Sie erbat sich Bedenkzeit. Meine Yorickfrage wurde wochenlang überhaupt nicht oder nur ausweichend, endlich jedoch durch die Währungsreform beantwortet.
Maria nannte mir einen Haufen Gründe, streichelte mir dabei den Ärmel, nannte mich »lieber Oskar«, sagte auch, ich sei zu gut für diese Welt, bat um Verständnis und um meine weiterhin ungetrübte Freundschaft, wünschte mir alles erdenklich Gute für meine Zukunft als Steinmetz und überhaupt, weigerte sich aber, nochmals und dringlich befragt, eine Ehe mit mir einzugehen.
So wurde aus Yorick kein Bürger, sondern ein Hamlet, ein Narr.
MADONNA 49
Die Währungsreform kam zu früh, machte aus mir einen Narren, zwang mich, Oskars Währung gleichfalls zu reformieren; ich sah mich fortan gezwungen, aus meinem Buckel wenn auch kein Kapital, so doch meinen Lebensunterhalt zu schlagen.
Dabei hätte ich einen guten Bürger abgegeben. Die Zeit nach der Währungsreform, die — wie wir heute sehen — alle Voraussetzungen fürs momentan in Blüte stehende Biedermeier hatte, hätte auch Oskars biedermeierliche Züge fördern können. Als Ehemann, Biedermann hätte ich mich am Wiederaufbau beteiligt, hätte jetzt einen mittelgroßen Steinmetzbetrieb, gäbe dreißig Gesellen, Handlangern und Lehrlingen Lohn und Brot, wäre jener Mann, der alleneuerbauten Bürohochhäuser, Versicherungspaläste mit den beliebten Muschelkalk-und Travertinfassaden ansehnlich macht: Geschäftsmann, Biedermann, Ehemann — aber Maria gab mir einen Korb.
Da besann Oskar sich seines Buckels und fiel der Kunst anheim! Bevor Korneff, dessen vom Grabstein abhängende Existenz gleichfalls durch die Währungsreform in Frage gestellt wurde, kündigte, kündigte ich, stand auf der Straße, wenn ich nicht in Guste Kösters Wohnküche Daumen drehte, trug langsam meinen eleganten Maßanzug ab, verschlampte ein wenig, hatte zwar keinen Streit mit Maria, fürchtete aber Streit und verließ deshalb zumeist am frühen Vormittag schon die Wohnung in Bilk, besuchte zuerst die Schwäne am Graf-Adolf-Platz, dann die im Hofgarten und saß klein, versonnen, nicht etwa verbittert in den Parkanlagen, dem Arbeitsamt und der Kunstakademie, die in Düsseldorf Nachbarn sind, schräg gegenüber.
Man sitzt und sitzt auf solch einer Parkbank, bis man selbst hölzern und mitteilungsbedürftig wird.
Alte, vom Wetter abhängige Männer, hochbetagte Frauen, die langsam wieder zu schwatzhaften Mädchen werden, die jeweilige Jahreszeit, schwarze Schwäne, Kinder, die sich schreiend verfolgen, und Liebespaare, die man beobachten möchte, bis sie sich, wie man voraussehen konnte, trennen müssen. Manche lassen Papier fallen. Das flattert ein bißchen, wälzt sich und wird von einem Mann mit Mütze, den die Stadt bezahlt, auf spitzem Stock gespießt.
Oskar verstand es, zu sitzen und mit den Knien seine Hosenbeine gleichmäßig auszubeutein. Gewiß fielen mir die beiden mageren Jünglinge mit dem bebrillten Mädchen auf, bevor mich die Dicke, die einen Ledermantel mit ehemaligem Wehrmachtskoppel trug, ansprach. Die Idee, mich anzusprechen, kam wohl den Jünglingen, die sich schwarz und anarchistisch trugen. So gefährlich sie aussahen, genierten sie sich dennoch, mich, einen Buckligen, dem man eine versteckte Größe ansah, direkt und ohne Umschweif anzusprechen. Sie überredeten die Dicke im Leder. Die kam, stand auf Säulen breitbeinig, stotterte, bis ich sie aufforderte, Platz zu nehmen. Sie saß, hatte, weil es vom Rhein her dunstig, fast neblig war, beschlagene Brillengläser, sprach und sprach, bis ich sie aufforderte, erst einmal ihre Brille zu putzen, dann ihr Anliegen so zu formulieren, daß auch ich es verstünde. Da winkte sie die düsteren Jünglinge herbei, und die nannten sich sofort, ohne meine Aufforderung, Künstler, malende, zeichnende, bildende Künstler, die sich auf der Suche nach einem Modell befänden. Schließlich gaben sie mir nicht ohne Leidenschaft zu verstehen, daß sie in mir ein Modell zu sehen glaubten, rückten auch gleich, weil ich mit Daumen und Zeigefinger schnelle Bewegungen machte, mit den Verdienstmöglichkeiten eines Akademie-Modelles heraus: pro Stunde zahle die Kunstakademie eine Mark achtzig — für Akt — aber das komme wohl nicht in Frage, sagte die Dicke — sogar zwei Deutsche Mark.
