Meat (15 page)

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Authors: Joseph D'Lacey

Tags: #Fiction, #Horror, #Thrillers, #Suspense, #Science Fiction, #General, #General Fiction

BOOK: Meat
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Die Hitze erreichte seine Brust. Er atmete sie bis tief in den Unterleib. Im sanften Rhythmus seiner Atmung füllte sich sein Bauch mit Licht. Der Menge, die er aufnehmen konnte, schienen keine Grenzen gesetzt zu sein: Das Licht konzentrierte sich und wurde immer heller. Nachdem er eine ganze Weile so dagestanden und es in sich aufgenommen hatte, spürte er, wie die Kraft der Sonne exponential zunahm. Alles explodierte weiß, und der Vorrat an Licht in seinem Unterleib wurde freigesetzt, durchflutete jeden Teil seines Körpers, erfüllte seine Organe. Die Energie durchströmte seine Glieder. Tagesanbruch. So viel Licht, wie er
fassen konnte. Er ließ die Hände auf den Bauch sinken, ließ sie die kraftspendende Wärme halten. Als er die Augen öffnete, sah er den Morgen dämmern. Sah seine fahle Ankunft von den Wolken verhüllt, die die Stadt niemals alleine ließen. Da draußen kündigte sich ein weiterer grauer Tag an, aber in John Collins Innerem strahlte die Sonne aus einem klaren Himmel. Er sprach einen stillen Dank und ging zurück in die Wohnung, um zu trainieren. Genährt vom Licht schien ihn nichts mehr ermüden zu können. Er machte ein Dutzend Klappmesser und gesprungene Kniebeugen. Übungen, an die er sich noch aus dem verhassten Schulsport erinnerte. Dann begann er mit ganz normalen Liegestützen und ging nach einiger Zeit zu einarmigen über, von denen er ohne sichtbare Anstrengung fünfzig Stück bewältigte. Am Türrahmen hängend, machte er Klimmzüge, als würde sein Körper nicht mehr als eine Tüte Zucker wiegen. Er genoss es, dass er seinen Körper derart fordern konnte, ohne dass seine Energie jemals zur Neige ging.

Selbstverständlich hatte er Gewicht verloren. Die Leute glaubten, er würde hungern, und sie brachten häufig Essen für ihn mit in die Garage: selbst gebackenes Brot oder Gemüse, das sie angebaut hatten. Es waren diejenigen, die noch nicht begriffen hatten. Erkannten sie erst einmal die Wahrheit seiner Botschaft, brachten sie keine Geschenke mehr. Sein Körper besaß nicht ein Gramm Fett und nur ein Minimum an Muskeln. Aber John Collins war nicht unterernährt. Noch war er hungrig. Er war mager, und seine Augen leuchteten wie Sonnenfragmente.

John Collins war davon überzeugt, dass Leute wie Rory Magnus neue Wege finden mussten, um ihr Geld zu verdienen, wenn erst einmal genügend Städter auf die gleiche Art und Weise lebten wie er.

An jedem Morgen machte Richard Shanti die Übungen, die er von John Collins gelernt hatte. Er empfand es als schwierig, sich nicht ständig vorzuwerfen, dass er sich derart einfach hatte vereinnahmen lassen. Aber sein Verlangen war größer als seine Skepsis. Innerhalb weniger Wochen spürte er eine Veränderung in seinem Körper. Die Erschöpfung, die er aufgrund des beständigen Geißelns seiner selbst über den größten Teil jedes Tages verspürte, begann nachzulassen. Der Unterschied war so gering, dass er ihn eher einem Umschwung seiner Stimmung als einer körperlichen Veränderung zuschrieb.

Es waren diese Momente kurz vor dem Einschlafen oder direkt nach dem Erwachen, in denen er es bemerkte. Statt in bleischweren Schlaf zu stürzen, kaum, dass er sich hingelegt hatte, fühlte er, wie sein Körper und sein Geist sich lösten und entspannten. Dann erst schlief er ein. Vor Tagesanbruch erwachte er ein wenig früher, als die Routine es diktierte, und verspürte ein unbestimmtes Verlangen. Der Horror seines Jobs in der Schlachterei quälte ihn nicht weniger als zuvor, aber jetzt war da noch etwas anderes als das nackte Grauen in seinem Bewusstsein. Nach dem Aufstehen waren diese winzigen Veränderungen in ihm weitestgehend vergessen.

