Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (47 page)

BOOK: Die Blechtrommel
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Zeitig hatte ich Mutter Truczinskis Wohnung verlassen, trat auf die Straße, als gerade Matzerath den Rolladen vor der Ladentür hochzog. Neben ihn stellte ich mich, als er die grüngestrichenen Latten hochklappern ließ, bekam zuerst eine Wolke Kolonialwarenladengeruch geboten, der sich während der Nacht im Inneren des Geschäftes angespeichert hatte, und nahm dann den Morgenkuß von Matzerath in Empfang. Noch bevor sich Maria sehen ließ, überquerte ich den Labesweg, warf gen Westen einen langen Schatten über das Kopfsteinpflaster; denn rechts, im Osten, über dem Max-Halbe-Platz, zog sich aus eigener Kraft die Sonne hoch und benutzte dabei denselben Trick, den auch der Baron Münchhausen angewandt haben muß, als er sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf lüpfte.

Wer den Gemüsehändler Greff gleich mir gekannt hätte, wäre gleichfalls erstaunt gewesen, Schaufenster und Tür seines Ladens um jene Zeit noch verhängt und verschlossen zu finden. Zwar hatten die letzten Jahre den Greff zu einem mehr und mehr absonderlichen Greff gemacht. Dennoch hatte er sich bisher pünktlich an die Geschäftszeit zu halten gewußt. Womöglich ist er krank, dachte Oskar und verwarf sogleich wieder den Gedanken. Denn wie konnte Greff, der noch im letzten Winter, zwar nicht mehr so regelmäßig wie in früheren Jahren, der Ostsee Löcher ins Eis gehackt hatte, um ein Vollbad zu nehmen, wie sollte dieser Naturmensch, trotz einiger Alterserscheinungen, von einem Tag auf den anderen erkranken können. Das Vorrecht des Betthütens übte fleißig genug die Greffsche aus; auch wußte ich, daß Greff weiche Betten verachtete, daß er vorzugsweise auf Feldbetten und harten Pritschen schlief. Es konnte gar keine Krankheit geben, die den Gemüsehändler ans Bett hätte fesseln können.

Ich stellte mich vor die verschlossene Gemüsehandlung, blickte zu unserem Geschäft zurück, bemerkte, daß sich Matzerath im Inneren des Ladens befand; dann erst wirbelte ich vorsichtig, auf das empfindliche Ohr der Greffschen hoffend, meiner Blechtrommel einige Takte ab. Es brauchte nur wenigen Lärm, und schon öffnete sich das zweite Fenster rechts neben der Ladentür. Die Greffsche im Nachthemd, den Kopf voller Lockenwickler, ein Kopfkissen vor der Brust haltend, zeigte sich über dem Kasten mit den Eisblumen. »Na komm doch rain, Oskarchen. Worauf warteste noch, wo's draußen so fresch is!«

Erklärend schlug ich mit einem Trommelstock gegen den Blechladen vor dem Schaufenster.

»Albrecht!« rief sie, »Albrecht, wo biste? Was is denn nu los?« Weiterhin ihren Gatten rufend, räumte sie das Fenster. Zimmertüren schlugen, im Laden hörte ich sie klappern, und gleich darauf begann sie mit ihrem Geschrei. Sie schrie im Keller, doch konnte ich nicht sehen, warum sie schrie, denn die Kellerluke, durch die an den Liefertagen, in den Kriegsjahren immer seltener, die Kartoffeln geschüttet wurden, war gleichfalls versperrt. Als ich ein Auge an die geteerten Bohlen vor der Luke preßte, sah ich, daß im Keller das elektrische Licht brannte. Auch das obere Stück der Kellertreppe, auf dem etwas Weißes lag, wahrscheinlich das Kopfkissen der Greffschen, konnte ich ausmachen.

