Die Blechtrommel (20 page)

Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

BOOK: Die Blechtrommel
3.53Mb size Format: txt, pdf, ePub

Am achtzehnten Januar siebenunddreißig, auf knirschendem hartgetretenem Schnee, in einer Nacht, die nach mehr Schnee roch, nach soviel Schnee roch, wie sich jemand nur wünschen kann, der alles dem Schnee überlassen möchte, sah ich Jan Bronski rechts oberhalb meines Standortes die Straße überqueren, am Juwelierladen, ohne aufzublicken, vorbeigehen, dann zaudern oder eher wie auf Anruf still stehn; er drehte sich, oder drehte es ihn — und da stand Jan vor dem Schaufenster zwischen weißbeladenen, leisen Ahornbäumen.

Der zierliche, immer etwas wehleidige, im Beruf untertänige, in der Liebe ehrgeizige, der gleichviel dumme und schönheitsversessene Jan Bronski, Jan, der vom Fleisch meiner Mama lebte, der mich, wie ich heute noch glaube und bezweifle, in Matzeraths Namen zeugte, er stand in seinem eleganten, wie vom Warschauer Schneider angefertigten Wintermantel, wurde zum Denkmal seiner selbst, so versteinert, versinnbildlicht wollte er mir vor der Scheibe stehen, den Blick gleich Parzival, der im Schnee stand und Blut im Schnee sah, auf die Rubine des goldenen Colliers geheftet.

Ich hätte ihn zurückrufen können, zurücktrommeln können. Ich hatte ja meine Trommel bei mir. Unter dem Mantel spürte ich sie. Einen Knopf hätte ich nur lösen müssen, und sie hätte sich selbst in den Frost hinausgeschwungen. Ein Griff in die Manteltaschen, und ich hätte die Stöcke im Griff gehabt.

Hubertus der Jäger schoß auch nicht, als er den ganz besonderen Hirsch schon im Schußfeld hatte. Aus Saulus wurde ein Paulus. Attila kehrte um, als Papst Leo den Finger mit dem Ring hob. Ich aber schoß, wandelte mich nicht, kehrte nicht um, blieb Jäger, Oskar, und wollte ans Ziel, knöpfte mich nicht auf, ließ die Trommel nicht in den Frost hinaus, kreuzte nicht meine Knüppel auf dem winterlich weißen Blech, ließ die Januarnacht nicht zu einer Trommlernacht werden, sondern schrie lautlos, schrie wie vielleicht ein Stern schreit, oder ein Fisch ganz zu unterst, schrie zuerst dem Frost ins Gefüge, daß endlich Neuschnee fallen konnte, schrie dann ins Glas, in das dichte Glas, in das teure Glas, in das billige Glas, in das durchsichtige Glas, in das trennende Glas, in das Glas zwischen Welten, ins jungfräuliche, mystische, ins Schaufensterglas zwischen Jan Bronski und dem Rubinencollier schrie ich eine Lücke für Jans mir bekannte Handschuhgröße, ließ das Glas aufklappen gleich einer Falltür, gleich Himmelstor und Höllenpforte: und Jan zuckte nicht, ließ seine feinlederne Hand aus der Manteltasche wachsen und in den Himmel eingehen und der Handschuh verließ die Hölle, entnahm dem Himmel oder der Hölle ein Collier, dessen Rubinen allen Engeln, auch den gefallenen, zu Gesicht stünden — und er ließ den Griff voller Rubinen und Gold in die Tasche zurückkehren, und stand immer noch vorm aufgeschlossenen Fenster, obgleich das gefährlich war, obgleich keine Rubinen mehr bluteten, um seinen oder des Parzival Blick die unverrückbare Richtung aufzuzwingen.

Oh, Vater, Sohn und heiliger Geist! Es mußte im Geist etwas geschehen, wenn es um Jan, den Vater, nicht geschehen sein sollte. Es knöpfte sich Oskar, der Sohn, den Mantel auf, versorgte sich hastig mit Trommelstöcken und rief auf dem Blech: Vater, Vater! bis Jan Bronski sich drehte, langsam, viel zu langsam die Straße überquerte, mich, Oskar, im Hauseingang fand.

Wie schön, daß es im Augenblick, da Jan mich immer noch ausdruckslos, aber kurz vorm Tauwetter anblickte, zu schneien begann. Eine Hand, aber nicht den Handschuh, der die Rubine berührt hatte, reichte er mir und führte mich schweigsam, doch nicht bedrückt nach Hause, wo Mama um mich bangte und Matzerath, wie es seine Art war, betont streng, doch kaum ernstgemeint mit der Polizei drohte. Jan gab keine Erklärung ab, blieb nicht lange, wollte auch keinen Skat, zu dem Matzerath, Bier auf den Tisch stellend, aufforderte. Als er ging, streichelte er Oskar, und jener wußte nicht, verlangte er Verschwiegenheit oder Freundschaft.

