Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (65 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Der Sozialdemokrat übergab sich heftig, anhaltend und schließlich Blut auswerfend. Dabei trug er seinem Anzug keine Sorge, und die Burschen verloren jedes Interesse an dem zwar beschmutzten, doch durch eine gründliche chemische Reinigung wieder zu rettenden Stoff. Auf Herren-Oberbekleidung verzichteten sie, zogen aber Frau Maria Matzerath eine hellblaue Kunstseidenbluse und dem jungen Mädchen, das nicht Luzie Rennwand, sondern Regina Raeck hieß, das Berchtesgadener Strickjäckchen aus. Dann schoben sie die Tür des Waggons zu, aber nicht ganz zu, und der Zug fuhr ab, während das Sterben des Sozialdemokraten begann.

Zwei, drei Kilometer vor Stolp wurde der Transport auf ein Abstellgleis geschoben und blieb dort während der Nacht, die sternenklar, aber für den Monat Juni kühl gewesen sein soll.

In jener Nacht starb — wie Herr Matzerath sagt — unanständig und laut Gott lästernd, die Arbeiterklasse zum Kampf aufrufend, mit letzten Worten — wie man es in Filmen zu hören bekommt — die Freiheit hochleben lassend, schließlich einem Brechanfall verfallend, der den Waggon mit Entsetzen füllte, jener Sozialdemokrat, der allzusehr an seinem einreihigen Anzug hing.

Kein Geschrei hinterher, sagt mein Patient. Es wurde und blieb still in dem Waggon. Nur Frau Maria klapperte mit den Zähnen, weil sie ohne Bluse fror und die letzte übriggebliebene Wäsche dem Sohn Kurt und dem Herrn Oskar draufgelegt hatte. Gegen Morgen nahmen zwei beherzte Nonnen die Gelegenheit der offengebliebenenWaggontür wahr, reinigten den Waggon und warfen durchnäßtes Stroh, den Kot der Kinder und Erwachsenen, auch den Auswurf des Sozialdemokraten auf den Bahndamm.

In Stolp wurde der Zug von polnischen Offizieren inspiziert. Gleichzeitig wurden warme Suppe und ein dem Malzkaffee ähnliches Getränk ausgeteilt. Die Leiche im Waggon des Herrn Matzerath beschlagnahmte man wegen Seuchengefahr> ließ sie von Sanitätern auf einem Gerüstbrett forttragen.

Nach Fürsprache der Nonnen erlaubte ein höherer Offizier noch den Angehörigen ein kurzes Gebet.

Auch durften dem toten Mann die Schuhe, Strümpfe und der Anzug ausgezogen werden. Mein Patient beobachtete während der Entkleidungsszene — später wurde die Leiche auf dem Brett mit leeren Zementsäcken zugedeckt — die Nichte des Entkleideten. Abermals erinnerte ihn das junge Mädchen, obgleich es Raeck hieß, heftig abstoßend und faszinierend zugleich, an jene Luzie Rennwand, die ich in Bindfaden nachbildete, als Knotengeburt, die Wurstbrotfresserin nenne. Jenes Mädchen im Waggon griff zwar nicht angesichts ihres ausgeplünderten Onkels zu einem wurstbelegten Brot und vertilgte das samt den Pellen, sie beteiligte sich vielmehr bei der Plünderei, erbte von des Onkels Anzug die Weste, zog die an Stelle ihrer entführten Strickjacke an und prüfte ihre neue, nicht einmal unkleidsame Aufmachung in einem Taschenspiegel, soll mit dem Spiegel — und hier begründet sich die heute noch nachwirkende Panik meines Patienten — ihn und seinen Liegeplatz eingefangen, gespiegelt und glatt, kühl mit Strichaugen aus einem Dreieck heraus beobachtet haben.

Die Fahrt von Stolp nach Stettin dauerte zwei Tage. Zwar gab es noch oft genug unfreiwilligen Aufenthalt und die langsam schon zur Gewohnheit werdenden Besuche jener mit Fallschirmjägermessern und Maschinenpistolen bewaffneten Halbwüchsigen, doch die Besuche wurden kürzer und kürzer, weil bei den Reisenden kaum noch etwas zu holen war.