Sie mußte das Kissen auf der Treppe verloren haben, denn im Keller war sie nicht mehr, sondern schrie schon wieder im Laden und gleich darauf im Schlafzimmer. Den Telefonhörer hob sie ab, schrie und wählte, schrie dann ins Telefon; aber Oskar verstand nicht, worum es ging, nur Unfall schnappte er auf, und die Adresse, Labesweg 24, wiederholte sie mehrmals und schreiend, hängte dann ein und füllte gleich darauf in ihrem Nachthemd, ohne Kissen, doch mit den Lockenwicklern, schreiend das Fenster, goß sich und ihren ganzen, mir wohlbekannten doppelten Vorrat in den Kasten auf die Eisblumen, schlug beide Hände in die fleischigen, blaßroten Gewächse und schrie oben, daß die Straße eng wurde, daß Oskar schon dachte, jetzt fängt auch die Greffsche mit dem Glaszersingen an; aber es sprang keine Scheibe. Aufgerissen wurden die Fenster, Nachbarschaft zeigte sich, Frauen riefen sich Fragen zu, Männer stürzten, der Uhrmacher Laubschad, erst halb mit den Armen in seinem Jackenärmel, der alte Heilandt, Herr Reißberg, der Schneider Libischewski, Herr Esch aus den zunächst liegenden Haustüren, selbst Probst, nicht der Friseur, der von der Kohlenhandlung, kam mit seinem Sohn. Im weißen Ladenkittel wehte Matzerath heran, während Maria mit Kurtchen auf dem Arm in der Tür des Kolonialwarengeschäftes stehen blieb.

Es fiel mir leicht, in der Versammlung aufgeregter Erwachsener unterzutauchen und Matzerath, der mich suchte, zu entgehen. Er und der Uhrmacher Laubschad, sie waren die ersten, die zur Tat schreiten wollten. Man versuchte, durch das Fenster in die Wohnung zu gelangen. Doch die Greffsche ließ niemand hoch, geschweige denn hinein. Während sie gleichzeitig kratzte, schlug und biß, fand sie dennoch Zeit, immer lauter, teilweise sogar verständlich zu schreien. Erst solle das Unfallkommando kommen, sie habe schon längst telefoniert, niemand brauche mehr zu telefonieren, sie wisse schon, was man zu tun habe, wenn so was passiere. Die sollen sich um ihren eigenen Laden kümmern. Das sei schon schlimm genug hier. Neugierde, nichts als Neugierde, da sehe man wieder mal, wo einem die Freunde bleiben, wenn des Unglück komme. Und mitten in ihrem Lamento mußte sie mich in der Versammlung vor ihrem Fenster entdeckt haben, denn sie rief mich und streckte mir, da sie die Männer inzwischen abgeschüttelt hatte, die bloßen Arme entgegen, und jemand — Oskar glaubt heute noch, daß es der Uhrmacher Laubschad war -der hob mich, wollte mich gegen Matzeraths Willen hineinreichen, und kurz vor dem Eisblumenkasten hätte Matzerath mich auch beinahe erwischt, doch da packte Lina Greff schon zu, drückte mich gegen ihr warmes Hemd und schrie jetzt nicht mehr, weinte nur noch hoch wimmernd, holte hoch wimmernd Luft.

Im gleichen Maße wie das Geschrei der Frau Greif die Nachbarschaft zum erregten und schamlosen Gestikulieren aufgepeitscht hatte, vermochte ihr dünnes, hohes Wimmern den Andrang unter den Eisblumen zu einer stummen, verlegen scharrenden Masse zu machen, die kaum noch wagte, dem Weinen ins Gesicht zu sehen, die all ihr Hoffen, all ihre Neugierde und Anteilnahme dem zu erwartenden Unfallwagen entgegenbrachte.

Auch Oskar war das Winseln der Greffschen nicht angenehm. Ich versuchte, etwas tiefer zu rutschen, um ihren leidvollen Tönen nicht gar so nah sein zu müssen. Es gelang mir auch, den Halt an ihrem Hals aufzugeben, mich halb auf den Blumenkasten zu setzen. Allzusehr fühlte Oskar sich beobachtet, weil Maria mit dem Jungen auf dem Arm in der Ladentür stand. So gab ich auch diesen Sitz auf, begriff die Peinlichkeit meiner Lage, dachte dabei aber nur an Maria — die Nachbarn waren mir gleichgültig — stieß mich ab von der Greffschen Küste, die mir allzusehr zitterte und das Bett bedeutete.

Lina Greff bemerkte meine Flucht nicht, oder sie fand keine Kraft mehr, jenen kleinen Körper aufzuhalten, der ihr die längste Zeit lang fleißig Ersatz geboten hatte. Vielleicht ahnte Lina auch, daß Oskar ihr für immer entglitt, daß mit ihrem Geschrei ein Geräusch zur Welt gekommen war, das einerseits zur Mauer und Geräuschkulisse zwischen der Bettlägerigen und dem Trommler wurde, andererseits eine bestehende Mauer zwischen Maria und mir zum Einsturz brachte.

