Authors: Joseph D'Lacey
Tags: #Fiction, #Horror, #Thrillers, #Suspense, #Science Fiction, #General, #General Fiction
Diese Gerüchte hatten auch einen metaphysischen Aspekt. Denn davon abgesehen, dass die Idee kein Fleisch mehr zu essen so unglaublich wie irrwitzig war, war sie auch geradezu selbstmörderisch. Wie halbwegs intelligente Menschen auf derart selbstzerstörerische Lügen reinfallen konnten, wollte ihm nicht in den Kopf. Aber es sagte etwas über das Wesen der Menschen. Die Menschen waren schwach. Die Menschen waren korrumpierbar. Die Menschen waren leichtgläubig. Auf solchen Wahrheiten hatte er sein Imperium gegründet.
Jetzt, wo der Mann hier war, wollte Magnus auch wissen, was für einen Mist er herumerzählte. Anschließend würde er Collins in einem für ihn aussichtslosen Kampf ― auf den dieser offensichtlich ganz scharf war ― zu einem Brei aus Blut und Knochen zusammenprügeln und schließlich aufschlitzen lassen.
Vielleicht, dachte er, vielleicht mache ich seine Hinrichtung zu einer öffentlichen Schlachtung. Die Erste, die Abyrne jemals erlebt hat. Er lächelte. Dank dieser Idee fühlte er sich gleich viel besser. Es würde die Sorte Hinrichtung werden, die niemand je vergessen würde. Die Art endlos langsamer Tod, von denen die Leute schreiben und noch ihren Enkeln erzählen würden. Collins wäre für Wochen das Fleisch auf seinem Tisch, und man würde Magnus fürchten bis in alle Ewigkeit.
Die Leute würden dankbar ihr Fleisch essen. Folgsam. Ganz so, wie sie es sollten.
Hin und wieder streifte Shanti durch die Herde der Mutterkühe, um nach WEISS-047 und ihrem neuen Kalb zu sehen. Das Kalb war männlich, und als Sprössling von BLAU-792 bestanden recht gute Chancen, dass es ein Bulle und kein Mastvieh werden würde. Was Shanti heimlich freute. Es entsprach seiner Fantasie von einem Kalb, das wie ein Kind aufwuchs. Die Realität sah natürlich so aus, dass der junge Bulle denselben Verstümmelungen entgegensah, wie jedes andere männliche Jungtier ― abgesehen von der Kastration. Immerhin, anstatt nach Ablauf der Galgenfrist auf der Schlachtbank zu landen, standen dem Jungbullen womöglich noch Jahre erfolgreicher und damit lebensverlängernder Paarungen bevor. Es war das Beste, was einer der Auserwählten vom Leben erwarten konnte, und Shanti war dankbar für diese winzige Gnade.
Mütter und Kälber wurden in Gemeinschaft gehalten, bis die Kälber gefahrlos getrennt und mit fester Nahrung gefüttert werden konnten. War ihre Gesundheit vom Kalben nicht allzu sehr in Mitleidenschaft gezogen, führte man die Muttertiere wieder ihren ursprünglichen Herden zu. Das Kalb von WEISS-047 würde in einem separaten Bullengehege aufgezogen werden, während man andere männliche Kälber den Mastviehherden zuteilte, um sie möglichst effektiv auf die Schlachtung vorzubereiten. Weibliche Kälber wurden in der Regel als Milch- oder für ein bis zwei Saisons als Zuchtkühe gekennzeichnet, dann landeten auch sie in den Sammelpferchen.
Von den schwach oder krank geborenen Tieren abgesehen, hatten die Mastkälber die kürzeste Lebenspanne. Diese männlichen Jungtiere wurden zufällig unter den Neugeborenen ausgewählt und in eine Stallung voll enger, dunkler Verschläge gebracht, wo sie nach einer speziellen Diät gefüttert und aufgrund der räumlichen Beengtheit fast be
wegungslos gehalten wurden. Aufgrund der ständigen Dunkelheit waren sie zum Zeitpunkt ihrer Schlachtung praktisch blind. Die niedrigen Boxen der Mastkälber erlaubten es ihnen nicht, sich bis zu ihrer vollen Körpergröße aufzurichten. Die Tiere begriffen das sehr schnell und verharrten im Liegen oder Sitzen. Waren sie alt genug, wurden sie auf Stofftragen zur Schlachtung gebracht, weil sie nicht mehr laufen konnten.
Die Kalbsschlachtung fand in einer kleineren Anlage, und ― dem geringen Bestand geschuldet ― mit deutlich niedrigerer Produktionsrate statt. Es war ein Aspekt der MFPProduktion, in den er noch nie involviert gewesen war. Und er verspürte auch nicht den Wunsch. Glücklicherweise wurden seine Fähigkeiten im zentralen Schlachthaus benötigt, wo dem Druck der hohen Produktionsraten beständig Rechnung getragen werden musste.