Bald darauf schenkte Jan Bronski meiner Mama das Collier. Sie hat es nur für Stunden, während Matzerath abwesend war, sicherlich um die Herkunft des Schmuckes wissend, entweder für sich alleine oder für Jan Bronski, womöglich auch für mich, getragen.

Kurz nach dem Krieg habe ich es auf dem Schwarzen Markt in Düsseldorf gegen zwölf Stangen amerikanische Lucky-Strike-Zigaretten und eine lederne Aktentasche eingetauscht.

KEIN WUNDER

Heute, im Bett meiner Heil-und Pflegeanstalt, vermisse ich oftmals jene mir damals dringlich zur Verfügung stehende Kraft, die durch Frost und Nacht hindurch Eisblumen auftaute, Schaufenster aufschloß und den Dieb bei der Hand nahm.

Wie gerne möchte ich, zum Beispiel, das verglaste Guckloch im oberen Drittel der Zimmertür entglasen, damit mich Bruno, mein Pfleger, direkter beobachten kann.

Wie litt ich im Jahr vor meiner Einweisung in die Anstalt am Unvermögen meiner Stimme. Wenn ich auf nächtlicher Straße den Schrei erfolgheischend losschickte und dennoch keinen Erfolg hatte, konnte es passieren, daß ich, der ich die Gewalttätigkeit verabscheute, zu einem Stein griff und in einer armseligen Vorstadtstraße Düsseldorfs ein Küchenfenster zum Ziel nahm. Besonders Vittlar, dem Dekorateur, hätte ich allzu gerne etwas vorgemacht. Wenn ich ihn nach Mitternacht, zur oberen Hälfte durch einen Vorhang geschützt, unten an seinen grünroten Wollsocken hinter der Schaufensterscheibe eines Herrenmodengeschäftes auf der Königsallee oder einer Parfümerie in der Nähe der ehemaligen Tonhalle erkannte, hätte ich jenem, der zwar mein Jünger ist oder sein könnte, gerne das Glas zersungen, weil ich immer noch nicht weiß, ob ich ihn Judas oder Johannes nennen soll.

Vittlar ist adlig und nennt sich Gottfried mit Vornamen. Wenn ich nach meinem beschämend vergeblichen Singversuch durch leichtes Trommeln an der heilen Schaufensterscheibe den Dekorateur auf mich aufmerksam machte, wenn er für ein Viertelstündchen auf die Straße trat, mit mir plauderte und über seine Dekorationskünste spottete, mußte ich ihn Gottfried nennen, weil meine Stimme nicht jenes Wunder hergab, das mir erlaubt hätte, ihn Johannes oder Judas zu heißen.

Der Gesang vor dem Juwelierladen, der Jan Bronski zum Dieb, meine Mama zur Besitzerin eines Rubinencolliers machte, sollte vorläufig meine Singerei vor Schaufenstern mit begehrenswerten Auslagen beenden. Mama wurde fromm. Was machte sie fromm? Der Umgang mit Jan Bronski, das gestohlene Collier, die süße Mühsal eines ehebrecherischen Frauenlebens machten sie fromm und lüstern nach Sakramenten. Wie gut sich die Sünde einrichten läßt: am Donnerstag traf man sich in der Stadt, ließ den kleinen Oskar beim Markus, hatte es in der Tischlergasse auf zumeist befriedigende Art und Weise anstrengend, erfrischte sich hernach im Cafe Weitzke bei Mokka und Gebäck, holte das Söhnchen beim Juden ab, ließ sich von dem einige Komplimente und ein Päckchen fast geschenkte Nähseide mitgeben, fand seine Straßenbahnlinie Fünf, genoß lächelnd und ganz woanders mit den Gedanken die Fahrt am Olivaer Tor vorbei durch die Hindenburgallee, nahm kaum jene Maiwiese neben der Sporthalle wahr, auf der Matzerath seine Sonntagvormittage zubrachte, ließ sich die Kurve um die Sporthalle herum gefallen — wie häßlich der Kasten sein konnte, wenn man gerade was Schönes erlebt hatte — noch eine Kurve links und hinter verstaubten Bäumen das Conradinum mit seinen rot-bemützten Schülern — wie hübsch, wenn doch Oskarchen auch solch eine rote Mütze mit dem goldenen C zu Gesicht stünde; zwölf einhalb wäre er, säße in der Quarta, käme jetzt ans Latein heran und trüge sich als ein richtiger kleiner, fleißiger, auch etwas frecher und hochmütiger Conradiner.

