Meat (31 page)

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Authors: Joseph D'Lacey

Tags: #Fiction, #Horror, #Thrillers, #Suspense, #Science Fiction, #General, #General Fiction

BOOK: Meat
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Pastorin Mary Simonson bezweifelte, dass beim Betäuben und beim Blutentzug noch die korrekten Gebete gesprochen wurden. Zu Zeiten von Shantis Vater waren diese Gebete noch das Mantra eines jeden Fleischhauers gewesen, von Schichtbeginn bis Feierabend. Sie fragte sich, ob der so fromm aussehende Richard Shanti bei der Arbeit noch an die Gebete dachte. Inspektionen der MFP-Praktiken durch die Fürsorge wurden heute so selten durchgeführt, dass man unmöglich feststellen konnte, ob das überhaupt noch jemand tat.

Sie durchstöberte die Karteikarten, die Albert Shantis Leben dokumentierten. Wie sein Sohn war auch er ein vorbildlicher Schlächter gewesen: mitfühlend, effizient und schnell.

Allerdings lag die Produktionsrate damals bestenfalls bei neunzig die Stunde. Innerhalb einer Generation hatte sich so viel verändert. Sie durchforstete sein komplettes Leben nach Verhaltensauffälligkeiten und Interventionen seitens der Fürsorge und stieß tatsächlich auf einen Vorgang, der auf einen Eingriff der Fürsorge verwies. Sie überprüfte das Datum. Der Besuch der Fürsorge hatte um den Zeitpunkt von Elizabeth Shantis zweiter tragischer Geburt herum stattgefunden ― aufgrund von Berichten über Geschrei und Handgreiflichkeiten im Haus der Shantis, einer Immobilie in der Nähe des Stadtzentrums. Dort, wo die Nachbarn alles mitbekamen.

Es könnte ein Neider gewesen sein, jemand, der Shanti in Schwierigkeiten bringen wollte, indem er Dinge über ihn erzählte, die das Misstrauen der Fürsorge erregten. Es war schwer zu sagen. Vielleicht waren es auch nur die allzu verständlichen Reibereien eines unglücklichen Paares, das keine Chance mehr auf Erfüllung ihres Kinderwunsches sah.

Später erstattete das Werk der Fürsorge Bericht, nachdem Albert Shantis Schussquote zurückgegangen war. Zu erneuten Besuchen kam es allerdings nicht, da die Angelegenheit dem damaligen Fleischbaron Greg Santos oblag, der seine eigenen Methoden hatte, sich um Angestellte zu kümmern. Doch es gab weitere Meldungen ― nicht von Alberts Vorgesetzten, aber von anderen Arbeitern der Fabrik ―wegen unangemessenen Verhaltens. In den Akten war vermerkt, dass er seine Mittagspausen damit verbrachte, dabei zuzusehen, wie die Kühe ihre neugeborenen Kälber versorgten. Pastorin Mary Simonsons Herz fühlte mit diesem Mann, als sie sich ausmalte, wie es war, zwei Kinder zu verlieren und währenddessen all das neue Leben zu sehen, das an seiner Arbeitsstelle das Licht der Welt erblickte.

Und dann gab es einen allerletzten Bericht. Beziehungsweise den Ordner für einen Bericht sowie den dazugehörigen, datierten Karteireiter, versehen mit einer Vorfallsnummer. Aber der Ordner war leer. Der entsprechende Bericht über das, was auch immer Shanti sich hatte zuschulden kommen lassen, befand sich jedenfalls nicht darin. Die Vorgangsnummer war mit einem »A« versehen. Der Vorfall musste also in der Fabrik geschehen sein und mit den Auserwählten in Zusammenhang stehen. Voller Unglauben schüttelte Mary Simonson den Kopf. Jemand hatte in den Dokumenten der Fürsorge herumgepfuscht. Etwas Derartiges hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht erlebt. Nicht einmal davon gehört.

Es musste ein Irrtum sein. Wahrscheinlich sogar ihrer. Sie war unkonzentriert und hatte den Bericht bei anderen Unterlagen abgelegt. Sie überprüfte jeden Eintrag in Albert Shantis Aktenordner, dann ging sie alles noch einmal durch. Schließlich überprüfte sie noch einmal jede einzelne Karteikarte, um sicherzugehen, dass keine zwei Karten zusammenklebten. Je länger sie suchte, desto eindeutiger zeichnete sich ab, dass tatsächlich etwas fehlte. Eine Manipulation von Fürsorgedokumenten war blanker Selbstmord. Der reinste Irrsinn. Sie trat zurück und bemühte sich, ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Das war unmöglich. Sie
musste
einem Irrtum unterliegen.

