Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (69 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Und Oskar? Eine Amizigarette in der Bernsteinspitze, beim Ober, der diskret das bis zur Neige geleerte Glas der Krankenschwester wegräumte, ein Schuß ohne Kaltgetränk bestellt. Koste es, was es wolle: Oskar lächelte. Zwar schmerzhaft, aber er lächelte und schlug, oben die Arme kreuzend, unten die Hosenbeine übereinander, wippte mit zierlichem schwarzem Schnürstiefel, Größe fünfunddreißig, und genoß die Überlegenheit des Verlassenen.

Die jungen Leute, Stammgäste der Löwenburg, waren nett, zwinkerten mir von der Tanzfläche, vorbeiswingend zu. »Hallo« riefen die Burschen und »Take it easy« die Mädchen. Ich dankte mit meiner Zigarettenspitze den Vertretern wahrer Humanität und schmunzelte nachsichtig, als der Schlagzeuger üppig wirbelte und mich an gute alte Tribünenzeiten erinnerte, indem er eine Solonummer auf die Flachtrommel, auf Pauke, Becken, Triangel legte und alsdann Damenwahl ankündigte.

Heiß gab sich die Band, spielte »Jimmy the Tiger«. Damit war wohl ich gemeint, obgleich niemand in der Löwenburg von meiner Trommlerlaufbahn unter Tribünengerüsten wissen konnte. Jedenfalls flüsterte mir das junge quecksilbrige Ding mit dem hennaroten Wuschelkopf, das mich zum Herrn ihrer Wahl auserkor, tabakheiser und kaugummibreit »Jimmy the Tiger« ins Ohr. Und während wii schnell, Dschungel und Dschungelgefahren heraufbeschwörend, Jimmy tanzten, ging auf Tigerpfoten der Tiger um, was etwa zehn Minuten dauerte. Abermals gab es Tusch, Beifall und nochmals Tusch, weil ich einen gutangezogenen Buckel hatte, dazu flink auf den Beinen war und als Jimmy the Tiger keine schlechte Figur machte. Ich bat die mir gewogene Dame an meinen Tisch, und Helma — so hieß sie -bat, ihre Freundin Hannelore mitbringen zu dürfen. Hannelore war schweigsam, seßhaft und trank viel. Helma hatte es mehr mit den Amizigaretten, und ich mußte beim Ober nachbestellen.

Ein gelungener Abend. Ich tanzte »Hebaberiba«, »In the mood«, »Shoeshine boy«, plauderte zwischendurch, versorgte zwei leicht zufriedenzustellende Mädchen, die mir erzählten, daß sie beide beim Fernsprechamt am Graf-Adolf-Platz arbeiteten, daß aber noch mehr Mädchen vom Fernsprechamt jeden Sonnabend und Sonntag zu Wedig in die Löwenburg kämen. Sie seien jedenfalls jedes Wochenende da, wenn sie nicht gerade Dienst hätten, und auch ich versprach, des öfteren wiederzukommen, weil Helma und Hannelore so nett seien, weil man sich mit Mädchen vom Fernsprechamt — hier machte ich ein Wortspiel, das beide sofort verstanden — auch nahe beieinander sitzend gut verstehe.

In die Krankenanstalten ging ich längere Zeit nicht mehr. Und als ich wieder dann und wann einen Besuch machte, war Schwester Gertrud auf die Frauenstation versetzt worden. Ich sah sie nie mehr oder nur einmal flüchtig, von weitem grüßend. In der Löwenburg wurde ich gerngesehener Stammgast. Die Mädchen nahmen mich tüchtig, doch nicht maßlos aus. Durch sie lernte ich einige Angehörige der britischen Besatzungsarmee kennen, schnappte hundert Wörtchen Englisch auf, schloß auch Freundschaft, sogar Duzbruderschaft mit einigen Mitgliedern der Löwenburgband, bezwang mich aber, was die Trommelei betraf, setzte mich also nie hinter das Schlagzeug, sondern begnügte mich mit dem kleinen Glück der Schriftklopferei in Korneffs Steinmetzbude.

Während des strengen Winters siebenundvierzigachtundvierzig hielt ich Kontakt mit den Mädchen des Fernsprechamtes, erhielt auch einige nicht allzu kostspielige Wärme bei der schweigsam seßhaften Hannelore, wobei wir jedoch knapp Distanz wahrten und uns auf das unverbindliche Handwerk verließen.

Im Winter pflegt sich der Steinmetz. Das Werkzeug muß nachgeschmiedet werden, einigen alten Brocken wird die Schriftfläche abgestockt, wo Kanten fehlen, schleift man Fasen, zieht Hohlkehlen.