Hinter der Eisenbahnunterführung in Richtung Reichskolonie und Helene-Lange-Schule verloren sich die Gedanken der Frau Agnes Matzerath ans Conradinum, an die verpaßten Möglichkeiten ihres Sohnes Oskar. Noch eine Kurve links, an der Christuskirche mit dem Zwiebelturm vorbei, und am Max-Halbe-Platz, vor Kaisers-Kaffee-Geschäft, stieg man aus, warf noch einen Blick in die Schaufenster der Konkurrenz und mühte sich durch den Labesweg wie durch einen Kreuzweg: die beginnende Unlust, das anomale Kind an der Hand, das schlechte Gewissen und das Verlangen nach Wiederholung; mit Nichtgenug und Überdruß, mit Abscheu und gutmütiger Zuneigung für den Matzerath mühte sich meine Mama mit mir, meiner neuen Trommel, dem Päckchen halbgeschenkter Nähseide durch den Labesweg zum Geschäft, zu den Haferflocken, zum Petroleum neben dem Heringsfäßchen, zu den Korinthen, Rosinen, Mandeln und Pfefferkuchengewürzen, zu Dr. Oetkers Backpulver, zu Persil bleibt Persil, zu Urbin, ich hab's, zu Maggi und Knorr, zu Kathreiner und Kaffee Hag, zu Vitello und Palmin, zu Essig-Kühne und Vierfruchtmarmelade, zu jenen beiden in verschiedenen Stimmlagen summenden Fliegenfängern führte mich Mama, die honigsüß über unserem Ladentisch hingen und im Sommer alle zwei Tage gewechselt werden mußten, während Mama jeden Sonnabend mit ähnlich übersüßer Seele, die sommers und winters, das ganze Jahr über hoch und niedrig summende Sünden anlockte, in die Herz-Jesu-Kirche ging und Hochwürden Wiehnke beichtete.

Wie mich Mama am Donnerstag in die Stadt mitnahm und mich sozusagen zum Mitschuldigen machte, nahm sie mich sonnabends mit durchs Portal auf die kühlen katholischen Fliesen, stopfte mir zuvor die Trommel unter den Pullover oder das Mäntelchen, denn ohne Trommel ging es nun einmal nicht bei mir, und ohne Blech vor dem Bauch hätte ich niemals, Stirn, Brust und Schultern berührend, das katholische Kreuz geschlagen, wie beim Schuhanziehen das Knie gebeugt und mich mit langsam trocknendem Weihwasser über der Nasenwurzel auf dem blanken Kirchenholz ruhig verhalten.

Ich erinnerte mich der Herz-Jesu-Kirche noch von der Taufe her: es hatte Schwierigkeiten des heidnischen Namens wegen gegeben, doch man bestand auf Oskar, und Jan, als Pate, sagte auch so im Kirchenportal. Dann blies mir Hochwürden Wiehnke dreimal ins Angesicht, das sollte den Satan in mir vertreiben, dann wurde das Kreuz geschlagen, die Hand aufgelegt, Salz gestreut und noch einmal etwas gegen Satan unternommen. In der Kirche abermals Halt vor der eigentlichen Taufkapelle. Ich verhielt mich ruhig, während mir das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser geboten wurden.

Danach fand es Hochwürden Wiehnke angebracht, noch einmal Weiche Satan zu sagen, und er glaubte mir, der ich doch schon immer Bescheid wußte, die Sinne zu öffnen, indem er Oskars Nase und Ohren berührte. Dann wollte er es noch einmal deutlich und laut hören, fragte: »Widersagst du dem Satan?

Und all seinen Werken? Und all seinem Gepränge?«

Bevor ich den Kopf schütteln konnte — denn ich dachte nicht daran, zu verzichten — sagte Jan dreimal, stellvertretend für mich: »Ich widersage.«

Ohne daß ich es mir mit Satan verdorben hatte, salbte Hochwürden Wiehnke mich auf der Brust und zwischen den Schultern. Vor dem Taufbrunnen abermals das Glaubensbekenntnis, dann endlich dreimal Wasser, Salbung mit Chrisam auf der Kopfhaut, ein weißes Kleid zum Fleckendraufmachen, die Kerze für dunkle Tage, die Entlassung — Matzerath zahlte — und als mich Jan vor das Portal der Herz-Jesu-Kirche trug, wo das Taxi bei heiterem bis wolkigem Wetter wartete, fragte ich Satan in mir:

