Ich, Oskar, verließ die Kammer der Schwester Dorothea, indem ich jener Vierzig-Watt-Glühbirne den Strom nahm, die mir während des ganzen Besuches zugesehen hatte.
Sicherheitshalber wartete Oskar, stieg betont langsam in seine Kleider, reinigte, äußerlich ruhig, seine Fingernägel und entschloß sich dann erst zum Handeln. Ich ging in die Küche, setzte auf dem größten Brenner des dreiflammigen Gasherdes einen Aluminiumtopf halbgefüllt mit Wasser auf, ließ die Flamme erst stark brennen, drehte, sobald das Wasser Dämpfe entwickelte, den Hahn bis zur kleinsten Einstellung, trat dann, meine Gedanken sorgsam hütend und möglichst in der Nähe der jeweiligen Handlungen belassend, mit zwei Schritten vor die Kammer der Schwester Dorothea, faßte den Brief, den die Zeidlersche halb unter die Milchglastür geschoben hatte, war schon wieder in der Küche und hielt die Rückseite des Kuverts so lange vorsichtig über den Wasserdampf, bis ich es, ohne Schaden anzurichten, öffnen konnte. Das Gas hatte Oskar selbstverständlich schon abgestellt, bevor er den Brief des Dr. E. Werner über den Topf zu halten gewagt hatte.
Ich las die Nachricht des Arztes nicht in der Küche, sondern auf meinem Bett liegend. Zuerst wollte ich enttäuscht sein, denn weder die Anrede noch die abschließende Floskel des Briefes verrieten etwas über das Verhältnis zwischen Arzt und Krankenschwester.
»Liebes Fräulein Dorothea!« hieß es — und: »Ihr ergebener Erich Werner.«
Auch fand sich beim Lesen des eigentlichen Schreibens kein einziges betont zärtliches Wort. Werner bedauerte, Schwester Dorothea am Vortage nicht gesprochen zu haben, obgleich er sie vor der Flügeltür zur Männer-Privat-Abteilung gesehen hatte. Aus für Dr. Werner unerklärlichen Gründen machte Schwester Dorothea jedoch kehrt, als sie den Arzt im Gespräch mit Schwester Beate — mit Dorotheas Freundin also — überrascht hatte. Nur bat Dr. Werner um eine Erklärung, denn das Gespräch, das er mit Schwester Beate führte, habe rein dienstlichen Charakter gehabt. Wie sie, Schwester Dorothea, wohl wisse, gebe er sich immer und nach wie vor Mühe, der etwas unbeherrschten Beate gegenüber Distanz zu bewahren. Daß das nicht leicht sei, müsse sie, Dorothea, die ja die Beate kenne, begreifen, weil Schwester Beate oftmals hemmungslos ihre Gefühle zeige, die er, Dr. Werner, freilich niemals erwidere. Der letzte Satz des Briefes besagte: »Glauben Sie mir bitte, daß Ihnen jederzeit die Möglichkeit geboten ist, mich sprechen zu können.« Trotz der Förmlichkeit, Kälte, ja Arroganz jener Zeilen fiel es mir am Ende nicht schwer, den Briefstil des Dr. E. Werner zu entlarven, den Brief als das zu nehmen, was er sein wollte, als einen glühenden Liebesbrief.
Mechanisch versorgte ich das Blatt im Kuvert, ließ dabei alle Vorsicht außer acht, befeuchtete die Gummierung, die der Werner womöglich mit seiner Zunge benetzt hatte, nun mit Oskars Zunge, begann dann zu lachen, schlug mir kurz darauf, aber immer noch lachend, mit der flachen Hand abwechselnd gegen Stirn und Hinterkopf, bis es mir mitten im Schlagen gelang, die rechte Hand von Oskars Stirn weg auf den Türdrücker meines Zimmers zu legen, die Tür zu öffnen, den Korridor zu gewinnen und den Brief des Dr. Werner halb unter jener Tür zu versorgen, die das mir wohlbekannte Gemach der Schwester Dorothea mit graugestrichenem Holz und Milchglasscheiben verschloß.
Noch hockte ich auf den Hacken, hatte einen, womöglich zwei Finger auf dem Brief, da hörte ich aus dem Zimmer am anderen Ende des Korridors die Stimme des Herrn Münzer. Jedes Wort seines langsam und wie zum Mitschreiben betonten Ausrufes verstand ich: »Ach, lieber Herr, würden Sie mir bitte etwas Wasser bringen!?«
Ich richtete mich auf, dachte, der Mensch wird krank sein, erkannte aber gleichzeitig, daß der Mensch hinter der Tür nicht krank war, daß Oskar sich nur diese Krankheit einredete, um den Grund zum Wasserbringen zu haben, denn ein bloßer, durch nichts motivierter Zuruf hätte mich niemals ins Zimmer eines wildfremden Menschen locken können.