Mein Patient behauptet, er habe während der Reise von Danzig-Gdansk nach Stettin, also innerhalb einer Woche, neun, wenn nicht zehn Zentimeter Körperlänge gewonnen. Vor allem sollen sich Ober-und Unterschenkel gestreckt, Brustkorb und Kopf jedoch kaum gedehnt haben. Dafür ließ sich, obgleich der Patient während der Reise auf dem Rücken lag, das Wachstum eines leicht nach links oben verlagerten Buckels nicht verhindern. Auch gibt Herr Matzerath zu, daß sich die Schmerzen hinter Stettin — inzwischen hatte deutsches Eisenbahnpersonal den Transport übernommen — steigerten und durch bloßes Blättern im Fotoalbum der Familie nicht in Vergessenheit zu bringen waren. Er hat mehrmals und anhaltend schreien müssen, bewirkte mit dem Geschrei zwar keine Schäden in irgendeiner Bahnhofsverglasung — Matzerath: meiner Stimme war jede glaszersingende Potenz abhanden gekommen — versammelte aber die vier Nonnen mit seinem Geschrei vor seinem Lager und ließ die aus dem Gebet nicht mehr herauskommen.

Die gute Hälfte der Mitreisenden, darunter die Angehörigen des verstorbenen Sozialdemokraten mit dem Fräulein Regina, verließen in Schwerin den Transport. Herr Matzerath bedauerte das sehr, da ihm der Anblick des jungen Mädchens so vertraut und notwendig geworden war, daß ihn nach ihrem Fortgang heftige, krampfartige Anfälle, von hohem Fieber begleitet, überfielen und schüttelten. Er soll, nach Aussagen von Frau Maria Matzerath, verzweifelt nach einer Luzie geschrien, sich selbst Fabeltier und Einhorn genannt und Angst vor dem Sturz, Lust zum Sturz von einem Zehnmetersprungbrett gezeigt haben.

In Lüneburg wurde Herr Oskar Matzerath in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort lernte er im Fieber einige Krankenschwestern kennen, wurde aber bald darauf in die Universitätsklinik Hannover überwiesen. Dort gelang es, sein Fieber zu drücken. Frau Maria und ihren Sohn Kurt sah Herr Matzerath nur selten und erst wieder dann täglich, als sie eine Stellung als Putzfrau in der Klinik fand.

Da es jedoch keinen Wohnraum für Frau Maria und den kleinen Kurt in der Klinik oder in der Nähe der Klinik gab, auch weil das Leben im Flüchtlingslager immer unerträglicher wurde — Frau Maria mußte tagtäglich drei Stunden in überfüllten Zügen, oft auf dem Trittbrett fahren; so weit lagen Klinik und Lager auseinander — willigten die Ärzte trotz starker Bedenken in eine Überweisung des Patienten nach Düsseldorf in die dortigen Städtischen Krankenanstalten ein, zumal Frau Maria eine Zuzugsgenehmigung vorweisen konnte: ihre Schwester Guste, die während des Krieges einen dort wohnhaften Oberkellner geheiratet hatte, stellte Frau Matzerath ein Zimmer ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung zur Verfügung, da der Oberkellner keinen Platz beanspruchte; er befand sich in russischer Gefangenschaft.

Die Wohnung lag günstig. Mit allen Straßenbahnen, die vom Bilker Bahnhof in Richtung Wersten und Benrath fuhren, konnte man bequem, ohne umsteigen zu müssen, die Städtischen Krankenanstalten erreichen.

Herr Matzerath lag dort vom August fünfundvierzig bis zum Mai sechsundvierzig. Seit über einer Stunde erzählt er mir von mehreren Krankenschwestern gleichzeitig. Die heißen: Schwester Monika, Schwester Helmtrud, Schwester Walburga, Schwester Ilse und Schwester Gertrud. Er erinnert sich an den ausgedehntesten Krankenhausklatsch, mißt dem Drum und Dran des Krankenschwesterlebens, der Berufskleidung eine übertriebene Bedeutung bei. Kein Wort fällt von der, wie ich mich erinnere, in jener Zeit miserablen Krankenhauskost, von schlechtgeheizten Krankenzimmern. Nur Krankenschwestern, Krankenschwesterngeschichten und langweiligstes Krankenschwesternmilieu. Da wurde geflüstert und vertraulich berichtet, da hieß es, daß Schwester Ilse zur Oberschwester gesagt haben soll,da hatte es die Oberschwester gewagt, die Unterkünfte der Lehrschwestern kurz nach der Mittagspause zu kontrollieren, da wurde auch etwas gestohlen, und eine Schwester aus Dortmund — ich glaube, er sagte Gertrud — zu Unrecht verdächtigt. Auch Geschichten mit jungen Ärzten, die von den Schwestern nur Zigarettenmarken haben wollten, erzählt er umständlich. Die Untersuchung einer Abtreibung wegen, die eine Laborantin, nicht eine Krankenschwester, an sich selbst oder mit Hilfe eines Assistenzarztes vorgenommen hatte, findet er erzählenswert. Ich verstehe meinen Patienten nicht, der seinen Geist an diese Banalitäten verschwendet.