Warum sagte Oskar ja? Lockte mich die Kunst? Lockte mich der Verdienst? Kunst und Verdienst lockten mich, erlaubten Oskar, ja zu sagen. So stand ich auf, ließ die Parkbank und die Möglichkeiten einer Parkbankexistenz für immer hinter mir, folgte dem stramm marschierenden Brillenmädchen und den beiden Jünglingen, die vornübergebeugt gingen, als trügen sie ihr Genie auf dem Rücken, an dem Arbeitsamt vorbei, in die Eiskellerbergstraße, ins teilweise zerstörte Gebäude der Kunstakademie.
Auch Professor Kuchen — schwarzer Bart, Kohleaugen, schwarzer kühner Schlapphut, schwarze Ränder unter den Fingernägeln - er erinnerte mich an das schwarze Büfett meiner Jugendjahre — sah in mir dasselbe vortreffliche Modell, das auch seine Schüler in mir, dem Mann auf der Parkbank, gesehen hatten.
Längere Zeit umschritt er mich, ließ seine Kohleaugen kreisen, schnaubte, daß schwarzer Staub seinen Nasenlöchern entfuhr, und sprach, mit schwarzen Fingernägeln einen unsichtbaren Feind erwürgend:
»Kunst ist Anklage, Ausdruck, Leidenschaft! Kunst, das ist schwarze Zeichenkohle, die sich auf weißem Papier zermürbt!«
Dieser zermürbenden Kunst gab ich das Modell ab. Professor Kuchen führte mich in das Atelier seiner Schüler, hob mich eigenhändig auf eine Drehscheibe, drehte die, nicht um mich schwindlig zu machen, sondern um Oskars Proportionen von allen Seiten zu verdeutlichen. Sechzehn Staffeleien rückten näher an Oskars Profil heran. Noch ein kurzer Vortrag des kohlenstaubschnaubenden Professors: Ausdruck verlangte er, hatte es überhaupt mit dem Wörtchen Ausdruck, sagte: verzweifelt nachtschwarzer Ausdruck, behauptete von mir, ich, Oskar, drücke das zerstörte Bild des Menschen anklagend, herausfordernd, zeitlos und dennoch den Wahnsinn unseres Jahrhunderts ausdrückend aus, donnerte noch über die Staffeleien hinweg: »Zeichnet ihn nicht, den Krüppel, schlachtet ihn, kreuzigt ihn, nagelt ihn mit Kohle aufs Papier!«
Das war wohl das Zeichen zum Anfang, denn sechzehnmal knirschte hinter den Staffeleien Kohle, schrie mürb werdend auf, zerrieb sich an meinem Ausdruck — gemeint war mein Buckel — machte den schwarz, schwärzte den an, verzeichnete ihn; denn alle Schüler des Professors Kuchen waren mit solch dicker Schwärze meinem Ausdruck hinterher, daß sie unweigerlich ins Übertreiben gerieten, die Ausmaße meines Buckels überschätzten; zu immer größeren Bögen mußten sie greifen und bekamen dennoch meinen Buckel nicht aufs Papier.
Da gab Professor Kuchen den sechzehn Zeichenkohlezermürbern den guten Rat, nicht mit dem Umriß meines allzu ausdruckstarken Buckels — der angeblich jedes Format sprengte — anzufangen, sondern im oberen Fünftel des Bogens, möglichst weit links zuerst meinen Kopf anzuschwärzen.Mein schönes Haar glänzt dunkelbraun. Die machten aus mir einen strähnigen Zigeuner. Keinem der sechzehn Kunstjünger fiel auf, daß Oskar blaue Augen hat. Als ich mir während einer Pause — denn jedes Modell darf nach einer Dreiviertelstunde Modellstehen ein Viertelstündchen pausieren — die oberen linken Fünftel der sechzehn Bögen anschaute, überraschte mich zwar vor jeder Staffelei das sozial Anklagende meines verhärmten Antlitzes, doch vermißte ich, leicht betroffen, die Leuchtkraft meiner Blauaugen: dort, wo es klar und gewinnend hätte strahlen sollen, rollten, verengten sich, zerbröckelten, stachen mich schwärzeste Kohlespuren.