Auch eine letzte Überprüfung förderte nichts zutage. »Whittaker!«

Der Bibliothekar war für sein Alter erstaunlich schnell und schien die Staubwolken, die er während seines Sprints aufwirbelte, gar nicht zu bemerken.

»Jawohl, Pastorin?«

»Wären Sie bitte so gut, diesen Karton durchzusehen und Bericht A:127:42 für mich zu finden?«

Sie übergab ihm die Schachtel und lehnte sich gegen ein Regal, während sie beobachtete, wie seine rattenähnlichen Finger durch die Karteikarten wirbelten. Der Schmerz in ihrem Unterleib nahm rapide zu. Am Ende fühlte es sich an, als würde er ihr seine langen Zähne geradewegs in die Magenschleimhaut rammen.

Whittaker gab ein enttäuschtes Murren von sich und blätterte noch einmal durch die Karten. Mary Simonsons Beine gaben unter ihr nach, die Muskeln in ihren Schenkeln zuckten, und sie sank zu Boden.

»Er ist nicht hier«, gab Whittaker bekannt. »Aber das ist unm...«

Den Kopf zur Seite geknickt, blickte sie vom schmutzigen Boden zu ihm auf, während ihr der Speichel auf die Schulter tropfte. Sie wollte sich bewegen, zu ihm sprechen, aber ihr Körper verweigerte den Gehorsam.

»Pastorin? Was haben Sie?«

Whittaker schloss den Karton und stellte ihn gewissenhaft auf seinen Platz im Regal zurück. Sie registrierte, wie ehrfürchtig er mit den Dokumenten umging, und bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie so unfreundlich zu ihm gewesen war. Nachdem er die Box abgestellt hatte, kniete er neben ihr nieder und versuchte ihr zu helfen. Er sah aufrichtig besorgt aus. Aber sein Geschiebe und Gezerre änderte nichts: Sie konnte sich weder bewegen noch konnte sie sprechen.

»Rawlins«, brüllte er. »Hol Hilfe für die Pastorin. Hol Doktor Fellows.«

Erst jetzt, als er mit ihr wartete, erinnerte sich der Körper des alten Mannes an seine Allergie. Er begann zu niesen.

 

Shanti erwachte im Dunkeln, lange vor Sonnenaufgang. Es war noch zu früh, um das Sammeln des Lichts zu praktizie
ren, aber er fühlte sich aufgekratzt und voller Tatendrang. Maya befand sich neben ihm noch im Tiefschlaf und hatte sich von ihm weggedreht, wie sie es sich inzwischen angewöhnt hatte. Leise stand er auf und kleidete sich an, warf den langen Mantel über und trat durch die Hintertür in die Dunkelheit. Der Wind hatte wieder die Richtung geändert. Statt die Übel der MFP-Fabrik Richtung Stadt zu tragen, trieb der Gestank sie nun hinaus in die Ödnis, wo es niemanden gab, der irgendetwas riechen könnte. Er atmete tief durch, dankbar für die klare Luft. Etwas zog an ihm. Das Gefühl war schwer zu beschreiben: ein undeutliches Zerren im Magen, der Drang nach Bewegung. Er hatte nichts vor, musste nicht zur Arbeit, zumindest heute nicht. Normalerweise würde er laufen, heute würde er stattdessen gehen.

Er ließ das Haus hinter sich und dachte an seine Töchter, wie sie so eng umschlungen aneinandergekuschelt in der unteren Koje schliefen. Anfangs ließ er es gemächlich angehen, achtete im Dunkeln vorsichtig auf seine Schritte. Aber er war diese Straßen so oft gelaufen, dass er sich nicht allzu viele Sorgen darüber machte, in den Ginster oder die Nesseln zu stürzen. Als er die Hauptstraße erreichte, wo er normalerweise nach links abbog, um zur Fabrik zu laufen, wandte er sich nach rechts und machte sich auf in Richtung Stadtzentrum.

Hin und wieder gab es Schlaglöcher oder Unebenheiten auf der Straße, aber ohne sie überhaupt richtig wahrzunehmen, wich er ihnen aus und stolperte kein einziges Mal. Bald schon passierte er unauffällig die ersten Häuser der Stadt ― die meisten Leute mochten es nicht, so nah wie er an der Ödnis zu leben. Es gab Bürgersteige, obgleich sie an vielen Stellen aufgebrochen oder eingesunken waren, weshalb er auf der Straße weiterging.

