Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (35 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Mühsam alleine und auch nicht ungefährlich, da es die schützenden Sandsäcke zum Teil weggefegt hatte, war es für ihn, die weit im Zimmer zerstreuten Skatkarten einzusammeln; denn er wollte alle zweiunddreißig haben, und als er die zweiunddreißigste nicht fand, war er unglücklich, und als Oskar sie fand, zwischen zwei wüsten Puppenstuben fand, und ihm reichte, lächelte er, obgleich es Pique Sieben war.

Als wir den Kobyella aus dem Kinderzimmer geschleppt und endlich auf dem Korridor hatten, fand der Hausmeister die Kraft für einige, Jan Bronski verständliche Worte. »Is noch alles dran?« besorgte sich der Invalide. Jan griff ihm in die Hose zwischen die Altmännerbeine, hatte den Griff voll und nickte dem Kobyella zu.

Wie waren wir alle glücklich: Kobyella hatte seinen Stolz behalten dürfen, Jan Bronski hatte alle zweiunddreißig Skatkarten inklusive Pique Sieben wiedergefunden, Oskar aber hatte eine neue Blechtrommel, die ihm bei jedem Schritt gegen das Knie schlug, während der durch den Blutverlust geschwächte Hausmeister von Jan und einem, den Jan Viktor nannte, eine Etage tiefer in den Lagerraum für Briefsendungen transportiert wurde.

DAS KARTENHAUS

Viktor Weluhn half uns beim Transport des trotz zunehmenden Blutverlustes immer schwerer werdenden Hausmeisters. Der stark kurzsichtige Viktor trug zu dem Zeitpunkt noch seine Brille und stolperte nicht auf den Steinstufen im Treppenhaus. Von Beruf war Viktor, was für einen Kurzsichtigen unglaublich klingen mag, Geldbriefträger. Heute nenne ich Viktor, sobald die Rede auf ihn kommt, den armen Viktor. Genau wie meine Mama durch einen Familienspaziergang zur Hafenmole zu meiner armen Mama wurde, wurde der Geldbriefträger Viktor durch den Verlust seiner"

Brille — es spielten auch andere Gründe mit — zum armen, brillenlosen Viktor.

»Hast du den armen Viktor wieder einmal gesehen?« frage ich meinen Freund Vittlar an den Besuchstagen. Doch seit jener Straßenbahnfahrt von Flingern nach Gerresheim — es wird davon noch berichtet werden — ist uns Viktor Weluhn verlorengegangen. Es bleibt nur zu hoffen, daß seine Häscher ihn gleichfalls vergeblich suchen, daß er seine Brille oder eine ihm angemessene Brille wiedergefunden hat und womöglich wie einst, wenn auch nicht mehr im Dienste der Polnischen Post, so doch als Geldbriefträger der Bundespost kurzsichtig, aber bebrillt die Leute mit bunten Scheinen und harten Münzen beglückt.

»Ist das nicht schrecklich«, keuchte Jan, der den Kobyella links gefaßt hatte.

»Und wie mag es ausgehen, wenn die Engländer und Franzosen nicht kommen?« besorgte sich der rechts mit dem Hausmeister beladene Viktor.

»Aber sie werden kommen! Rydz-Smigly hat noch gestern im Rundfunk gesagt: >Wir haben die Garantie: wenn es losgeht, steht ganz Frankreich wie ein Mann auf !<« Jan hatte Mühe, seine Sicherheit bis zum Ende des Satzes beizubehalten, denn der Anblick seines eigenen Blutes auf seinem zerkratzten Handrücken stellte zwar nicht den polnisch-französischen Garantievertrag in Frage, ließ aber die Befürchtung zu, Jan könnte verbluten, noch ehe ganz Frankreich wie ein Mann aufstehe und getreu der gegebenen Garantie den Westwall überrenne.

»Sicher sind sie schon unterwegs. Und die Flotte Englands durchpflügt schon die Ostsee!« Viktor Weluhn liebte starke, nachhallende Ausdrücke, verhielt auf der Treppe, rechts mit dem getroffenen Körper des Hausmeisters behängt, links eine Hand wie auf dem Theater hochwerfend, alle fünf Finger sprechen lassend: »Kommt nur, ihr stolzen Briten!«

