von Konstellationen, Akzenten, Perspektiven, von Rieselstrukturen, Schmelzprozessen, Erosionsphänomenen. Sie, die den Tag über nur Bananen aß und Tomatenjuice trank, sie sprach von Urzellen, von Farbatomen, die in dynamischer Rasanz in ihren Kraftfeldern nicht nur ihre natürliche Lage fänden, sondern darüber hinaus ... So etwas sprach Ulla mit mir während der Modellpausen, auch wenn wir gelegentlich in der Ratinger Straße einen Kaffee tranken. Selbst als die Verlobung mit dem dynamischen Ostereiermaler nicht mehr bestand, als sie nach kürzester Episode mit einer Lesbierin einem Schüler Kuchens und damit wieder der gegenständlichen Welt zufiel, blieb ihr noch jener Wortschatz, der ihr kleines Gesicht dergestalt anstrengte, daß sich zwei scharfe, etwas fanatische Fältchen um ihren Musenmund gruben.

Es sei hier zugegeben, daß es nicht ausschließlich Raskolnikoffs Idee war, die Muse Ulla als Krankenschwester neben Oskar zu malen. Nach der Madonna 49 malte er uns als »Die Entführung der Europa« — der Stier, das war ich. Und gleich nach der etwas umstrittenen Entführung entstand das Bild: »Der Narr heilt die Krankenschwester.«

Ein Wörtchen von mir entzündete die Phantasie Raskolnikoffs. Er brütete düster, rothaarig, verschlagen, wusch seine Pinsel aus, sprach, während er Ulla angestrengt fixierte, von Schuld und Sühne, da riet ich ihm, in mir die Schuld, in Ulla die Sühne zu sehen; meine Schuld sei offensichtlich, der Sühne könne man das Gewand einer Krankenschwester geben.

Daß jenes vortreffliche Bild später anders, irreführend anders hieß, lag an Raskolnikoff. Ich hätte jenes Gemälde »Die Versuchung« genannt, weil meine rechte, gemalte Hand einen Türdrücker faßt, her-unterdrückt und ein Zimmer öffnet, in dem die Krankenschwester steht. Auch könnte Raskolnikoffs Bild schlicht »Der Türdrücker« heißen; denn käme es mir darauf an, der Versuchung einen neuen Namen zu geben, würde ich das Wort Türdrücker empfehlen, weil jener griffige Auswuchs versucht werden will, weil jener Türdrücker an der Milchglastür vor Schwester Dorotheas Kammer von mir an allen Tagen versucht wurde, da ich den Igel Zeidler auf Reisen, die Krankenschwester im Hospital, Frau Zeidler bei Mannesmann im Büro wußte.

Oskar verließ dann sein Zimmer mit der abflußrohrlosen Badewanne, trat auf den Korridor der Zeidlerschen Wohnung, stellte sich vor die Kammer der Krankenschwester und gab dem Türdrücker seinen Griff.

Bis etwa Mitte Juni, und ich machte die Probe fast jeden Tag, hatte die Tür nicht nachgeben wollen.

Schon wollte ich in der Krankenschwester einen durch verantwortungsvolle Arbeit so zu Ordnung erzogenen Menschen sehen, daß es mir ratsam schien, alles Hoffen auf eine versehentlich offengebliebene Tür fahren zu lassen. Deshalb auch die dumme, mechanische Reaktion, die mich die Tür sofort wieder schließen ließ, als ich sie eines Tages unverschlossen fand.

Sicherlich stand Oskar mehrere Minuten lang zwischen gespanntester Haut auf dem Korridor, erlaubte sich so viele Gedanken verschiedenster Herkunft gleichzeitig, daß sein Herz Mühe hatte, jenem Ansturm so etwas wie einen Plan zu empfehlen.

Erst als es mir gelang, mich und mein Denken anderen Verhältnissen aufzupfropfen: Maria und ihr Verehrer, dachte ich, Maria hat einen Verehrer, der Verehrer schenkte Maria eine Kaffeekanne, Verehrer und Maria gehen am Sonnabend ins Apollo, Maria duzt den Verehrer nur nach Feierabend, im Geschäft siezt Maria ihren Verehrer, dem das Geschäft gehört — erst als ich Maria und ihren Verehrer von dieser und jener Seite bedacht hatte, gelang es mir, in meinem armen Kopf den Anflug einer Platzordnung zu bewirken — und ich öffnete die Milchglastür.

Ich hatte mir den Raum schon zuvor als einen fensterlosen Raum vorgestellt, denn nie hatte der obere trübdurchsichtige Teil der Tür einen Streifen Tageslicht verraten. Genau wie in meinem Zimmer rechts greifend, fand ich den Lichtschalter. Für die Größe dieser, um als Zimmer bezeichnet zu werden, viel zu engen Kammer, reichte die Vierzig-Watt-Birne vollkommen aus. Es war mir peinlich, mit der halben Figur sofort einem Spiegel gegenüber zu stehen. Oskar wich jedoch seinem verkehrten, darum kaum aufschlußreicheren Konterfei nicht aus; denn die Gegenstände auf dem Toilettentisch, det dem Spiegel in gleicher Breite vorgestellt war, zogen mich stark an, stellten Oskar auf die Zehenspitzen.