Zuerst wollte ich ihm jenes noch laue Wasser im Aluminiumtopf bringen, das mir geholfen hatte, den Brief des Arztes zu öffnen. Dann jedoch schüttete ich das gebrauchte Wasser in den Spülstein, ließ frisches in den Topf springen und trug Topf und Wasser vor jene Tür, hinter der die nach mir und dem Wasser, vielleicht auch nur nach dem Wasser verlangende Stimme des Herrn Münzer wohnen mußte.
Oskar klopfte, trat ein und stieß sofort gegen den für Klepp so bezeichnenden Geruch. Wenn ich die Ausdünstung säuerlich nenne, verschweige ich ihre gleichfalls stark süße Substanz. Nichts hatte zum Beispiel die Luft um Klepp mit der Essigluft der Krankenschwesterkammer gemeinsam. Süßsauer zu sagen, wäre auch falsch. Jener Herr Münzer oder Klepp, wie ich ihn heute nenne, ein dicklich fauler, trotzdem nicht unbeweglicher, leicht schwitzender, abergläubischer, ungewaschener, dennoch nicht verkommener, stets am Sterben verhinderter Flötist und Jazzklarinettist hatte und hat den Geruch einer Leiche an sich, die nicht aufhören kann, Zigaretten zu rauchen, Pfefferminz zu lutschen und Knoblauchdünste auszuscheiden. So roch er schon damals, so riecht, atmet er auch heute und fällt, Lebenslust und Vergänglichkeit in der Witterung mitführend, an den Besuchstagen über mich her und zwingt Bruno, sogleich nach seinem umständlichen, Wiederkehr verheißenden Abgang, Fenster und Türen aufzureißen, Durchzug zu veranstalten.
Heute ist Oskar bettlägerig. Damals, in Zeidlers Wohnung, fand ich Klepp in den Überresten eines Bettes. Er faulte bei bester Laune, hielt sich in Reichweite einen altmodischen, recht barock anmutenden Spirituskocher, ein gutes Dutzend Spaghettipackungen, Dosen Olivenöl, Tomatenmark in Tuben, feuchtklumpiges Salz auf Zeitungspapier und einen Kasten Flaschenbier, das, wie sich herausstellen sollte, lauwarm war. In die leeren Bierflaschen urinierte er liegend, schloß dann, wie er ein Stündchen später vertraulich zu erzählen wußte, die zumeist ganz gefüllten, in ihrem Fassungsvermögen ihm angepaßten grünlichen Behältnisse, stellte sie abseits und streng gesondert von den noch wortwörtlichen Bierflaschen auf, damit bei eventuellem Bierdurst des Bettbewohners die Gefahr einer Verwechslung gebannt war. Obgleich er Wasser im Zimmer hatte — er hätte bei einigem Unternehmungsgeist ins Waschbecken urinieren können — war er zu faul oder, besser gesagt, zu sehr durch sich selbst am Aufstehen verhindert, als daß er sein mit soviel Mühe eingelegenes Bett hätte verlassen, in seinem Spaghettitopf frisches Wasser hätte holen können.
Da Klepp als Herr Münzer die Teigwaren fürsorglich immer in demselben Wasser kochte, also die schon mehrmals abgegossene, immer sämiger werdende Brühe wie seinen Augapfel hütete, gelang es ihm, gestützt auf den Vorrat leerer Bierflaschen, die waagerechte, dem Bett angepaßte Haltung oftmals mehr als vier Tage beizubehalten. Der Notstand trat ein, wenn die Spaghettibrühe zum versalzenen, klebenden Rest zusammengekocht war. Zwar hätte sich Klepp dann dem Hunger überlassen können; aber dazu fehlten ihm damals noch die ideologischen Voraussetzungen, auch schien seine Askese von vorneherein auf vier-bis fünftägige Perioden bemessen gewesen zu sein, sonst hätte Frau Zeidler, die ihm die Post brachte, oder ein größerer Spaghettitopf und ein dem Teigwarenvorrat angemessenes Wasserreservoir ihn noch unabhängiger von seiner Umwelt machen können.
Als Oskar das Postgeheimnis verletzte, lag Klepp seit fünf Tagen unabhängig zu Bett: mit dem Rest seines Spaghettiwassers hätte er Plakate an Litfaßsäulen kleben können. Da hörte er meinen unentschlossenen, der Schwester Dorothea und ihren Briefen gewidmeten Schritt auf dem Korridor.