Rechter Hand, etwas hinter ihm, schob sich ein fahles
Licht über die Silhouette von Abyrne. Er beschleunigte seinen Schritt. Die Häuser standen nun enger beieinander und wurden kleiner. Es roch zunehmend bewohnter, nach Abwasser, Essen und verbrauchtem Gas. Es war immer noch so früh, dass außer den Schlaflosen, Verliebten und Kranken niemand wach war. Ihm gefiel es, und er hoffte, das Stadtzentrum durchquert zu haben, bevor die Städter den Tag begannen.

Rechter Hand passierte er die steinernen Pfosten und das gusseiserne schwarze Tor des Haupteingangs von Magnus' Anwesen, das mit seinen gewaltigen, streng bewachten und von Mauern umgebenen Außenanlagen dicht am Stadtzentrum lag. Am Ende des Grundstücks bog er links ab und ging an der Kathedrale vorbei, einem düsteren, gotischen Monster, erstarrt im Licht der anbrechenden Dämmerung und flankiert von den zahlreichen Büros der Fürsorge. Weiter rechts lag der Hauptgeschäftsdistrikt mit seinen Metzgereien, Fleischapotheken, religiösen Läden und diversen Handwerksbetrieben.

An ihnen vorbei wandte er sich erneut nach rechts in die Black Street, wo die schlimmsten der noch bewohnten Häuser Abyrnes standen. Hier lebten die ärmsten Bürger der Stadt. Jene, die kaum genug Geld zusammenkratzen konnten, um sich einmal die Woche ein einziges Stückchen Fleisch zu kaufen. Wenn diese Leute Collins zuhören würden, wären viele Probleme der Stadt schon bald obsolet.

Black Street endete so plötzlich, als hätte jemand den Rest der Straße mit einem Beil abgetrennt. Dahinter gab es keine Straßen, keine Bürgersteige und ziemlich lange keine noch aufrecht stehenden Häuser mehr.

Shanti trat über den Riss in der Straße wie ein Mann, der aus dem Gefängnistor tritt. Das verfallene Viertel zu betreten, bedeutete für die meisten Leute, dass ihr Leben in der
Stadt ruiniert war und sie niemals zurückkehren könnten. Er musste auf seinem Rückweg sehr vorsichtig sein und den Schutz der Dunkelheit ausnutzen, um zu vermeiden, dass Gerüchte über ihn in Umlauf kamen. Magnus hatte überall seine Spione, und niemand konnte wissen, wann ein Pastor der Fürsorge aus einer Gasse treten und ihn ausfragen würde.

Über zerbrochene Ziegel und geborstenen Beton zu steigen und den Eisenstangen auszuweichen, die aus dem Schutt wuchsen, zauberte ein Lächeln auf Shantis Gesicht. Leichtfüßig kletterte er über das Geröll und folgte damit beständig dem ihn leitenden, unsichtbaren Ziehen und Schieben.

Er passierte zahlreiche Häuser, die nur halb zerstört waren. Gelegentlich beschlich ihn sogar das Gefühl, dass Leute darin wohnten. Auch wenn es keinerlei Anzeichen dafür gab. Je weiter er in das Viertel eindrang, desto höher ragten die monolithischen Schemen der Hochhäuser in die Dämmerung. Vielen von ihnen durfte man wegen des herabstürzenden Mauerwerks nicht zu nahe kommen, aber bei einigen war die Bausubstanz noch ein wenig solider. Doch kein einziger der Türme hatte noch Fenster, noch wurde er auf irgendeine Art von der Stadt mit Strom oder Wasser versorgt. So war es immer gewesen. Gerüchteweise lebte Collins ― Prophet John, wie viele ihn inzwischen nannten ―in einem der Wohnblocks, aber Shanti konnte sich nicht vorstellen, dass es immer noch so war. Um zu überleben, musste Collins in Bewegung bleiben.

Er passierte die Garagen ― einen seltsam unberührten Teil des verlassenen Viertels. Sie lagen in einer tiefen Senke. Die Straße war in erstaunlich gutem Zustand und führte spiralförmig herab zu der Reihe von Betonblöcken. Shanti beschleunigte abermals seinen Schritt: Die Garagen waren
kein Ort, an dem man sich alleine aufhalten sollte. Besonders jetzt nicht, wo Collins verschwunden und die Treffen eingestellt worden waren.