Herr Matzerath bittet mich nun, ihn zu beschreiben. Froh komme ich diesem Wunsch nach und überspringe einen Teil jener Geschichten, die er, weil sie von Krankenschwestern handeln, breit ausmalt und mit gewichtigen Worten behängt.

Mein Patient mißt einen Meter und einundzwanzig Zentimeter. Er trägt seinen Kopf, der selbst für normal gewachsene Personen zu groß wäre, zwischen den Schultern auf nahezu verkümmertem Hals.

Brustkorb und der als Buckel zu bezeichnende Rücken treten hervor. Er blickt aus starkleuchtenden, klug beweglichen, manchmal schwärmerisch geweiteten blauen Augen. Dicht wächst sein leicht gewelltes dunkelbraunes Haar. Gerne zeigt er seine im Verhältnis zum übrigen Körper kräftigen Arme mit den — wie er selbst sagt — schönen Händen. Besonders wenn Herr Oskar trommelt — was ihm die Anstaltsleitung drei bis allenfalls vier Stunden täglich erlaubt — wirken seine Finger wie selbständig und zu einem anderen, gelungeneren Körper gehörend. Herr Matzerath ist durch-Schallplatten sehr reich geworden und verdient heute noch an den Platten. Interessante Leute suchen ihn an den Besuchstagen auf. Noch bevor sein Prozeß lief, bevor er bei uns eingeliefert wurde, kannte ich seinen Namen, denn Herr Oskar Matzerath ist ein prominenter Künstler. Ich persönlich glaube an seine Unschuld und bin deshalb nicht sicher, ob er bei uns bleiben oder ob er noch einmal herauskommen und wieder wie früher erfolgreich auftreten wird. Jetzt soll ich ihn messen, obgleich ich das vor zwei Tagen getan habe. — Ohne die Nacherzählung meines Pflegers Bruno überprüfen zu wollen, greife ich, Oskar, wieder zur Feder.

Bruno hat mich soeben mit seinem Zollstock gemessen. Das Maß ließ er auf mir liegen und verließ, das Ergebnis laut verkündend, mein Zimmer. Sogar sein Knotengebilde, an dem er heimlich, während ich erzählte, arbeitete, hat er fallen lassen. Ich nehme an, er will Fräulein Doktor Hornstetter rufen.

Doch bevor die Ärztin kommt und mir bestätigt, was Bruno gemessen hat, spricht Oskar zu Ihnen: Während der drei Tage, da ich meinem Pfleger die Geschichte meines Wachstums erzählte, gewann ich — wenn das ein Gewinn ist? — reichliche zwei Zentimeter Körpergröße.

So mißt Oskar also von heute an einen Meter und dreiundzwanzig Zentimeter. Er wird nun berichten, wie es ihm nach dem Krieg erging, als man ihn, einen sprechenden, zögernd schreibenden, fließend lesenden, zwar verwachsenen, ansonsten ziemlich gesunden jungen Mann aus den Städtischen Krankenanstalten Düsseldorf entließ, damit ich ein — wie man bei Entlassungen aus Krankenanstalten immer annimmt — neues, nunmehr erwachsenes Leben beginnen konnte.

DRITTES BUCH
FEUERSTEINE UND GRABSTEINE

Verschlafenes, gutmütiges Fett: Guste Truczinski hatte sich als Guste Köster nicht ändern müssen, zumal sie den Köster nur während der vierzehntägigen Verlobungszeit, kurz vor seiner Einschiffung zur Eismeerfront und danach anläßlich des Fronturlaubes, da sie heirateten, zumeist in Luftschutzbetten auf sich wirken lassen konnte. Wenn auch keine Nachricht über Kösters Verbleib nach der Kapitulation der Kurlandarmee eintraf, antwortete Guste, nach ihrem Gatten befragt, sicher und mit dem Daumen in Richtung Küchentür weisend: »Na der is drieben in Jefangenschaft baim Ivan. Wenner wiedäkommt, wird hier alles anders.«

Die dem Köster vorbehaltenen Änderungen in der Bilker Wohnung waren auf Maria und schließlich auch auf Kurtchens Lebenswandel gemünzt. Als ich aus den Krankenanstalten entlassen wurde, mich bei den Krankenschwestern, gelegentliche Besuche versprechend, verabschiedet hatte und mich mit der Straßenbahn nach Bilk zu den Schwestern und meinem Sohn Kurt aufmachte, fand ich in der zweiten Etage des vom Dach bis zum dritten Stockwerk abgebrannten Mietshauses eine Schwarzhändlerzentrale, die Maria und mein Sohn, sechsjährig und mit den Fingern rechnend, leiteten.