Ich stand im Schlafzimmer der Greffs. Meine Trommel hing mir schief und unsicher an. Oskar kannte das Zimmer ja, hätte die saftgrüne Tapete der Länge und Breite nach auswendig hersagen können. Da stand auf dem Schemel noch die Waschschüssel mit der grauen Seifenlauge vom Vortage. Alles hatte seinen Platz, und dennoch wollten mir die abgegriffenen, abgesessenen, durchgelegenen und angestoßenen Möbel frisch oder zumindest aufgefrischt vorkommen, als hätte alles, was da steif auf vier Füßen oder Beinen an den Wänden stand, erst das Geschrei und danach das hohe Wimmern der Lina Greff nötig gehabt, um zu neuem, erschreckend kaltem Glanz zu kommen.

Die Tür zum Laden stand offen. Oskar wollte nicht, ließ sich aber dennoch in jenen nach trockener Erde und Zwiebeln riechenden Raum ziehen, den das Tageslicht, das durch Ritzen in den Fensterläden fand, mit staubwimmelnden Streifen aufteilte. So blieben die meisten Lärm-und Musikmaschinen Greffs im Halbdunkel, nur auf einige Details, auf ein Glöckchen, auf Sperrholzstreben, auf den Unterteil der Trommelmaschine deutete das Licht und zeigte mir die im Gleichgewicht verharrenden Kartoffeln.

Jene Falltür, die genau wie in unserem Geschäft hinter dem Ladentisch den Keller abdeckte, stand offen. Nichts stützte den Bohlendeckel, den die Greffsche in ihrer schreienden Hast aufgerissen haben mochte; doch den Haken hatte sie nicht in die Falle am Ladentisch einschnappen lassen. Mit leichtem Stoß hätte Oskar den Deckel zum Kippen bringen, den Keller verschließen können.

Reglos stand ich halb hinter den Staub-und Modergeruch ausatmenden Bohlen, starrte auf jenes grellerleuchtete Geviert, welches einen Teil der Treppe und ein Stück betonierten Kellerboden einrahmte. In dieses Quadrat schob sich von oben rechts der Teil eines stufenbildenden Podestes, das eine neue Anschaffung Greffs sein mußte, denn ich hatte den Kasten bei gelegentlichen Besuchen des Kellers zuvor nie gesehen. Nun hätte Oskar eines Podestes wegen den Blick nicht so lange und so gebannt in den Keller geschickt, wenn sich nicht aus der oberen rechten Ecke des Bildes merkwürdig verkürzt zwei gefüllte Wollstrümpfe in schwarzen Schnürschuhen geschoben hätten. Wenn ich auch nicht die Sohlen der Schuhe einsehen konnte, erkannte ich sie dennoch sofort als Greffs Wanderschuhe. Das kann nicht Greff sein, dachte ich mir, der dort fertig zum Wandern im Keller steht, denn die Schuhe stehen nicht, schweben vielmehr frei über dem Podest; es sei denn, daß es den steil nach unten geneigten Schuhspitzen gelingt, die Bretter kaum, aber doch zu berühren. So stellte ich mir eine Sekunde lang einen auf Schuhspitzen stehenden Greff vor; denn diese komische, aber auch anstrengende Übung war ihm, dem Turner und Naturmenschen zuzutrauen.

Um mich von der Richtigkeit meiner Annahme zu überzeugen, auch um den Gemüsehändler gegebenenfalls gehörig auszulachen, kletterte ich, auf den steilen Stufen alle Vorsicht bewahrend, die Treppe hinunter und trommelte, wenn ich mich recht erinnere, angstmachendes, angstvertreibendes Zeug dabei: »Ist die Schwarze Köchin da? Jajaja!«

Erst als Oskar fest auf dem Betonboden stand, ließ er den Blick auf Umwegen, über Bündel leerer Zwiebelsäcke, gestapelte, gleichfalls leere Obstkisten gleiten, bis er, zuvor nie gesehenes Balkenwerk streifend, sich jener Stelle näherte, an der Greffs Wanderschuhe hängen oder auf der Spitze stehen mußten.