Korneff und ich füllten das während der Herbstsaison gelichtete Grabsteinlager wieder auf, stampften einige Kunststeine aus Muschelkalkversatz. Auch versuchte ich mich in leichteren Bildhauerarbeiten mit der Punktiermaschine, schlug Reliefs, die Engelköpfe, Christi dornengekröntes Haupt und die Taube des Heiligen Geistes darstellten. Wenn Schnee fiel, schippte ich Schnee, und wenn kein Schnee fiel, taute ich die Wasserleitung zur Schleifmaschine auf.

Ende Februar achtundvierzig — der Karneval hatte mich abmagern lassen, ich schaute womöglich etwas vergeistigt aus, denn in der Löwenburg nannten mich einige Mädchen »Doktor« — kamen kurz nach Aschermittwoch die ersten Bauern vom linken Rheinufer und besichtigten unser Grabsteinlager.

Korneff war abwesend. Er machte seine alljährliche Rheumakur, arbeitete in Duisburg vor einem Hochofen, und als er nach vierzehn Tagen ausgedörrt und ohne Furunkel zurückkam, hatte ich schon drei Steine, darunter einen für ein dreistelliges Grab, günstig verkaufen können. Korneff schlug noch zwei Kirchheimer Muschelkalkwände los, und Mitte März begannen wir mit dem Versetzen. Ein Schlesischer Marmor ging nach Grevenbroich; die zwei Kirchheimer Metersteine stehen auf einem Dorffriedhof beiNeuß; den roten Mainsandstein mit von mir geschlagenem Engelsköpfchen kann man heute noch auf dem Stommler Friedhof bewundern. Die Diabaswand mit dem Dornenkronenchrist für das dreistellige Grab luden wir Ende März auf und fuhren langsam, weil der Dreiradwagen überladen war, in Richtung Kappes-Hamm, Rheinbrücke Neuß. Von Neuß über Grevenbroich nach Rommerskirchen, bogen dann rechts auf die Straße nach Bergheim Erft ab, ließen Rheydt, Niederaußem hinter uns, brachten den Brocken samt Sockel ohne Achsenbruch auf den Friedhof von Oberaußem, der leicht zum Dorf geneigt auf einem Hügel liegt.

Welch eine Aussicht! Zu unseren Füßen das Braunkohlenrevier des Erftlandes. Die acht gegen den Himmel dampfenden Kamine des Werkes Fortuna. Das neue, zischende, immer explodieren wollende Kraftwerk Fortuna Nord. Die Mittelgebirge der Schlackenhalden mit Drahtseilbahnen und Kipploren darüber. Alle drei Minuten ein Elektrozug mit Koks oder leer. Vom Kraftwerk kommend, zum Kraftwerk hin, spielzeugklein, dann Spielzeug für Riesen, die linke Ecke des Friedhofes überspringend die Starkstromleitung in Dreierkolonne, summend und hochgespannt nach Köln laufend. Andere Kolonnen dem Horizont zu, nach Belgien und Holland eilend: Welt, Knotenpunkt — wir stellten die Wand aus Diabas für die Familie Flies auf — Elektrizität entsteht, wenn man ... Der Totengräber mit Gehilfe, der hier den Schugger Leo ersetzte, die kamen mit Werkzeug, im Spannungsfeld standen wir, mit einer Umbettung begann der Totengräber drei Reihen unter uns — hier wurden Reparationsleistungen vollbracht — der Wind führte uns die typischen Gerüche einer zu früh angesetzten Umbettung zu — nein, kein Ekel, es war ja März. Märzäcker zwischen den Kokshalden. Der Totengräber trug eine gezwirnte Brille und zankte halblaut mit seinem Schugger Leo, bis die Sirene von Fortuna eine Minute lang ausatmete, atemlos wir, von der umzubettenden Frau gar nicht zu sprechen, nur Hochspannung hielt durch, und die Sirene kippte, fiel über Bord und ersoff — während von dörflichen schiefergrauen Schieferdächern Rauch mittäglich kräuselte und die Kirchenglocken gleich hinterdrein: Bete und arbeite — Industrie und Religion Hand in Hand.

Schichtwechsel auf Fortuna, wir Butterbrote mit Speck, aber Umbetten duldet keine Pause, auch rastlos Starkstrom zu Siegermächten hineilend, Holland erleuchtend, während hier immer wieder Stromsperre — doch die Frau kam ans Licht!