Während die beiden langsam, und immer wieder die polnisch-französisch-englischen Beziehungen erwägend, den Kobyella dem Notlazarett zuführten, blätterte Oskar in Gedanken Gretchen Schefflers Bücher nach diesbezüglichen Stellen durch. Keysers Geschichte der Stadt Danzig: »Während des Deutsch-Französischen Krieges anno siebenzigeinundsiebenzig liefen am Nachmittag des einundzwanzigsten August achtzehnhundertsiebenzig vier französische Kriegsschiffe in die Danziger Bucht ein, kreuzten auf der Reede, richteten schon ihre Geschützrohre gegen Hafen und Stadt, da gelang es während der folgenden Nacht der Schraubenkorvette >Nymphe< unter der Führung des Korvettenkapitäns Weickhmann, den im Putziger Wiek ankernden Flottenverband zum Rückzug zu zwingen.«

Kurz bevor wir den Lagerraum für Briefsendungen in der ersten Etage erreichten, rang ich mich zu der später bestätigten Ansicht durch: die Home Fleet lag, während die Polnische Post und das ganze flache Polen bestürmt wurden, mehr oder weniger gut geschützt in irgendeinem Fjord des nördlichen Schottland; Frankreichs große Armee verweilte noch beim Mittagessen und glaubte mit einigen Spähtruppunternehmungen im Vorfeld der Maginotlinie, den polnisch-französischen Garantievertrag erfüllt zu haben.

Vor dem Lagerraum und Notlazarett fing uns Doktor Michon, der immer noch den Stahlhelm trug, auch das Kavaliertaschentüchlein aus der Brusttasche hervorlugen ließ, mit dem Beauftragten aus Warschau, einem gewissen Konrad ab. Sofort setzte in allen Spielarten, schwerste Blessuren vortäuschend, Jan Bronskis Angst ein. Während Viktor Weluhn, der ja unverletzt war und mit seiner Brille ausgerüstet einen brauchbaren Schützen abgeben mochte, hinunter in die Schalterhalle mußte, durften wir in den fensterlosen Raum, den notdürftig Talgkerzen erhellten, weil das Elektrizitätswerk der Stadt Danzig nicht mehr bereit war, die Polnische Post mit Strom zu versorgen.

Der Doktor Michon, der an Jans Verwundungen nicht recht glauben wollte, jedoch auf Jan als kampftüchtigen Verteidiger der Post keinen unbedingten Wert legte, gab seinem Postsekretär den Befehl, als quasi Sanitäter, den Verwundeten aufzupassen und auch auf mich, den er flüchtig, und wie ich zu spüren glaubte, verzweifelt streichelte, ein besorgtes Auge zu werfen, damit das Kind nicht in die Kampfhandlungen gerate.

Einschlag der Feldhaubitze in Höhe der Schalterhalle. Es würfelte uns. Der Stahlhelm Michon, Warschaus Abgesandter Konrad und der Geldbriefträger Weluhn stürzten ihren Gefechtsstellungen entgegen. Jan und ich, wir fanden uns mit sieben oder acht Verwundeten in einem abgeschlossenen, allen Kampflärm dämpfenden Raum. Nicht einmal die Kerzen flackerten besonders, wenn draußen die Haubitze Ernst machte. Still war es trotz der Stöhnenden oder wegen der Stöhnenden. Jan wickelte hastig und ungeschickt in Streifen gerissene Bettlaken um Kobyellas Oberschenkel, wollte sodann sich selbst pflegen; aber Wange und Handrücken des Onkels bluteten nicht mehr. Verkrustet schwiegen die Schnittwunden, mochten jedoch schmerzen und Jans Angst nähren, die in dem niedrig stickigen Raum keinen Auslauf hatte. Fahrig suchte er seine Taschen ab, fand das vollzählige Spiel: Skat! Bis zum Zusammenbruch der Verteidigung spielten wir Skat.

Zweiunddreißig Karten wurden gemischt, abgehoben, verteilt, ausgespielt. Da alle Briefkörbe schon mit Verwundeten belegt waren, setzten wir Kobyella gegen einen Korb, banden ihn endlich, da er von Zeit zu Zeit umsinken wollte, mit den Hosenträgern eines anderen Verwundeten fest, brachten ihm Haltung bei, verboten ihm, seine Karten fallen zu lassen, denn wir brauchten Kobyella. Was hätten wir tun können ohne den dritten fürs Skatspiel notwendigen Mann? Denen in den Briefkörben fiel es schwer, schwarz von rot zu unterscheiden, die wollten keinen Skat mehr spielen. Eigentlich wollte auch Kobyella keinen Skat mehr spielen. Hinlegen wollte er sich. Es drauf ankommen, den Karren laufenlassen wollte der Hausmeister. Mit einmal untätigen Hausmeisterhänden, die Augen wimpernlos schließend, wollte er den letzten Abbrucharbeiten zusehen. Wir aber duldeten diesen Fatalismus nicht, banden ihn fest, zwangen ihn, den dritten Mann abzugeben, während Oskar den zweiten Mann abgab — und niemand wunderte sich, daß der Dreikäsehoch Skat spielen konnte.