Natürlich wußte ich, daß Greff hing. Die Schuhe hingen, mithin hingen auch die grobgestrickten, dunkelgrünen Socken. Nackte Männerknie über den Strumpfrändern, behaart die Oberschenkel bis zum Hosenrand; da zog sich langsam ein prickelndes Stechen von meinen Geschlechtsteilen, dem Gesäß folgend, den taubwerdenden Rücken hoch, kletterte an der Wirbelsäule entlang, setzte sich im Nacken fest, schlug mich heiß und kalt, prallte mir von dort wieder zwischen die Beine, ließ meinen ohnehin winzigen Beutel schrumpfen, saß mir abermals, den schon gekrümmten Rücken überspringend im Nacken, verengte sich dort — es sticht und würgt Oskar heutzutage noch, wenn jemand in seiner Gegenwart vom Hängen, selbst vom Wäscheaufhängen spricht — nicht nur Greffs Wanderschuhe, Wollstrümpfe, Knie und Kniehosen hingen; der ganze Greif hing am Hals und machte über dem Seil ein angestrengtes Gesicht, das nicht frei von theatralischer Pose war.

Überraschend schnell ließ das Ziehen und Stechen nach. Greffs Anblick normalisierte sich mir; denn im Grunde ist die Körperstellung eines hängenden Mannes genau so normal und natürlich wie etwa der Anblick eines Mannes, der auf den Händen läuft, eines Mannes, der auf dem Kopf steht, eines Mannes, der eine wahrhaft unglückliche Figur macht, indem er auf ein vierbeiniges Roß steigt, um zu reiten.

Dazu kam der Dekor. Erst jetzt begriff Oskar den Aufwand, den Greff mit sich getrieben hatte. Der Rahmen, die Umgebung, in der Greff hing, war ausgesuchtester, fast extravaganter Art. Der Gemüsehändler hatte eine ihm angemessene Form des Todes gesucht, hatte einen ausgewogenen Tod gefunden. Er, der zeit seines Lebens mit den Beamten des Eichamtes Schwierigkeiten und peinlichen Briefwechsel gehabt hatte, er, dem sie die Waage und die Gewichte mehrmals beschlagnahmt hatten, er, der wegen unkorrekten Abwiegens von Obst und Gemüse Bußen hatte zahlen müssen, er wog sich aufs Gramm mit Kartoffeln auf.

Das matt glänzende, wahrscheinlich geseifte Seil lief, auf Rollen geführt, über zwei Balken, die er eigens für seinen letzten Tag einem Gerüst draufgezimmert hatte, das schließlich nur den einen Zweck besaß, sein letztes Gerüst zu sein. Dem Aufwand an bestem Bauholz durfte ich entnehmen, daß der Gemüsehändler nicht hatte sparen wollen. Es mochte schwierig gewesen sein, in jenen an Baumaterialien armen Kriegszeiten die Balken und Bretter zu beschaffen. Greff wird zuvor Tauschhandel getrieben haben; für Obst bekam er Holz. So fehlte es an diesem Gerüst auch nicht an überflüssigen und nur zierenden Verstrebungen. Das dreiteilige, stufenbildende Podest — eine Ecke desselben hatte Oskar vom Laden aus sehen können — hob das gesamte Gestühl in beinahe erhabene Bereiche.

Wie bei der Trommelmaschine, die der Bastler als Modell benutzt haben mochte, hingen Greff und sein Gegengewicht innerhalb des Gerüstes. Recht gegensätzlich zu den weißgekälkten vier Eckbalken stand ein zierliches grünes Leiterchen zwischen ihm und den gleichfalls schwebenden Feldfrüchten.

Die Kartoffelkörbe hatte er mittels eines kunstvollen Knotens, wie ihn die Pfadfinder zu schlagen wissen, dem Hauptseil angeknüpft. Da das Innere des Gerüstes von vier weißgestrichenen, dennoch starkstrahlenden Glühbirnen erleuchtet wurde, konnte Oskar, ohne das feierliche Podest betreten und entweihen zu müssen, einem mit Draht am Pfadfinderknoten befestigten Pappschildchen über den Kartoffelkörben die Aufschrift ablesen: Fünfundsiebenzig Kilo (weniger hundert Gramm).

Greff hing in der Uniform eines Pfadfinderführers. Er hatte an seinem letzten Tag wieder in die Uniform der Vorkriegsjahre zurückgefunden. Sie war ihm eng geworden. Die beiden obersten Knöpfe und den Gurt hatte er nicht schließen können, was seiner sonst adretten Aufmachung einen peinlichen Beigeschmack gab. Zwei Finger der linken Hand hatte Greff nach Pfadfindersitte überkreuz gelegt.

Ans rechte Handgelenk band sich der Erhängte, bevor er sich erhing, den Pfadfinderhut. Auf das Halstuch hatte er verzichten müssen. Da es ihm wie bei der Kniehose auch am Hemdkragen nicht gelungen war, die obersten Knöpfe zu schließen, quoll ihm schwarzkrauses Brusthaar aus dem Stoff.

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