Maria, treu und selbst im Schwarzhandel noch ihrem Matzerath ergeben, machte in Kunsthonig. -Aus unbeschrifteten Eimern füllte sie ab, klatschte die Kunst auf die Küchenwaage und nötigte mich — kaum war ich eingetreten und mit den engen Verhältnissen vertraut — zum Verpacken der Viertelpfundkleckse.

Kurtchen saß hinter einer Persilkiste wie hinter einem Ladentisch, sah seinen heimkehrenden, genesenen Vater zwar an, hatte aber die immer etwas winterlich grauen Augen auf etwas gerichtet, das durch mich hindurch erkennbar und betrachtenswert sein mußte. Ein Papier hielt er vor sich, reihte darauf imaginäre Zahlenkolonnen, hatte nach knapp sechs Wochen Schulbesuch in überfüllten und schlecht geheizten Klassenräumen das Aussehen eines Grüblers und Strebers.

Guste Köster trank Kaffee. Bohnenkaffee, merkte Oskar auf, als sie mir eine Tasse zuschob. Während ich mich mit dem Kunsthonig abgab, betrachtete sie neugierig, nicht ohne Mitleid für ihre Schwester Maria, meinen Buckel. Es fiel ihr schwer, sitzen zu bleiben, nicht meinen Buckel streicheln zu dürfen; denn allen Frauen bedeutet Buckelstreicheln Glück, Glück in Gustes Fall: die Heimkehr des alles ändernden Köster. Sie hielt sich zurück, streichelte ersatzweise, doch ohne Glück, die Kaffeetasse und ließ jene Seufzer laut werden, die ich während der folgenden Monate täglich hören sollte: »Na darauf kennt ihr Jift nehmen, wenn da Köster heimjekehrt is, wird hier alles anders, und zwar:

hastenichjesehn!«

Guste verurteilte den Schwarzhandel, trank aber gerne von jenem dem Kunsthonig abgewonnenen Bohnenkaffee. Wenn Kundschaft kam, verließ sie das Wohnzimmer, schlorrte in die Küche und klapperte dort laut und protestierend.

Es kam viel Kundschaft. Gleich nach neun Uhr, nach dem Frühstück begann das Klingeln: kurz — lang — kurz. Am späten Abend, gegen zehn Uhr, stellte Guste, oft gegen Kurtchens Protest, der wegen der Schule nur die halbe Geschäftszeit wahrnehmen konnte, die Klingel ab.

Die Leute sagten: »Kunsthonig?«

Maria nickte sanft und fragte: »Ain Viertelchen oder ain Halbes?« Es gab aber auch Leute, die keinen Kunsthonig wollten. Die sagten dann: »Feuersteine?« Woraufhin Kurtchen, der wechselnd am Vormittag oder Nachmittag Schule hatte, aus seinen Zahlenkolonnen auftauchte, untern Pullover nach dem Stoffsäckchen tastete und mit hell herausfordernder Knabenstimme Zahlen in die Wohnzimmerluft stieß: »Drei oder vier gefälligst? Sie nehmen am besten fünf. Die gehen bald rauf auf mindestens vierundzwanzig. Letzte Woche galt achtzehn, heute früh mußte ich zwanzig sagen, und wenn Sie vor zwei Stunden gekommen wären, als ich gerade aus der Schule kam, hätte ich noch einundzwanzig sagen können.«

Kurtchen war vier Straßen lang und sechs Straßen breit der einzige Händler für Feuersteine. Er hatte eine Quelle, verriet die Quelle aber nie, sagte jedoch immer wieder, selbst vorm Schlafengehen an Stelle eines Nachtgebetes: »Ich habe eine Quelle!«

Als Vater wollte ich für mich das Recht beanspruchen können, um die Quelle meines Sohnes wissen zu dürfen. Wenn er also, nicht einmal geheimnisvoll, eher selbstbewußt verkündete: »Ich habe eine Quelle!« folgte sogleich meine Frage: »Wo hast du die Steine her? Sofort sagst du, wo du die Steine her hast.«

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