Doch irgendwann war es so weit, dass er diese Widersprüche in sich nicht mehr ignorieren konnte, und er begann, die Übungen ernster zu nehmen.

Hin und wieder fütterte Maya die Zwillinge mit Fleisch, manchmal in seiner Anwesenheit, manchmal nicht. Je nach Laune. Im Großen und Ganzen ließ sie allerdings seit dem Besuch der Pastorin die Dinge gelassener angehen und machte ihm weniger Vorwürfe wegen seines Lebensstils. Er wollte nicht, dass die Mädchen Fleisch aßen. Aber ihm war klar, dass Maya ihn verlassen und die Mädchen mitnehmen
würde, wenn er versuchen sollte, sie daran zu hindern. Er zweifelte nicht im Geringsten daran, dass sie es tun würde. Ihre Zielstrebigkeit ängstigte ihn gelegentlich. Sie war wie ein wildes Tier, das seine Jungen beschützte, für sie kämpfte, jagte und den Bau verteidigte. Er versuchte, nicht darüber nachzudenken, zu was Maya fähig wäre, wenn man ihr keine andere Wahl ließe. Seit sie einen Weg gefunden hatte, Hema und Harsha mit Fleisch zu versorgen, verzichtete sie darauf, ihn unter Einsatz ihrer körperlichen Reize zu verführen. Jetzt, wo er eine winzige Energiereserve besaß, wünschte er sich, sie würde es tun. Er wünschte sich, sie würde ihn lieben.

Da seine Gedanken um kaum etwas anderes als seine Arbeit kreisten und die Bußläufe für seine Missetaten den Großteil seiner Freizeit einnahmen, fiel es ihm leicht, sich mit der Situation zu Hause nicht auseinanderzusetzen. Hin und wieder kam er trotzdem nicht umhin, sein Leben außerhalb von Magnus' Fleischfabrik zu hinterfragen. Er schuftete, geißelte sich und schlief. Er sah seine Frau und seine Töchter kaum noch. Und wenn, dann behandelten sie ihn in ihrem gemeinsamen Zuhause wie einen Außenseiter, einen geduldeten Fremden.

Was er jedoch mehr als alles andere zu verdrängen versuchte, für das er Abbitte leistete, wann immer er konnte, verfolgte ihn dennoch jede Stunde. Ganz gleich, ob er wachte oder schlief: Das Schicksal der Auserwählten. Abyrne war eine Anomalie, das Ergebnis eines Irrwegs. Da war er sich sicher. Irgendwann in ihrer Geschichte war die Stadt vom rechten Pfad abgekommen. Das Buch des Gebens, der Abdominalpsalter, die Kontrolle der Stadt durch die Fürsorge und Rory Magnus: All das war eine gespenstische Fehlinterpretation dessen, was eigentlich sein sollte. Doch die Alternative entzog sich seiner Kenntnis. Er wusste nur,
dass alles an dieser Stadt ― und dem, was in ihr geschah ―durch und durch falsch war.

Aber sie konnten nirgendwo anders hin. Die Stadt war von der Ödnis eingeschlossen. Ungezählte Meilen breitete sie sich in jede Richtung aus. Außerhalb der Grenzen von Abyrne konnte nichts und niemand überleben. Am allerhärtesten, härter noch als die fehlgeleitete Anerkennung, die man ihm auf der Arbeit für seine fachliche Kompetenz zollte, war für Shanti die Gewissheit zu ertragen, dass es niemanden gab, mit dem er darüber reden konnte, wie er sich fühlte. Maya würde ihn anzeigen und ihre Drohung, ihn für immer von seiner Familie zu trennen, in die Tat umsetzen. Die Gesetzmäßigkeiten der Stadt auch nur in einem Aspekt infrage zu stellen, war für sie nichts als verrücktes Geschwätz. Geschwätz, das sie zudem alle dem Risiko aussetzte, sich der Willkür der Fürsorge auszuliefern. Und sie hatte vollkommen Recht, sich zu fürchten. Die Fürsorge besaß die Macht, den Status zu annullieren. Wer aufhörte, ein Bürger zu sein, wurde Fleisch. Die einzige Möglichkeit, die einem dann noch blieb, war ins verfallene Viertel zu flüchten und sich dort zu verstecken. Aber dort draußen gab es nichts. Nichts zu essen, kein fließend Wasser, keine Kanalisation, keine Stromversorgung. Nur Block um Block zerbröckelnde, verlassene Gebäude und Schutthaufen. Das verfallene Viertel war so gnadenlos wie die Ödnis.