Während Korneff die Löcher fürs Fundament einsfünfzig tief aushob, kam sie hoch in die Frische und lag noch nicht lange unten, seit letztem Herbst erst im Dunkeln und war doch schon fortgeschritten, wie ja überall Verbesserungen vorgenommen wurden, und auch die Demontage an Rhein und Ruhr Fortschritte machte, hatte sich jene Frau während des Winters — den ich in der Löwenburg vertändelt hatte — ernsthaft unter der gefrorenen Erdkruste des Braunkohlenreviers mit sich selbst auseinandergesetzt und mußte nun, während wir Beton stampften und den Sockel legten, stückweise zur Umbettung überredet werden. Aber dafür war ja die Zinkkiste da, daß nichts, auch das Kleinste nicht verlorenging — wie ja auch Kinder bei der Brikettausgabe in Fortuna hinter den überladenen Lastwagen herliefen und fallende Briketts sammelten, weil Kardinal Frings von der Kanzel herunter gesagt hatte: Wahrlich ich sage euch: Kohlenklauen ist keine Sünde.

Ihr aber brauchte niemand mehr einzuheizen. Ich glaube nicht, daß sie in der sprichwörtlich frischen Märzluft fror, zumal ja noch Haut mehr als genug, wenn auch durchlässig und mit Laufmaschen, dafür Stoffreste und Haare, die immer noch Dauerwellen — daher kommt das Wort — auch waren die Sargbeschläge der Umbettung wert, selbst kleine Hölzlein wollten mit auf den anderen Friedhof, wo keine Bauern und Bergleute aus Fortuna, nein, in die große Stadt, wo immer was los war und neunzehn Kinos gleichzeitig, dahin wollte die Frau heimkehren, denn sie war eine Evakuierte, wie der Totengräber zu erzählen wußte, und nicht hiesig: »Dat Griet kam us Kölle, un kömmt nu nach Müllern, up de annere Sieht vom Rhing«, sagte er und hätte noch mehr gesagt, wenn nicht noch einmal die Sirene eine Minute lang Sirene, und ich näherte mich, die Sirene nutzend, der Umbettung, unterwanderte auf Umwegen die Sirene, wollte Zeuge der Umbettung sein, und nahm was mit, das sich hinterher neben der Zinkkiste als mein Spaten herausstellte, den ich, nicht etwa um zu helfen, sondern nur so, weil ich den Spaten bei mir hatte, auch gleich in Aktion setzte, etwas aufs Spatenblatt nahm, das danebengefallen war: und der Spaten, das war ein ehemaliger Spaten des Reichsarbeitsdienstes. Und was ich auf den RAD-Spaten nahm, das waren die ehemaligen oder waren noch immer die Mittelfinger und — glaube noch heute — der Ringfinger der evakuierten Frau, die beide nicht abgefallen, vielmehr vom Heber, der ja kein Gefühl hatte, abgehackt worden waren. Die aber schienen mir schön und geschickt gewesen zu sein, wie auch der Kopf der Frau, der schon in der Zinkkiste war, eine gewisse Ebenmäßigkeit durch den Nachkriegswinter siebenundvierzigachtundvierzig, der ja bekanntlich schlimm war, hinübergerettet hatte, so daß abermals von Schönheit, wenn auch verfallener die Rede sein konnte. Zudem waren mir der Kopf und die Finger der Frau näher und menschlicher als die Schönheit des Kraftwerkes Fortuna Nord. Mag sein, daß ich das Pathos der Industrielandschaft genoß, wie ich zuvor etwa Gustaf Gründgens im Theater genossen hatte, blieb aber doch solch auswendigen Schönheiten gegenüber mißtrauisch, wenn das auch kunstvoll war, und die Evakuierte nur allzu natürlich wirkte. Zugegeben, daß der Starkstrom mir ähnlich wie Goethe ein Weltgefühl vermittelte, aber die Finger der Frau berührten mein Herz, auch wenn ich mir die Evakuierte als Mann vorstellte, weil das besser in meinen Kram fürs Entschlüssefassen paßte und für den Vergleich, der mich zum Yorick machte und die Frau - halb noch unten, halb in der Zinkkiste — zum Manne Hamlet, wenn man Hamlet als Mann bezeichnen will. Ich aber, Yorick, fünfter Aufzug, der Narr, »Ich kannte ihn, Horatio«, erste Szene, ich, der auf allen Bühnen dieser Welt — »Ach armer Yorick!« — seinen Schädel dem Hamlet ausleiht, damit irgendein Gründgens oder Sir Laurence Olivier sich als Hamlet Gedanken darüber macht: »Wo sind nur deine Schwanke? deine Sprünge?« — ich hielt des Gründgens Hamletfinger auf meinem Arbeitsdienstspatenblatt, stand auf dem festen Boden des niederrheinischen Braunkohlenreviers, zwischen den Gräbern der Bergleute, Bauern und deren Familienangehörigen, sah auf die Schieferdächer des Dorfes Oberaußem herab, machte den dörflichen Friedhof zum Mittelpunkt der Welt, das Kraftwerk Fortuna Nord zu meinem imponierenden halbgöttlichen Gegenüber, die Äcker waren Dänemarks Äcker, die Erft war mein Belt, was hier faulte, das faulte mir im Reich der Dänen -

