Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (33 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Ich verließ meinen sicheren, fensterlosen, von drei Büroräumen und dem Korridor der ersten Etage eingeschlossenen Lagerraum für Briefsendungen, um nach Jan Bronski zu schauen. Wenn ich nach meinem mutmaßlichen Vater Jan Ausschau hielt, suchte ich selbstverständlich und fast mit noch größerer Begierde den invaliden Hausmeister Kobyella. War ich doch am Vorabend mit der Straßenbahn, auf mein Abendessen verzichtend, in die Stadt, zum Heveliusplatz und hinein in jenes mir sonst gleichgültige Postgebäude gekommen, um meine Trommel reparieren zu lassen. Wenn ich also den Hausmeister nicht rechtzeitig, das heißt, vor dem mit Sicherheit zu erwartenden Sturmangriff fand, war an eine sorgfältige Befestigung meines haltlosen Bleches kaum noch zu denken.

Oskar suchte also den Jan und meinte den Kobyella. Mehrmals durchmaß er mit auf der Brust gekreuzten Armen den langen gefliesten Korridor, blieb aber mit seinem Schritt alleine. Zwar unterschied er einzelne, sicher vom Postgebäude aus abgegebene Gewehrschüsse von der anhaltenden Munitionsvergeudung der Heimwehrleute, aber die sparsamen Schützen mußten in ihren Büroräumen die Poststempel gegen jene anderen, gleichfalls stempelnden Instrumente ausgetauscht haben. Im Korridor stand, lag oder hielt sich keine Bereitschaft für einen eventuellen Gegenangriff bereit. Da patrouillierte nur Oskar, war wehrlos und ohne Trommel dem Geschichte machenden Introitus einer viel zu frühen Morgenstunde ausgesetzt, die allenfalls Blei, aber kein Gold im Munde trug.

Auch in den Büroräumen zum Posthof hin fand ich keine Menschenseele. Leichtsinn, stellte ich fest.

Man hätte das Gebäude auch in Richtung Schneidermühlengasse sichern müssen. Das dort liegende Polizeirevier, durch einen bloßen Bretterzaun vom Posthof und der Paketrampe getrennt, bildete eine so günstige Angriffsposition, wie sie nur noch im Bilderbuch zu finden sein mag. Ich klapperte die Büroräume, den Raum für eingeschriebene Sendungen, den Raum der Geldbriefträger, die Lohnkasse, die Telegrammannahme ab: da lagen sie. Hinter Panzerplatten und Sandsäcken, hinter umgestürzten Büromöbeln lagen sie, stockend, fast sparsam schießend.

In den meisten Räumen hatten schon einige Fensterscheiben Bekanntschaft mit den Maschinengewehren der Heimwehr gemacht. Flüchtig besah ich mir den Schaden und stellte mit jenem Fensterglas Vergleiche an, das unter dem Eindruck meiner diamantenen Stimme in ruhig, tief atmenden Friedenszeiten zusammengebrochen' war. Nun, wenn man von mir einen Beitrag zur Verteidigung der Polnischen Post forderte, wenn etwa jener kleine, drahtige Doktor Michon nicht als postalischer, sondern als militärischer Direktor der Post an mich heranträte, um mich vereidigend in Polens Dienste zu nehmen, an meiner Stimme sollte es nicht fehlen: für Polen und Polens wildblühende und dennoch immer wieder Früchte tragende Wirtschaft hätte ich gerne die Scheiben aller gegenüberliegenden Häuser am Heveliusplatz, die Verglasung der Häuser am Rahm, die gläserne Flucht an der Schneidermühlengasse, inklusive Polizeirevier, und fernwirkender als je zuvor, die schöngeputzten Fensterscheiben des Altstädtischen Grabens und der Rittergasse binnen Minuten zu schwarzen, Zugluft fördernden Löchern gemacht. Das hätte Verwirrung unter den Leuten der Heimwehr, auch unter den zuguckenden Bürgern gestiftet, Das hätte den Effekt mehrerer schwerer Maschinengewehre ersetzt, das hätte schon zu Anfang des Krieges an Wunderwaffen glauben lassen, das hätte dennoch nicht die Polnische Post gerettet.