»Alles gut überstanden?«

Satan hüpfte und flüsterte: »Hast du die Kirchenfenster gesehen, Oskar? Alles aus Glas, alles aus Glas!«

Die Herz-Jesu-Kirche wurde während der Gründerjahre erbaut und wies sich deshalb stilistisch als neugotisch aus. Da man schnelldunkelnden Backstein vermauert hatte und der mit Kupfer verkleidete Turmhelm flink zum traditionellen Grünspan gekommen war, blieben die Unterschiede zwischen altgotischen Backsteinkirchen und der neueren Backsteingotik nur für den Kenner sichtbar und peinlich. Gebeichtet wurde in alten und neueren Kirchen auf dieselbe Weise. Genau wie Hochwürden Wiehnke hielten hundert andere Hochwürden am Sonnabend nach Büro-und Geschäftsschluß das haarige Priesterohr im Beichtstuhl sitzend gegen ein blankes, schwärzliches Gitter, und die Gemeinde versuchte, durch die Drahtmaschen hindurch jene Sündenschnur dem Priesterohr einzufädeln, an welcher sich Perle um Perle sündhaft billiger Schmuck reihte.

Während Mama durch Hochwürden Wiehnkes Gehörkanal den höchsten Instanzen der alleinseligmachenden Kirche, dem Beichtspiegel folgend, mitteilte, was sie getan und unterlassen hatte, was da geschehen war in Gedanken, Worten und Werken, verließ ich, der ich nichts zu beichten hatte, das mir allzu geglättete Kirchenholz und stellte mich auf die Fliesen.

Ich gebe zu, daß die Fliesen in katholischen Kirchen, daß der Geruch einer katholischen Kirche, daß mich der ganze Katholizismus heute noch unerklärlicher Weise wie, nun, wie ein rothaariges Mädchen fesselt, obgleich ich rote Haare umfärben möchte und der Katholizismus mir Lästerungen eingibt, die immer wieder verraten, daß ich, wenn auch vergeblich, dennoch unabänderlich katholisch getauft bin.

Oft ertappe ich mich während banalster Vorgänge, etwa beim Zähneputzen, selbst beim Stuhlgang, Kommentare zur Messe reihend, wie: In der heiligen Messe wird die Blutvergießung Christi erneuert, damit es fließe zu deiner Reinigung, das ist der Kelch seines Blutes, wird der Wein wirklich und wahrhaftig, sooft das Blut Christi vergossen wird, das wahre Blut Christi ist vorhanden, durch die Anschauung des heiligen Blutes, die Seele wird mit dem Blut Christi besprengt, das kostbare Blut, mit dem Blute gewaschen, bei der Wandlung fließt das Blut, das blutbefleckte Korporale, die Stimme des Blutes Christi dringt durch alle Himmel, das Blut Christi verbreitet einen Wohlgeruch vor dem Angesichte Gottes.

Sie werden zugeben müssen, daß ich mir einen gewissen katholischen Tonfall bewahrt habe. Früher konnte ich nicht auf Straßenbahnen warten, ohne gleichzeitig der Jungfrau Maria zu gedenken. Ich nannte sie liebreiche, selige, gebenedeite, Jungfrau der Jungfrauen, Mutter der Barmherzigkeit, Du Seliggepriesene, Du, aller Verehrung Würdige, die Du geboren hast den, süße Mutter, jungfräuliche Mutter,glorreiche Jungfrau, laß mich verkosten die Süßigkeit des Namens Jesu, wie Du sie in Deinem mütterlichen Herzen verkostet hast, wahrhaft würdig und recht ist es, gebührend und heilsam, Königin, gebenedeite, gebenedeite...

Dieses Wörtchen »gebenedeit« hatte mich zeitweise, vor allen Dingen, als Mama und ich die Herz-Jesu-Kirche jeden Sonnabend besuchten, so versüßt und vergiftet, daß ich dem Satan dankte, weil er in mir die Taufe überstanden hatte und mir ein Gegengift lieferte, das mich zwar lästernd, aber doch aufrecht über die Fliesen der Herz-Jesu-Kirche schreiten ließ.

Jesus, nach dessen Herz die Kirche benannt war, zeigte sich, außer in den Sakramenten, mehrmals malerisch auf den bunten Bildchen des Kreuzganges, dreimal plastisch und dennoch farbig in verschiedenen Positionen.

Other books

The Countess by Claire Delacroix
The Expatriates by Janice Y. K. Lee
Sugar Rush by Donna Kauffman
Gabriel's Ghost by Megan Sybil Baker
Silverbridge by Joan Wolf