Das weiße Emaille der Waschschüssel zeigte blauschwarze Stellen. Jene marmorne Toilettentischplatte, in der die Waschschüssel sie bis zum übergreifenden Rand versenkte, zeigte gleichfalls Schäden. Die linke fehlende Ecke der Marmorplatte lag vor dem Spiegel, wies dem Spiegel ihre Adern. Spuren eines abblätternden Klebstoffes an den Bruchstellen verrieten einen ungeschickten Heilversuch. Es juckte mich in den Steinmetzfingern. An Korneffs selbstfabrizierten Marmorkitt dachte ich, der selbst den brüchigsten Lahnmarmor in jene dauerhaften Fassadenplatten verwandelte, die man Großmetzgereien vorklebte.

Jetzt, nachdem mich der Umgang mit dem vertrauten Kalkstein mein im üblen Spiegel arg verzeichnetes Bild vergessen ließ, gelang es mir auch, jenen Geruch, der Oskar beim Eintreten schon besonders sein wollte, zu benennen.

Es roch nach Essig. Später, auch noch vor wenigen Wochen, entschuldigte ich die aufdringliche Luft mit der Annahme: die Krankenschwester mochte am Vortage ihr Haar gewaschen haben; Essig war es, den sie vorm Spülen ihrer Kopfhaut dem Wasser beimischte. Es fand sich zwar auf dem Toilettentisch keine Essigflasche. Gleichfalls in anders etikettierten Behältnissen glaubte ich keinen Essig erkennen zu können, sagte mir auch immer wieder, Schwester Dorothea wird sich nicht in Zeidlers Küche, vorher beim Zeidler Erlaubnis einholend, warmes Wasser machen, um sich in ihrer Kammer umständlich genug die Haare zu waschen, wenn sie im Marienhospital modernste Badezimmer findet.

Immerhin konnte es sein, daß ein allgemeines Verbot der Oberschwester oder der Krankenhausintendanz den Pflegerinnen die Benutzung gewisser sanitärer Einrichtungen des Hospitals verbot und Schwester Dorothea sich gezwungen sah, hier, in jener Emailleschüssel, vor ungenauem Spiegel, ihr Haar waschen zu müssen.

Wenn sich auch keine Essigflasche auf dem Toilettentisch fand, standen doch Fläschchen und Dosen genug auf dem klammen Marmor. Ein Paket Watte und eine halbleere Packung Damenbinden nahmen Oskar damals den Mut, die Döschen auf ihren Inhalt hin zu untersuchen. Doch ich bin noch heute der Meinung, nur kosmetische Mittelchen, allenfalls harmlose Heilsalben machten den Inhalt der Dosen aus.

Den Kamm hatte die Krankenschwester in die Haarbürste gesteckt. Es brauchte einige Überwindung, bis ich ihn aus den Borsten zog und dem vollen Blick zeigte. Wie gut, daß ich es tat, denn im selben Moment machte Oskar seine wichtigste Entdeckung: die Krankenschwester hatte blonde Haare, vielleicht aschblonde Haare; doch soll man aus totem, ausgekämmtem Haar nur vorsichtig Schlüsse ziehen, deshalb nur die Feststellung: Schwester Dorothea hatte blonde Haare.

Weiterhin besagte die verdächtig reiche Fracht des Kammes: die Krankenschwester litt unter Haarausfall. Die Schuld an dieser peinlichen, ein weibliches Gemüt gewiß verbitternden Krankheit gab ich sogleich den Schwesternhäubchen, klagte aber die Häubchen nicht an; denn ohne Häubchen geht es nun einmal nicht in einem gutgehaltenen Krankenhaus.

So unangenehm Oskar der Essiggeruch war, die Tatsache, daß der Schwester Dorothea die Haare ausgingen, ließ in mir nichts anderes aufkommen als durch Mitleid verfeinerte, besorgte Liebe.

Bezeichnend für mich und meinen Zustand, daß mir sogleich mehrere als erfolgreich bezeichnete Haarwuchsmittel einfielen, die ich der Schwester bei günstiger Gelegenheit überreichen wollte. Schon mit den Gedanken bei diesem Zusammentreffen — Oskar stellte es sich unter warmem, windstillem Sommerhimmel zwischen wogenden Kornfeldern vor — streifte ich die ledigen Haare vom Kamm, bündelte sie, schnürte sie mit sich selbst, blies dem Bausch einen Teil Staub und Schuppen fort und schob ihn mir vorsichtig in ein eiligst ausgeräumtes Fach meiner Brieftasche.

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