Oskar kam nicht zum Einsatz. Jener Doktor Michon mit dem polnischen Stahlhelm auf dem Direktorenkopf vereidigte mich nicht, sondern gab mir, als ich die Treppe zur Schalterhalle hinunterhastete, ihm zwischen die Beine lief, eine schmerzhafte Ohrfeige, um gleich nach dem Schlag, laut und polnisch fluchend, abermals seinen Verteidigungsgeschäften nachzugehen. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Schlag hinzunehmen. Die Leute, mithin auch der Doktor Michon, der schließlich die Verantwortung trug, waren aufgeregt, fürchteten sich und konnten als entschuldigt gelten.

Die Uhr in der Schalterhalle sagte mir, daß es zwanzig nach vier war. Als es einundzwanzig nach vier war, konnte ich annehmen, daß die ersten Kampfhandlungen dem Uhrwerk keinen Schaden zugefügt hatten. Sie ging, und ich wußte nicht, ob ich diese Gleichmut der Zeit als schlechtes oder gutes Zeichen werten sollte.

Jedenfalls blieb ich vorerst in der Schalterhalle, suchte Jan und Kobyella, ging dem Doktor Michon aus dem Wege, fand weder denOnkel noch den Hausmeister, stellte Schäden an der Verglasung der Halle fest, auch Sprünge und häßliche Lücken im Putz neben dem Hauptportal und durfte Zeuge sein, als man die ersten zwei Verwundeten herbeitrug. Der eine, ein älterer Herr mit immer noch sorgfältig gescheiteltem Grauhaar, sprach ständig und erregt, während man den Streifschuß an seinem rechten Oberarm verband. Kaum hatte man die leichte Wunde weiß eingewickelt, wollte er aufspringen, nach seinem Gewehr greifen und sich abermals hinter die wohl doch nicht kugelsicheren Sandsäcke werfen.

Wie gut, daß ein leichter, durch starken Blutverlust verursachter Schwächeanfall ihn wieder zu Boden zwang und ihm jene Ruhe befahl, ohne die ein älterer Herr kurz nach einer Verwundung nicht zu Kräften kommt. Zudem gab ihm der kleine, nervige Fünfziger, der einen Stahlhelm trug, aber aus zivilem Brusttäschchen das Dreieck eines Kavaliertaschentuches hervorlugen ließ, dieser Herr mit den noblen Bewegungen eines beamteten Ritters, der Doktor war und Michon hieß, der Jan Bronski am Vorabend streng ins Verhör genommen hatte, gab dem älteren blessierten Herrn den Befehl, im Namen Polens Ruhe zu bewahren.

Der zweite Verwundete lag schwer atmend auf einem Strohsack und zeigte kein Verlangen mehr nach den Sandsäcken. In regelmäßigen Abständen schrie er laut und ohne Scham, weil er einen Bauchschuß hatte.

Gerade wollte Oskar noch einmal die Reihe der Männer hinter den Sandsäcken inspizieren, um endlich auf seine Leute zu treffen, da ließen zwei fast gleichzeitige Granateinschläge über und neben dem Hauptportal die Schalterhalle klirren. Die Schränke, die man vor das Portal gerückt hatte, sprangen auf und gaben Stöße gehefteter Akten frei, die dann auch richtig aufflatterten, den ordentlichen Halt verloren, um auf den Fliesen landend und gleitend Zettel zu berühren und zu decken, die sie im Sinne einer sachgemäßen Buchhaltung nie hätten kennenlernen dürfen. Unnütz zu sagen, daß restliches Fensterglas splitterte, daß größere und kleinere Felder Putz von den Wänden und von der Decke fielen.

Man schleppte einen weiteren Verwundeten durch Gips-und Kalkwolken in die Mitte des Raumes, dann jedoch, auf Befehl des Stahlhelmes Doktor Michon, die Treppe hinauf ins erste Stockwerk.

Oskar folgte den Männern mit dem von Stufe zu Stufe aufstöhnenden Postbeamten, ohne daß ihn jemand zurückrief, zur Rede stellte oder gar, wie es kurz zuvor der Michon für nötig befunden hatte, mit grober Männerhand ohrfeigte. Allerdings gab er sich auch Mühe, keinem der Erwachsenen zwischen die Postverteidigerbeine zu laufen.