Die künstlerische Freiheit in Betracht ziehend, sagte ich mir: Den Rasputin in dir haben die jungen Musensöhne und kunstverstrickten Mädchen zwar erkannt; ob sie wohl jemals jenen in dir schlummernden Goethe entdecken, erwecken und leicht, weniger mit Ausdruck, eher mit einem maßvollen Silberstift zu Papier bringen? Weder den sechzehn Schülern, so begabt sie sein mochten, noch dem Professor Kuchen, so unverwechselbar sein Kohlestrich genannt wurde, gelang es, ein gültiges Bildnis Oskars der Nachwelt zu bescheren. Allein, ich verdiente gut, wurde respektvoll behandelt, stand tagtäglich sechs Stunden auf der Drehscheibe, wurde bald mit dem Gesicht zum immer verstopften Waschbecken, dann mit der Nase gegen die grauen, himmelblauen, leicht bewölkten Atelierfenster, machmal auch gegen eine spanische Wand gedreht und spendete Ausdruck, der mir stündlich eine Mark und achtzig Pfennige einbrachte.
Nach einigen Wochen gelang es den Schülern, etliche nette Bildchen zu machen. Das heißt, sie hatten sich im Ausdruckanschwärzen etwas gemäßigt, übertrieben die Ausmaße meines Buckels nicht mehr ins Uferlose, brachten mich gelegentlich vom Scheitel bis zur Sohle, von den Jackenknöpfen über meinem Brustkorb bis zu jener Stelle meines Anzugstoffes aufs Papier, welche am weitesten ausladend meinen Buckel begrenzte. Auf vielen Zeichenbögen fand sich sogar Platz für einen Hintergrund. Die jungen Leute zeigten sich trotz der Währungsreform immer noch vom Krieg beeindruckt, bauten hinter mir Ruinen mit anklagend schwarzen Fensterlöchern auf, stellten mich als hoffnungslosen, unterernährten Flüchtling zwischen geborstene Baumstümpfe, inhaftierten mich sogar, wickelten mit fleißig schwarzer Kohle hinter mir einen übertrieben stachligen Stacheldrahtzaun ab, ließen mich von Wachtürmen beobachten, die gleichfalls im Hintergrund drohten; ein leeres Blechschüsselchen mußte ich halten, Kerkerfenster gaben hinter und über mir ihren graphischen Reiz her — man steckte Oskar in Sträflingskleidung — was alles des künstlerischen Ausdruckes wegen geschah.
Da mir das jedoch als schwarzhaariger Zigeuner-Oskar angeschwärzt wurde, da man mich nicht blauäugig, sondern mit Kohleaugen all dieses Elend schauen ließ, hielt ich, der ich wußte, daß man Stacheldraht nicht zeichnen kann, als Modell still, war aber dennoch froh, als mich die Bildhauer, die bekanntlich ohne zeitbezügliche Hintergründe auskommen müssen, zum Modell, zum Aktmodell machten.
Diesmal sprach mich kein Schüler, sondern der Meister persönlich an. Professor Maruhn war mit meinem Kohleprofessor, dem Meister Kuchen, befreundet. Als ich eines Tages im Privatatelier Kuchens, einem düsteren Raum voller gerahmter Zeichenkohlespuren, stillhielt, damit mich der Rauschebart mit seinem unverwechselbaren Strich aufs Papier bannte, besuchte ihn Professor Maruhn, ein stämmiger untersetzter Fünfziger, der, hätte nicht eine staubige Baskenmütze von seinem Künstlertum gezeugt, im weißen Modellierkittel einem Chirurgen nicht unähnlich gewesen wäre.
Maruhn, wie ich sofort merkte, ein Liebhaber klassischer Formen, blickte mich meiner Proportionen wegen feindselig an. Seinen Freund verhöhnte er: er, Kuchen, habe wohl nicht genug an seinen Zigeunermodellen, die er bislang angeschwärzt habe, denen er jenen in Künstlerkreisen gebräuchlichen Übernamen Zigeunerkuchen verdanken könne? Ob er sich nun auch an Mißgeburten versuchen wolle, ob er sich mit der Absicht trage, nach jener erfolgreichen und gut verkäuflichen Zigeunerperiode nun eine Zwergenperiode noch verkäuflicher, noch erfolgreicher anzuschwärzen?