Nachdem er erfahren hatte, daß Oskar auf gekünstelte, auffordernde Hustenanfälle nicht reagierte, bemühte er an jenem Tage, da ich Dr. Werners kühl leidenschaftlichen Liebesbrief las, seine Stimme:
»Ach lieber Herr, würden Sie mir bitte etwas Wasser bringen?«
Und ich nahm den Topf, goß das laue Wasser aus, drehte den Leitungshahn auf, ließ es rauschen, bis das Töpfchen halbvoll war, gab noch etwas dazu, noch einen Guß, und brachte ihm frisches Wasser, war der liebe Herr, den er in mir vermutete, stellte mich vor, nannte mich Matzerath, Steinmetz und Schrifthauer.
Er, gleichfalls höflich, hob seinen Oberkörper um einige Grad, nannte sich, Egon Münzer, Jazzmusiker, bat mich aber, ihn Klepp zu nennen, da schon sein Vater Münzer heiße. Ich verstand seinen Wunsch allzugut, nannte ich mich doch vorzugsweise Koljaiczek oder einfach Oskar, trug den Namen Matzerath nur aus Demut und konnte mich nur selten entschließen, Oskar Bronski zu heißen. Es fiel mir also nicht schwer, den liegenden dicken jungen Mann — auf dreißig schätzte ich ihn, er war aber jünger — schlicht und direkt Klepp zu nennen. Er hieß mich Oskar, weil ihm der Name Koljaiczek zuviel Mühe bereitete.
Wir überließen uns einem Gespräch, gaben uns anfangs jedoch Mühe, zwanglos zu bleiben. Plaudernd berührten wir leichteste Themen: ich wollte wissen, ob er unser Schicksal für unabänderlich halte. Er hielt es für unabänderlich. Ob er der Meinung sei, alle Menschen müßten sterben, wollte Oskar wissen. Auch den endlichen Tod aller Menschen hielt er für gewiß, war aber nicht sicher, ob alle Menschen geboren werden müssen, sprach von sich als von einer irrtümlichen Geburt, und Oskar fühlte sich ihm abermals verwandt. Auch glaubten wir beide an den Himmel — er jedoch ließ, als er Himmel sagte, ein leicht dreckiges Lachen hören, kratzte sich unter der Bettdecke: man durfte annehmen, daß der Herr Klepp schon bei Lebzeiten Unanständigkeiten plante, die er im Himmel auszuführen gedachte. Als wir auf die Politik zu sprechen kamen, wurde er fast leidenschaftlich, nannte mir über dreihundert deutsche Fürstenhäuser, denen er auf der Stelle Würde, Krone und Macht geben wollte; die Gegend um Hannover sprach er dem britischen Empire zu. Als ich ihn nach dem Schicksal der ehemals freien Stadt Danzig fragte, wußte er leider nicht, wo das lag, schlug aber unbekümmert einen Grafen aus dem Bergischen, der, wie er sagte, von Jan Weilern in ziemlich direkter Linie abstamme, als Fürst für das ihm leider unbekannte Städtchen vor. Schließlich — wir bemühten uns gerade, den Begriff Wahrheit zu definieren, machten auch dabei Fortschritte — da brachte ich durch einige geschickte Zwischenfragen in Erfahrung, daß der Herr Klepp schon seit drei Jahren dem Zeidler als Untermieter den Zins zahlte. Wir bedauerten, daß wir uns nicht schon früher kennenlernen durften. Ich gab dem Igel die Schuld, der mir nicht genug Angaben über den Betthüter gemacht hatte — wie es ihm ja auch nicht eingefallen war, mir mehr über die Krankenschwester anzuvertrauen als jenen dürftigen Hinweis: es wohnt hier eine Krankenschwester hinter der Milchglastür.
Oskar wollte den Herrn Münzer oder Klepp nicht sogleich mit seinen Sorgen belasten. Ich erbat also keine Auskunft über die Krankenschwester, sondern besorgte mich vorerst um ihn: »Apropos Gesundheit«, warf ich ein, »geht es Ihnen nicht gut?«
Klepp hob abermals seinen Oberkörper um einige Grad, ließ sich, als er einsehen mußte, daß es ihm nicht gelingen konnte, einen rechten Winkel zu bilden, wieder zurückfallen und unterrichtete mich dahin, daß er eigentlich im Bett liege, um herauszufinden, ob es ihm gut, mäßig oder schlecht gehe. Er hoffe in einigen Wochen erkannt zu haben, daß es ihm mäßig gehe.Dann ereignete sich, was ich befürchtet hatte und durch ein längeres und verzweigtes Gespräch verhindern zu können glaubte.