Als ich hinter den langsam die Treppe bewältigenden Männern das erste Stockwerk erreichte, bestätigte sich meine Ahnung: man brachte den Verwundeten in jenen fensterlosen und deshalb sicheren Lagerraum für Briefsendungen, den ich eigentlich für mich reserviert hatte. Auch glaubte man, da es an Matratzen mangelte, in den Briefkörben zwar zu kurze, aber immerhin weiche Unterlagen für die Blessierten zu finden. Schon bereute ich, meine Trommel in einem dieser rollbaren Wäschekörbe voller unbestellbarer Post eingemietet zu haben. Würde das Blut dieser aufgerissenen, durchlöcherten Briefträger und Schalterbeamten nicht durch die zehn oder zwanzig Papierlagen hindurchsickern und meinem Blech eine Farbe geben, die es bisher nur als Lackanstrich gekannt hatte?

Was hatte meine Trommel mit dem Blute Polens gemeinsam! Mochten sie ihre Akten und Löschblätter mit dem Saft färben! Mochten sie doch das Blau aus ihren Tintenfässern stürzen und mit Rot nachfüllen! Mochten sie doch ihre Taschentücher, weißen gestärkten Hemden zur gutpolnischen Hälfte röten! Schließlich ging es um Polen und nicht um meine Trommel! Wenn es ihnen schon darauf ankam, daß Polen, wenn verloren, dann weißrot verlorengehe, mußte dann meine Trommel, verdächtig genug durch den frischen Anstrich, gleichfalls verlorengehen?

Langsam setzte sich in mir der Gedanke fest: es geht gar nicht um Polen, es geht um mein verbogenes Blech. Jan hatte mich in die Post gelockt, um den Beamten, denen Polen als Fanal nicht ausreichte, ein zündendes Feldzeichen zu bringen. Nachts, während ich in dem rollbaren Briefkorb schlief, doch weder rollte noch träumte, hatten es sich die wachenden Postbeamten wie eine Parole zugeflüstert: Eine sterbende Kindertrommel hat bei uns Zuflucht gesucht. Wir sind Polen, wir müssen sie schützen, zumal England und Frankreich einen Garantievertrag mit uns abgeschlossen haben.

Während mir derlei unnütz abstrakte Überlegungen vor der halboffenen Tür des Lagerraumes für Briefsendungen die Handlungsfreiheit beschränkten, wurde im Posthof erstmals Maschinengewehrfeuer laut. Wie von mir vorausgesagt, wagte die Heimwehr ihren ersten Angriff vom Polizeirevier aus, an der Schneidermühlengasse. Kurz darauf hob es uns allen die Füße: es war denen von der Heimwehr gelungen, die Tür zum Paketraum oberhalb der Verladerampe für die Postautos in die Luft zu sprengen. Gleich darauf waren sie im Paketraum, dann in der Paketannahme, die Tür zum Korridor, der zur Schalterhalle führte, stand schon offen.

Die Männer, die den Verwundeten hochgeschleppt und in jenem Briefkorb gebettet hatten, der meine Trommel barg, stürzten davon, andere folgten ihnen. Dem Lärm nach schloß ich, man kämpfe im Korridor des Parterre, dann in der Paketannahme. Die Heimwehr mußte sich zurückziehen.

Zögernd erst, doch dann bewußter, betrat Oskar den Lagerraum für die Briefe. Der Verwundete hatte ein gelbgraues Gesicht, zeigte die Zähne und arbeitete mit den Augäpfeln hinter geschlossenen Lidern.

Fädenziehendes Blut spuckte er. Da ihm der Kopf jedoch über den Rand des Briefkorbes hing, bestand wenig Gefahr, daß er die Postsendungen besudelte. Oskar mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um in den Korb langen zu können. Das Gesäß des Mannes wuchtete genau dort, wo seine Trommel begraben lag. Es gelang Oskar, erst vorsichtig, auf den Mann und die Briefe Rücksicht nehmend, dann kräftiger ziehend, schließlich reißend und fetzend mehrere Dutzend Umschläge unter dem Stöhnenden hervorzuklauben.

Heute möchte ich sagen, ich spürte schon den Rand meiner Trommel, da stürmten Männer die Treppe hoch, den Korridor entlang. Sie kamen zurück, hatten die Heimwehr aus dem Paketraum vertrieben, waren vorerst Sieger; ich hörte sie lachen.

Hinter einem der Briefkörbe versteckt, wartete ich nahe der Tür, bis die Männer bei dem Verwundeten waren. Zuerst laut redend und gestikulierend, dann leise fluchend, verbanden sie ihn.

In Höhe der Schalterhalle schlugen zwei Panzerabwehrgranaten ein — abermals zwei, dann Stille. Die Salven der Linienschiffe im Freihafen, der Westerplatte gegenüber, rollten fern, gutmütig brummend und gleichmäßig — man gewöhnte sich daran.