Es war kurz hinter den Garagen, als er sich zu fragen begann, warum er es überhaupt riskierte, in das verlassene Viertel zu kommen. Wenn er hier gesehen wurde, konnte es nachhaltige Auswirkungen auf seinen Status haben. Was er tat, war völlig verrückt, jetzt wo sein Job bei MFP am seidenen Faden hing.

Er war gerufen worden. Das war es.

Etwas hatte seine Fühler nach ihm ausgestreckt, und er war der Aufforderung gefolgt. Es gab nur eines, was er hier zwischen diesen Ruinen, die man nicht mehr als Teil der Stadt bezeichnen konnte, finden konnte. Statt weiter so zu tun, als wisse er nicht, was es war, begann er danach Ausschau zu halten. Er konzentrierte sich auf das lockende Gefühl in seinem Bauch und spürte, wie es an Intensität zunahm, fast, als würde es auf seine gesteigerte Aufmerksamkeit reagieren.

Vor ihm erhoben sich terrassenförmige Schutthalden, weitere zerschmetterte Überbleibsel ehemaliger Wohnblöcke. Er hielt darauf zu. Hier und da bahnte sich in der umbarmherzigen Landschaft ein kränklich aussehendes Unkraut durch Risse und Spalten den Weg ins Freie. Der Boden, in dem sie wurzelten, enthielt wenig oder gar keine Nährstoffe. Alles, was die Pflanzen am Leben zu halten schien, war Licht, Luft und Hartnäckigkeit.

Er ging zwischen Ruinen hindurch, kreuzte etwas, das einmal eine Straße gewesen sein musste und durchquerte auf der anderen Seite eine weitere Ansammlung von Gebäuden. Dahinter schien die Zerstörung vollkommen. Er wanderte bloß noch durch undefinierbare Haufen aus Mörtel, Kacheln, Ziegeln und Steinen. Jeder Trümmerhügel war
überzogen von einer dicken grauen Schicht aus Staub und Schotter. Gelegentlich ragten rostige Stahlträger oder verkohlte Holzbalken gleich gebrochenen Fingern in den Himmel. Die Verwüstung erstreckte sich bis zum Horizont.

Wenige Schritte voraus fiel der Boden für eine kurze Strecke einige Meter ab. Über das lose Geröll schlitternd, stieg er den Hang hinab. Als er aus der Senke heraus war, konnte er beim Blick zurück außer den höchsten Spitzen einiger Wohntürme nichts mehr vom Stadtzentrum sehen. Angespornt von dem sicheren Gefühl, jetzt definitiv unbeobachtet zu sein, marschierte er zügiger voran.

Auch das Licht der Sonne, die vor einigen Minuten am Horizont aufgegangen war, ließ diesen Teil Abyrnes keinen Deut heiterer erscheinen, sondern es leuchtete bloß das allgegenwärtige Grau aus. Die Ruinen schienen niemals enden zu wollen.

Er blieb stehen.

Was war dort draußen? Was vermochte in dieser Zerstörung, diesem Verfall, zu existieren? Welcher Irrsinn hat mich hierhergelockt? Bin ich nicht mehr recht bei Verstand?

Er sah an seinem langen schwarzen Mantel herab. Die untere Hälfte war inzwischen völlig verschmutzt vom Staub und Dreck des verlassenen Viertels. An einem spitzen Vorsprung hatte er sich ein Loch hineingerissen.

Dieser Ort verändert mich. Er nimmt mich für sich ein. Nur noch ein paar Minuten und er hat mich vollständig in seinem Bann. Ich muss zurück nach Hause. Für die Mädchen. Sie sind alles, was noch zählt.

Panik überfiel ihn, und er drehte sich um ― begann wieder auf den Hang zuzulaufen,

Dann sah er die Öffnung.

Ihre Umrisse waren deutlich zu erkennen. Das war keine
zufällige Lücke im Chaos der Trümmer. Sie befand sich einige Meter rechts, von wo er die Geröllhalde heruntergeschlittert war. Er hatte sie nicht bemerkt, als er den Hang herabgestiegen war. Es war ein großes Loch, früher vermutlich ein perfektes Rechteck, inzwischen eingebrochen und schartig wie alles hier draußen. Er ging darauf zu, und die Öffnung wuchs an, erschien ihm größer und tiefer, je näher er ihr kam. Es muss einmal eine Art Eingang gewesen sein.

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