»Ach, lieber Herr, essen Sie bitte mit mir eine Portion Spaghetti.« So aßen wir in dem von mir mitgebrachten frischen Wasser abgekochte Spaghetti. Ich wagte nicht, mir den klebrigen Topf auszu-bitten, um ihn im Spülstein einer gründlichen Reinigung zu unterwerfen. Klepp kochte, nachdem er sich auf die Seite gedreht hatte, das Gericht wortlos mit schlafwandlerisch sicheren Bewegungen. Das Wasser goß er vorsichtig in eine größere Konservendose ab, langte dann, ohne die Haltung seines Oberkörpers bemerkenswert zu verändern, unter das Bett, zog einen öligen, mit Tomatenmarkresten überkrusteten Teller hervor, schien einen Augenblick lang unschlüssig, fischte abermals unter dem Bett, brachte zerknülltes Zeitungspapier ans Tageslicht, wischte damit in dem Teller herum, ließ das Papier wieder unter dem Bett verschwinden, hauchte die verschmierte Platte an, als wollte er noch ein letztes Stäubchen wegblasen, reichte mir dann mit fast nobler Geste den scheußlichsten aller Teller und bat Oskar, ungeniert zuzugreifen.
Ich wollte erst nach ihm, forderte ihn auf, anzufangen. Nachdem er mich mit üblem, an den Fingern klebendem Besteck versorgt hatte, häufte er mit Suppenlöffel und Gabel einen guten Teil der Spaghetti auf meinem Teller, drückte mit eleganten Bewegungen einen langen Wurm Tomatenmark, Ornamente zeichnend, auf das Geschlinge, gab reichlich Öl aus der Dose dazu, tat sich dasselbe in dem Kochtopf an, schüttete Pfeffer über beide Portionen, vermengte seinen Anteil und forderte mich mit Blicken auf, meine Mahlzeit ähnlich zuzubereiten. »Ach, lieber Herr, verzeihen Sie, daß ich keinen geriebenen Parmesan im Hause habe. Dennoch wünsche ich einen guten und gesegneten Appetit.«
Bis heute hat Oskar nicht verstehen können, wie er sich damals zum Gebrauch von Löffel und Gabel hat aufraffen können. Wunderbarerweise schmeckte mir das Gericht. Es wurden mir sogar jene Kleppschen Spaghetti zu einem kulinarischen Wertmesser, den ich von jenem Tage an jedem Menü anlegte, das mir vorgesetzt wurde.
Während des Essens fand ich Muße, das Zimmer des Betthüters eingehend und doch unauffällig zu begutachten. Die Attraktion des Raumes war ein offenes, kreisrundes Kaminloch dicht unter der Decke; schwarz atmete es aus der Wand. Draußen vor den beiden Fenstern war es windig. Jedenfalls schienen es Windstöße zu sein, die gelegentlich Rußwolken aus dem Kaminloch in Klepps Zimmer blähten. Die legten sich gleichmäßig, Begräbnis zelebrierend, aufs Inventar. Da alles Inventar nur aus dem in der Mitte des Zimmers stehenden Bett und einigen, mit Packpapier bedeckten, gerollten Teppichen Zeidlerscher Herkunft bestand, konnte man mit Sicherheit behaupten: in jenem Zimmer war nichts geschwärzter als das ehemals weiße Bettuch, das Kopfkissen unter Klepps Schädel und ein Handtuch, das sich der Betthüter immer übers Gesicht breitete, wenn ein Windstoß eine Rußwolke ins Zimmer befahl.
Die beiden Fenster des Raumes sahen gleich den Fenstern des Zeidlerschen Wohn-und Schlafzimmers auf die Jülicher Straße oder, genauer gesagt, ins grüne graue Blätterkleid jenes Kastanienbaumes, der der Fassade des Mietshauses vorstand. Als einziger Bildschmuck hing zwischen den Fenstern, mit Reißzwecken befestigt, das bunte, wahrscheinlich einer Illustrierten entstammende Bild der Elisabeth von England. Unter dem Bild hing an einem Mauerhaken ein Dudelsack, dessen Schottenstoffmuster gerade noch unter dem abgelagerten Ruß erkennbar war. Während ich das Farbfoto betrachtete, dabei weniger an Elisabeth und ihren Philipp, doch um so mehr an Schwester Dorothea dachte, die zwischen Oskar und dem Dr. Werner stand und womöglich verzweifelte, erklärte mir Klepp, daß er ein treuer und begeisterter Anhänger des englischen Königshauses sei, deshalb auch bei den Pipers eines schottischen Regimentes der britischen Besatzungsarmee Unterricht im Dudelsackblasen genommen habe, zumal die Elisabeth jenes Regiment als Kommandeur befehlige; er, Klepp, habe sie in der Wochenschau mit Schottenröckchen, von oben bis unten kariert, das Regiment besichtigen gesehen.