Ohne von den Männern bei dem Verwundeten bemerkt zu werden, verdrückte ich mich aus dem Lagerraum für Briefsendungen, ließ meine Trommel im Stich und machte mich abermals auf die Suche nach Jan, meinem mutmaßlichen Vater und Onkel, auch nach dem Hausmeister Kobyella.

In der zweiten Etage befand sich die Dienstwohnung des Oberpostsekretärs Naczalnik, der seine Familie rechtzeitig nach Bromberg oder Warschau geschickt haben mochte. Zuerst suchte ich einige Magazinräume zur Posthofseite ab und fand dann Jan und den Kobyella im Kinderzimmer der Naczalnikschen Dienstwohnung.

Ein freundlicher heller Raum mit lustiger, leider an einigen Stellen durch verirrte Gewehrkugeln verletzter Tapete. Hinter zwei Fenster hätte man sich in friedlichen Zeiten stellen können, hätte, den Heveliusplatz beobachtend, seinen Spaß gehabt. Ein noch unverletztes Schaukelpferd, diverse Bälle, eine Ritterburg voller umgestürzter Bleisoldaten zu Fuß und zu Pferde, ein aufgeklappter Pappkarton voller Eisenbahnschienen und Güterwagenminiaturen, mehrere mehr oder weniger mitgenommene Puppen, Puppenstuben, in denen Unordnung herrschte, kurz, ein Überangebot an Spielzeug verriet, daß der Oberpostsekretär Naczalnik Vater zweier reichlich verwöhnter Kinder, eines Jungen und eines Mädchens sein mußte. Wie gut, daß die Gören nach Warschau evakuiert worden waren, daß mir eine Begegnung mit ähnlichem Geschwisterpaar, wie ich es von den Bronskis her kannte, erspart blieb. Mit leichter Schadenfreude stellte ich mir vor, wie es dem Bengel des Oberpostsekretärs leid getan haben mochte, von seinem Kinderparadies voller Bleisoldaten Abschied nehmen zu müssen. Vielleicht hatte er sich einige Ulanen in die Hosentasche gesteckt, um späterhin, bei den Kämpfen um die Festung Modlin, die polnische Kavallerie verstärken zu können.

Oskar redet zuviel von Bleisoldaten und kann sich dennoch nicht an dem Geständnis vorbeidrücken: auf dem obersten Tablar eines Gestelles für Spielzeug, Bilderbücher und Gesellschaftsspiele reihten sich Musikinstrumente in kleinem Format. Eine honiggelbe Trompete stand tonlos neben einem, den Kampfhandlungen gehorchenden, das heißt, bei jedem Granateneinschlag bimmelnden Glockenspiel.

Rechts außen zog sich schief und buntbemalt eine Ziehharmonika in die Länge. Die Eltern waren überspannt genug gewesen, ihrem Nachwuchs eine richtige kleine Geige mit vier richtigen Geigensaiten zu schenken. Neben der Geige stand, ihr weißes unbeschädigtes Rund zeigend, durch einige Bauklötze blockiert, so am Davonrollen gehindert, eine — man mag es nicht glauben wollen — weißrot gelackte Blechtrommel.

Ich versuchte erst gar nicht, die Trommel mit eigener Kraft vom Gestell herunterzuziehen. Oskar war sich seiner beschränkten Reichweite bewußt und erlaubte sich in Fällen, da seine Gnomenhaftigkeit in Hilflosigkeit überschlug, Erwachsene um Gefälligkeiten anzugehen.

Jan Bronski und Kobyella lagen hinter Sandsäcken, die die unteren Drittel der bis zum Fußboden reichenden Fenster füllten. Jan gehörte das linke Fenster. Kobyella hatte rechts seinen Platz. Sofort begriff ich, daß der Hausmeister jetzt kaum die Zeit hätte, meine Trommel, die unter dem Blut spuckenden Verwundeten lag und sicherlich mehr und mehr zusammengedrückt wurde, hervorzuziehen und zu reparieren; denn der Kobyella war vollauf beschäftigt: in regelmäßigen Abständen schoß er mit seinem Gewehr durch eine im Sandsackwall ausgesparte Lücke über den Heveliusplatz in Richtung Ecke Schneidermühlengasse, wo kurz vor der Radaunebrücke ein Pak— Geschütz Stellung bezogen hatte.

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