Ja, als ich zum erstenmal meine Stimme für die Sprache der Erwachsenen hergab und »Achtzehn!« sagte, blickte mich Jan, aus seinen Karten auftauchend, zwar kurz und unbegreiflich blau an, nickte bejahend, ich darauf: »Zwanzig?« Jan ohne Zögern: »Immer noch.« Ich: »Zwo? Und die drei?

Vierundzwanzig?« Jan bedauerte: »Passe.« Und Kobyella? Der wollte schon wieder trotz der Hosenträger zusammensacken. Aber wir rissen ihn hoch, warteten den Lärm eines draußen, entfernt von unserem Spielzimmer dargebotenen Granateneinschlages ab, bis Jan in die gleich darauf ausbrechende Stille zischen konnte: »Vierundzwanzig, Kobyella! Hörst du nicht, was der Junge gereizt hat?«

Ich weiß nicht, von woher, aus welchen Untiefen der Hausmeister auftauchte. Mit Schraubwinden schien er seine Augenlider heben zu müssen. Endlich irrte sein Blick wäßrig über die zehn Karten, die Jan ihm diskret und ohne jeden Schummelversuch zuvor in die Hand gedrückt hatte.

»Passe«/ sagte Kobyella. Das heißt, wir lasen es seinen Lippen ab, die fürs Sprechen wohl allzusehr ausgetrocknet waren.

Ich spielte einen Kreuz einfach. Um zu den ersten Stichen zu kommen, mußte Jan, der »Contra« gab, den Hausmeister anbrüllen, gutmütig derb in die Seite stoßen, damit er sich zusammennahm und das Bedienen nicht vergaß; denn ich zog den beiden erst mal alle Trümpfe ab, opferte Kreuz König, den Jan mit Pique Junge wegstach, kam aber, da ich Karo blank war, Jans Karo Aß wegstechend, wieder ans Spiel, holte ihm mit Herz Bube die Zehn raus — Kobyella warf Karo neun ab, und stand dann bombensicher mit meiner Herzflöte da: Miteinemspielzweicontradreischneiderviermalkreuzistacht-undvierzigoderzwölfpfennige! Erst als mir beim nächsten Spiel — ich riskierte einen mehr als riskanten Grand ohne Zwein — Kobyella, der beide Jungs gegen hatte, aber nur bis dreiunddreißig gehalten hatte, den Karo Jungen mit Kreuz Bube wegstach, kam etwas Zug ins Spiel. Der Hausmeister, durch seinen Stich wie gestochen, kam mit Karo Aß hinterher, ich mußte bedienen, Jan pfefferte die Zehn rein, Kobyella strich weg, zog den König, ich hätte stechen sollen, stach aber nicht, warf Kreuz Acht ab, Jan talgte, was er konnte, kam sogar ans Spiel mit Pique Zehn, da stach ich und verdammt, Kobyella mit Pique Bube drüber, den hatte ich vergessen oder dachte, den hätte Jan, aber Kobyella hatte, stach drüber und wieherte, natürlich jetzt Pique hinterher, ich mußte abwerfen, Jan talgte, was er konnte, dann endlich kamen sie mir mit Herzen, aber das half alles nix mehr: zwoundfünfzig hatte ich hin und her gezählt: ohnezwein-spieldreimalgrandistsechzigverlorenhundertzwanzigoderdreißigpfenni-ge. Jan pumpte mir zwei Gulden in Kleingeld, ich zahlte, aber der Kobyella war trotz des gewonnenen Spieles schon wieder zusammengesackt, ließ sich nicht auszahlen, und selbst die in jenem Augenblick erstmals im Treppenhaus einschlagende Pakgranate sagte dem Hausmeister gar nichts, obgleich es sein Treppenhaus war, das er seit Jahren zu putzen und wichsen nicht müde geworden war.