ich, Yorick, überspannt, geladen, knisternd, über mir singend, nicht daß ich Engel sage, und dennoch sangen die Starkstromengel in Dreierkolonnen zum Horizont hin, wo Köln und sein Hauptbahnhof neben dem gotischen Fabeltier lagen, und versorgten die katholische Beratungsstelle mit Strom, himmlisch über die Rübenäcker, die Erde jedoch gab Brikett her und Hamlets, nicht Yoricks Leiche.

Die anderen aber, die nichts mit dem Theater zu tun hatten, die mußten unten bleiben — »Die es dahin gebracht. -Der Rest ist Schweigen« — und wurden mit Grabsteinen beschwert, wie wir die Familie Flies mit der dreistelligen Diabaswand schwerwiegend belasteten. Für mich aber, Oskar Matzerath, Bronski, Yorick begann ein neues Zeitalter, und ich betrachtete, des neuen Zeitalters kaum bewußt, noch schnell, bevor es vorbei war, des Prinzen Hamlet vergammelte Finger auf meinem Spatenblatt -

»Er ist zu fett und kurz von Atem« — ließ, dritter Aufzug, den Gründgens in erster Szene nach Sein oder Nichtsein fragen, verwarf diese törichte Fragestellung, hielt vielmehr Konkretes nebeneinander: so meinen Sohn und meines Sohnes Feuersteine, meine mutmaßlichen irdischen und himmlischen Väter, die vier Röcke meiner Großmutter, die auf Fotos unsterbliche Schönheit meiner armen Mama, den narbigen Irrgarten auf Herbert Truczinskis Rücken, die blutaufsaugenden Briefkörbe der Polnischen Post, Amerika — ach, was ist Amerika gegen die Straßenbahnlinie neun, die nach Brösen fuhr — ließ den zeitweilig immer noch deutlichen Vanilleduft Marias gegen das als Irrsinn gebotene Dreiecksgesicht einer Luzie Rennwand wehen, bat jenen den Tod noch desinfizierenden Herrn Fajngold, das unauffindliche Parteiabzeichen in Matzeraths Luftröhre zu suchen, und sagte zu Korneff oder mehr zu den Hochspannungsmasten hin, sagte — da ich langsam zum Entschluß kam und dennoch das Bedürfnis verspürte, vor dem Entschluß eine dem Theater gemäße, Hamlet in Frage stellende, mich, Yorick, als wahren Bürger feiernde Frage zu stellen — zu.

Korneff sagte ich, als der mich rief, weil der Sockel mit der Diabaswand verfugt werden mußte, leise und von dem Wunsch bewegt, endlich ein Bürger werden zu dürfen, sprach — leicht Gründgens imitierend, obgleich der kaum einen Yorick spielen könnte — sagte übers Spatenblatt weg: »Heiraten oder Nichtheiraten, das ist hier die Frage.«

Seit jener Wende auf dem Friedhof, Fortuna Nord gegenüber, gab ich die Tanzgaststätte Wedigs Löwenburg auf, unterbrach alle Verbindungen mit den Mädchen des Fernsprechamtes, deren großes Plus ja gerade darin bestanden hatte, schnell und befriedigend Verbindungen herzustellen.

Im Mai kaufte ich für Maria und mich Kinokarten. Nach der Vorstellung gingen wir in ein Restaurant, aßen verhältnismäßig gut, und ich plauderte mit Maria, die sich allerlei Sorgen machte, weil Kurtchens Feuersteinquelle versiegte, weil das Geschäft mit dem Kunsthonig nachließ, weil — wie sie es nannte — ich mit meinen schwachen Kräften seit Monaten für die ganze Familie aufkäme. Ich beruhigte Maria, sagte, Oskar tue das gerne, nichts sei ihm lieber, als eine große Verantwortung tragen zu müssen, machte auch Komplimente über ihr Aussehen und wagte schließlich den Heiratsantrag.

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