Es gab Gerüchte, dass dort draußen hungernde Heimatlose hausten. Leute, die vor Rory Magnus oder der Fürsorge geflüchtet waren. Aber waren sie wirklich mit einem blauen Auge davongekommen, wenn sie sich an einem Ort verbergen mussten, an dem sie langsam an Seuchen oder Unterernährung krepieren würden? Nein, nicht in Shantis Augen. Da war es doch besser, seinem Schicksal am anderen Ende seiner Bolzenschusspistole zu begegnen. Wo einen der Tod
ohne Umschweife in die Freiheit entließ. Ungezählte Male hatte er die Auserwählten in die Sammelpferche strömen sehen. Wenn er ihnen durch den Einlassschieber von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, hatten sie ausnahmslos das Ende herbeigesehnt. Er wusste, wenn er sich ihrer annahm, waren seine mitfühlenden Augen das Letzte, was sie jemals sahen. Das verfallene Viertel war für niemanden eine Option. Und selbst wenn es so weit kommen sollte, würde Maya ihn niemals begleiten. Abgeschnitten von seiner Familie würde vermutlich bereits die Einsamkeit ausreichen, um ihn umzubringen.

Soviel er erkennen konnte, gab es keinen Ausweg aus seinem Leben. Er war dazu verurteilt, jeden einzelnen Tag seines Daseins Auserwählte zu ermorden oder zu verstümmeln. Das war sein Schicksal. Kein anderer Weg stand ihm offen.

Abgesehen von den Lehren des John Collins' war Shantis Leben frei von Hoffnung. Und so tat er jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, was der stille Mann ihm beigebracht hatte.

Von Tag zu Tag veränderte er sich mehr.

 

»Tu ihm nicht weh, Bruno, du dämlicher Tollpatsch. Ich will nicht, dass er abgelenkt wird. Er soll genau mitkriegen, was passiert, wenn er im Keller ist.«

Rory Magnus lehnte sich in seinen drehbaren Chefsessel und zündete sich einen kleinen schwarzen Stumpen an. Wie die goldenen Kettenglieder an seinem Handgelenk, reflektierte sein Feuerzeug den gelben Schein des Kaminfeuers, als er es zuschnappen ließ und auf den Schreibtisch stellte. Er war ein massiger Mann mit zahlreichen Sommersprossen, rotblonder Mähne, weißen Schläfen und Koteletten und einem wildwuchernden Bart. Sein Gesicht und die
Sehnen seines Halses zeigten eine ständige Anspannung. Einen nur mit Mühe zurückgehaltenen Drang, vorwärtszuspringen, als Erster aus den Startblöcken zu schnellen, um jemanden mit seinen Fäusten zu bearbeiten, einen Kuss zu geben oder eine Schulter zu klopfen. Niemand vermochte zu sagen, was diese Anspannung implizierte. Außer dass es kurz bevorstand.

Zehn Fuß davor warteten zwei Männer auf einem aufwendigen wollenen Läufer. Einer war ungewöhnlich muskulös und hatte die Größe eines Schranks. Aus seinem fettigen, dunklen Haar rieselten Schuppen auf Kragen und Schultern seines langen schwarzen Mantels. Der andere Mann war nackt und kniete auf dem Teppich. Seine Hände waren mit einem Lederriemen hinter seinem Rücken zusammengebunden, sein Kopf wurde von seinem Bewacher niedergedrückt.

Magnus sah ihn lange stillschweigend an. Dann zog er ein weiteres Mal an seinem Stumpen und entließ zwei Rauchschwaden durch seine Nase.

»Wie lang hast du deinen Dünnschiss bereits gepredigt, Collins? Ein Jahr? Zwei?«

Der kniende Mann antwortete nicht.

»Was hast du damit erreicht, häh? Hat dir in all dieser Zeit irgendjemand wirklich zugehört? Hat irgendjemand
sein Verhalten geändert?«
Er stieß noch mehr Rauch aus. »Lass ihn bitte los, Bruno, ich kann seine hässliche Visage nicht sehen.«

Bruno lockerte seinen Griff. Der nackte Mann erwiderte seinen Blick und hielt diesem stand. Dieser Blick lenkte seine Aufmerksamkeit von der Narbe oberhalb von Collins' spindeldürrem Sternum ab. Die Augen eines Mannes, der nichts zu verlieren hatte. Magnus erblickte diese schneidige Form der Selbstüberschätzung nicht zum ersten Mal.