Professor Kuchen verwandelte den Spott seines Freundes in wütende, nachtschwarze Kohlespuren: das war das schwärzeste Bild, daß er jemals von Oskar machte, eigentlich war es nur schwarz, bis auf ein wenig Helligkeit auf meinen Backenknochen, auf Nase, Stirn und auf meinen Händen, die Kuchen immer zu groß und mit Gichtknoten versehen ausdruckstark im Mittelgrund seiner Kohleorgien spreizte. Jedoch habe ich auf dieser Zeichnung, die später auf Ausstellungen zu Ansehen kam, blaue, das heißt, lichte, nicht düster strahlende Augen. Oskar führt das auf den Einfluß des Bildhauers Maruhn zurück, der ja kein expressiver Kohlewüterich, sondern Klassiker war, dem meine Augen in Goethescher Klarheit leuchteten. So wird es dann auch Oskars Blick gewesen sein, der den Bildhauer Maruhn, der eigentlich nur das Ebenmaß liebte, verführen konnte, in mir ein Bildhauermodell, sein Bildhauermodell, zu sehen.
Das Atelier Maruhns war staubig hell, fast leer und zeigte keine einzige fertige Arbeit. Überall standen jedoch Modelliergerüste für geplante Arbeiten, die so perfekt durchdacht waren, daß Draht, Eisen und die nackten gebogenen Bleirohre auch ohne den Modellierton zukünftige, formvollendete Harmonie ankündigten.
Ich stand dem Bildhauer fünf Stunden täglich als Aktmodell und bekam zwei Mark pro Stunde. Mit Kreide markierte er auf der Drehscheibe einen Punkt, zeigte an, wo fortan mein rechtes Bein als Standbein zu wurzeln hatte. Eine Senkrechte vom inneren Knöchel des Standbeines hochgezogen hatte genau meine Halsgrube zwischen den Schlüsselbeinen zu treffen. Das linke Bein war das Spielbein.Doch diese Bezeichnung täuscht. Wenn ich es auch leicht gewinkelt und lässig zur Seite zu stellen hatte, durfte ich es dennoch 'nicht verrücken oder spielerisch bewegen. Auch das Spielbein wurde mit einem Kreideumriß auf der Drehscheibe verwurzelt.
Während der Wochen, da ich dem Bildhauer Maruhn Modell stand, konnte er für meine Arme keine entsprechende und ähnlich den Beinen unverrückbare Pose finden. Da mußte ich den linken Arm hängen lassen, den rechten über den Kopf winkeln, da mußte ich beide Arme vor der Brust kreuzen, unterm Buckel verschränken, in die Seiten stemmen; es gab tausend Möglichkeiten, und der Bildhauer probierte alle an mir und dem Eisengerüst mit den biegsamen Bleirohrgliedern aus.
Als er sich schließlich nach einem Monat fleißiger Posensuche entschloß, mich entweder mit verschränkten Händen, die ich am Hinterkopf zu halten hatte, oder ganz ohne Arme, als Torso in Ton umzusetzen, hatte er sich beim Gerüstbau und Gerüstumbau derart erschöpft, daß er zwar nach dem Ton in der Tonkiste griff, auch einen Anlauf nahm, dann jedoch den dumpfen ungeformten Stoff wieder in die Kiste klatschen ließ, sich vors Gerüst hockte, mich und mein Gerüst anstarrte, mit den Fingern verzweifelt zitterte: das Gerüst war zu perfekt!
Seufzend resignierend, Kopfschmerzen vortäuschend, doch ohne Oskar zu grollen, gab er es auf, stellte das bucklige Gerüst samt Spiel-und Standbein, mit den erhobenen Bleirohrarmen, mit den Drahtfingern, die sich im eisernen Nacken verschränkten, in die Ecke zu all den anderen frühvollendeten Gerüsten; leise, nicht spöttisch, eher der eigenen Nutzlosigkeit bewußt, schwankten in meinem geräumigen Buckelgerüst die Holzknebel — auch Schmetterlinge genannt — die hätten die Tonlast tragen sollen.
Darauf tranken wir Tee und verplauderten noch ein rundes Stündchen, das mir der Bildhauer als Modellstunde bezahlte. Er sprach von früheren Zeiten, da er noch als junger Michelangelo den Ton zentnerweise und hemmungslos in Gerüste hing und Plastiken vollendete, die zumeist während des Krieges zerstört wurden. Ich erzählte ihm von Oskars Tätigkeit als Steinmetz und Schrifthauer. Wir fachsimpelten ein bißchen, bis er mich zu seinen Schülern brachte, damit die in mir das Bildhauermodell sahen und nach Oskar Gerüste bauten.