Jan jedoch kam wieder die Angst an, als es die Tür unserer Briefkammer rüttelte und die Flämmchen der Talgkerzen nicht wußten, wie ihnen geschah und in welche Richtung sie sich legen sollten. Selbst als im Treppenhaus wieder verhältnismäßige Ruhe herrschte und die nächste Pakgranate an der entlegenen Außenfassade detonierte, tat Jan Bronski wie verrückt beim Kartenmischen, vergab sich zweimal, aber ich sagte nichts mehr. Solange die schössen, war Jan für keinen Zuspruch empfänglich, überreizte sich, bediente falsch, vergaß sogar, den Skat zu drücken, und lauschte immer mit einem seiner kleinen wohldurchgebildeten, sinnlich fleischigen Ohren nach draußen, während wir ungeduldig warteten, daß er dem Spielverlauf nachkomme. Während Jan immer unkonzentrierter das Skatspiel unterstützte, war Kobyella, wenn er nicht gerade zusammensacken wollte und eins in die Seite brauchte, immer da. Der spielte gar nicht so schlecht, wie es um ihn zu stehen schien. Der sackte immer erst zusammen, wenn er sein Spielchen gewonnen oder contragebend Jan oder mir einen Grand verpatzt hatte. Das konnte ihn nicht mehr interessieren: gewonnen oder verloren. Der war nur fürs Spiel selbst. Und wenn wir zählten und nochmal zählten, dann hing er schief in den ausgeliehenen Hosenträgern und erlaubte nur seinem Adamsapfel, schreckhaft ruckend, Lebenszeichen des Hausmeisters Kobyella zu geben.

Auch Oskar strengte dieser Dreimännerskat an. Nicht etwa, daß jene mit der Belagerung und Verteidigung der Post verbundenen Geräusche und Erschütterungen meine Nerven übermäßig belastet hätten. Es war vielmehr dieses erstmalige, plötzliche, und wie ich mir. vornahm, zeitlich begrenzte Fallenlassen aller Verkleidung. Wenn ich mich bis zu jenem Tage nur dem Meister Bebra und seiner somnambulen Dame Roswitha ungeschminkt gegeben hatte, gab ich mich nun meinem Onkel und mutmaßlichen Vater, dazu einem invaliden Hausmeister, also Leuten gegenüber, die später in keinem Fall mehr als Zeugen in Frage kamen, dem Geburtsschein entsprechend als fünfzehnjähriger Halbwüchsiger, der zwar etwas waghalsig, aber nicht ungeschickt Skat spielte. Diese Anstrengungen, die zwar meinem Willen gemäß, meinen gnomenhaften Maßen jedoch alles andere als angemessen waren, zeitigten nach einer knappen Stunde Skatspiels heftigste Glieder-und Kopfschmerzen.

Oskar hatte Lust aufzugeben, hätte auch Gelegenheit genug gefunden, sich etwa zwischen zwei kurz nacheinander das Gebäude schüttelnden Granateinschlägen davonzumachen, wenn ihm nicht ein bisher unbekanntes Gefühl für Verantwortung befohlen hätte, auszuhalten und der Angst des mutmaßlichen Vaters mit dem einzig wirksamen Mittel, dem Skatspiel, zu begegnen.

Wir spielten also und verboten dem Kobyella das Sterben. Er kam nicht dazu. Sorgte ich doch, daß die Karten immer im Umlauf blieben. Und als die Talgkerzen infolge einer Detonation im Treppenhaus umfielen und die Flämmchen aufgaben, war ich es, der geistesgegenwärtig das Nächstliegende tat, der dem Jan das Streichholz aus der Tasche holte, dabei Jans Goldmundstückzigaretten mitzog, der das Licht wieder auf die Welt brachte, Jan eine beruhigende Regatta anzündete und Flämmchen auf Flämmchen in die Dunkelheit setzte, bevor sich Kobyella, die Dunkelheit nutzend, davonmachen konnte.

Zwei Kerzen klebte Oskar auf seine neue Trommel, legte sich die Zigaretten griffbereit, verschmähte jedoch für sich den Tabak, bot vielmehr Jan immer wieder eine an, hängte auch dem Kobyella eine in den verzogenen Mund, und es ging besser, das Spiel lebte auf, der Tabak tröstete, beruhigte, konnte aber nicht verhindern,daß Jan Bronski Spiel für Spiel verlor. Er schwitzte und kitzelte, wie immer, wenn er ganz bei der Sache war, seine Oberlippe mit der Zungenspitze. Dergestalt geriet er in Feuer, daß er mich im Eifer Alfred und Matzerath nannte, im Kobyella meine arme Mama zum Spielgenossen zu haben glaubte. Und als jemand auf dem Korridor schrie: »Den Konrad hat es erwischt!« blickte er mich vorwurfsvoll an und sagte: »Ich bitte dich, Alfred, stell doch das Radio ab.

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