Sie hielt nie lange an.

»Haben dir deine Eltern keine Manieren beigebracht, mein Sohn? Es gehört sich nicht, jemanden anzustarren.«

Collins, entblößt und hilflos, schwieg noch immer und wendete seinen Blick nicht von ihm ab.

Rory Magnus betrachtete seinen Zigarillo, rollte ihn zwischen seinen dicken Fingern und nickte. Offenkundig erfreute ihn die Qualität seiner Rauchware. Möglicherweise signalisierte das Nicken aber auch einen stillschweigenden Entschluss. Er entließ eine Schwade ockerfarbenen Nebels aus seinem Mundwinkel.

»Ich lasse dir deine Augen, Collins. Damit du alles mit ansehen kannst, was wir dir antun.« Er machte eine Pause, um seinen Worten Gewicht zu verleihen. »Danach werde ich sie dir aus dem Gesicht schneiden lassen, um sie einzulegen. Das Glas werde ich genau hier auf meinen Schreibtisch stellen. Auf diese Art bleibt mir dein schmachtender Blick erhalten.«

Worte waren die ersten Waffen, um einen Menschen zu brechen. Gelegentlich hatten sie ihren Job bereits erledigt, lange bevor Klingen zum Einsatz kamen. Er inspizierte Collins' Gesicht auf Anzeichen von Angst. Ein Flackern im Blick, ein Zittern der Augenmuskulatur und der Lippen. Tränen. Schweiß. Doch da war nichts. Innerlich zuckte er die Achseln.

Zuerst kamen die Überzeugungsversuche, eindringliche Appelle: nachdrückliches Jetzt-hör-es-dir-doch-mal-richtigan-und-las s-dich-darauf-ein-Gefeil s che . Magnus machte keine Deals, wenn die Deals bereits gelaufen waren. Dann das Wehklagen: der Hinweis auf die verwitwete Frau und die verwaisten Kinder. All das, was im Leben noch unerledigt war. Bloß noch ein Sonnenaufgang mit den Liebsten. Rory Magnus' väterliche Antwort: »Mach dir keine Sorgen, ich
werde mich um sie kümmern«, wurde niemals missinterpretiert. Dann die Tränen: »Bitte, Mr. Magnus, bitte. Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe ― einen großen Fehler ―, aber das habe ich nicht verdient.
Das
nicht.« Ein Schulterzucken als Antwort, ein Ich-gebe-einen-stinkenden-Haufen-Scheißdreck-auf-dich-Zucken. Gefolgt von einer eher sachlichen Verteidigung: »Ich kann nicht zulassen, dass die Leute mitkriegen, wie sich jemand mit Rory Magnus anlegt. Ich kann es mir nicht erlauben, schwach auszusehen.« Wut, selbstverständlich: »Leck mich, Magnus, deine Kinder werden dafür bezahlen. Wir sehen uns in der Hölle, das schwöre ich dir. Ich werde zurückkehren und dich heimsuchen, bis zu dem Tag, an dem du verreckst.« Blablabla. Aber am Ende würde Magnus
ihre
Kinder zahlen lassen, wenn ihm danach wäre. Er würde seine Opfer in der Hölle sehen, lange bevor sie starben, und ihm war noch niemals auch nur ein einziger Geist erschienen. Wenn die Wut abgeklungen war, schnieften und flennten sie wie Kleinkinder. Fiebergesichtige, rotwangige, schnodderlippige Babys.

Magnus hatte ein wenig Ahnung von Psychologie. Sterben war ein Prozess, den jeder durchstehen musste. Wut, Leugnen, Akzeptanz ― er verstand das Grundprinzip. Und bis zu einem gewissen Grad hatte es auch seine Richtigkeit. Menschen, die an
Dem Zittern
litten, hatten Zeit, all das mit Muße durchzustehen. Menschen in Magnus' Keller aber stand eine derartige Möglichkeit nicht zur Verfügung. Aber sie arrangierten sich mit dem Tod. Beinahe alle. Womit sie nicht klarkamen, womit keiner von ihnen jemals klargekommen war, waren die Qualen ihrer systematischen Vernichtung. Die unbarmherzige Dezimierung ihrer lebendigen Leiber durch die Klingen. Am Ende gaben alle auf.

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