Im Verlauf der Wochen verfolgte Shanti die Fortschritte von WEISS-047 und dem Kalb regelmäßig. Das Kalb sah kräftig aus und war kaum von den Zitzen der Mutter wegzubekommen. Eins nach dem anderen wurden die Rituale der Auserwählten an ihm und seinen Schicksalsgenossen vollzogen. Ihre Finger wurden kupiert, ihre großen Zehen gestutzt, sie wurden gebadet. Man entfernte die Milchzähne, als sie durchs Zahnfleisch brachen. Beim heranwachsenden Tier wurden dann die nachwachsenden Zähne gezogen. Bei jeder neuen Prozedur wurden die Mütter aufs Neue unruhig. In den Pferchen und auf den Weidegründen schwoll ihr Seufzen und Zischen lärmend an. Die Kälber wurden von den Viehtreibern mitgenommen und Minuten später, von ihren Werkzeugen deformiert, zurückgebracht. Als die Zeit zum Markieren gekommen war, sah Shanti immer wieder vorsichtig nach, um zu erfahren, welches Schicksal dem Kalb von WEISS-047 bevorstünde.
Eines Tages kam er vorbei und beobachtete, wie WEISS-047 ihr Junges wiegend an den Euter drückte. Das Kalb saugte und seufzte abwechselnd. Seine Brust hob sich mit tiefen Atemzügen und produzierte langgezogene Zischlaute. Hätte es noch Stimmbänder gehabt, das wusste Shanti, wären es Schreie gewesen. Tränen und Milch verschmierten sein rot angelaufenes Gesicht. Wo ein dünnes blutiges Rinnsal von seiner rechten Ferse tropfte, erblickte Shanti endlich, nach was er so erwartungsvoll Ausschau gehalten hatte: Das Schicksal des Jungen, besiegelt von einem stählernen Bolzen und einer farbigen Markierung.
WEISS-047 registrierte, dass er sie beobachtete. Ohne sich wegzudrehen und, was ganz und gar ungewöhnlich war, unter den Hunderten von anderen suchte sie seinen Blick. Kaum wahrnehmbar neigte sie ihren Kopf. Shanti sah sich um, ob einer der Viehtreiber eventuell etwas bemerkte, und erwiderte die Geste, so subtil er konnte. Er lächelte trotz des offensichtlichen Schmerzes, den ihr Junges erlitt, und glaubte zu sehen, dass auch ihre Lippen sich verzogen.
Die Marke des Kalbs war leuchtend blau. Nicht rissig und ausgeblichen wie die seines Vaters. Die Nummer war 793.
»Wir sollten das nicht tun. Nicht jetzt.«
»Ich habe alles mitgebracht, was du wolltest. Und noch mehr. Sieh her.«
Maya schaute in die Tasche und sah Päckchen mit Koteletts und Blutwurst. Und andere Dinge. Hausgemachte Blätterteigtaschen und noch dampfende Pasteten. Speichel sammelte sich unter ihrer Zunge.
»Die Mädchen kommen bald von der Schule zurück.« »Wie bald?«
»Jeden Moment.«
»Möchtest du das Fleisch denn nicht haben? Ich kenne genug Leute, die dankbar dafür wären.«
Die Angst vor Unterernährung zerrte an ihr wie ein Angelhaken. Jetzt, da sie die Mädels aufpäppelte, ihre rosigen Wangen sah, war es schwierig ― ja, geradezu unmöglich ―, auch nur den leisesten Gedanken daran zuzulassen, dass sie erneut an Gewicht verloren. Sie musste dafür sorgen, dass es ihnen gutging. Das war ihre Aufgabe. Es war ihre Pflicht. Alles in der Welt, was eine Mutter zu geben hatte, waren Liebe und Nahrung für ihre Kinder, und sie würde nicht zulassen, dass man sie daran hinderte. Sie liebte sie. Sie waren wichtiger, als alles andere. Ganz gleich, was es kosten sollte.
Torrance hatte sie auf die Spüle gehoben. Ihren Rücken zu dem Fenster, durch das sie jeden Tag nach der Rückkehr ihrer Familie Ausschau hielt. Sein Atem roch nach halb verdautem Steak und fauligem Zahnfleisch. Seine Zähne waren abgebrochen oder verfärbt. Ihn zu küssen brachte sie beinahe dazu, sich zu übergeben. Sie rückte näher heran, tastete sich mit rissigen Lippen durch seinen schmierigen Bart, und der Gestank seines Mundes und Magens stieg ihr in die Nase.
Aber sie musste ihn nicht küssen. Sie musste ihn nur befriedigen. Je schneller sie das tat, desto schneller würde er gehen. Noch bevor er sie berührte, sank sie auf dem Küchenboden auf die Knie und knöpfte ihm die Hose auf. Sie griff hinein, fand den Eingriff in seiner Unterhose und führte seinen Penis hindurch. Er begann bereits zu keuchen. Ehe sie ihn in den Mund nahm, betrachtete sie ihn kurz. Viel war nicht daran. Er sah mehr oder weniger wie ein dickes, kurzes Würstchen aus. Der einzige Unterschied war das kräftig riechende Haar drumrum und das Loch an seinem Ende. Dennoch, alles war besser, als ihn zu küssen.
Alles.
»Halt deine Augen offen und sag mir, wenn du sie kommen siehst. Sie müssen nichts davon wissen. Und sie sollten mich niemals so sehen.«
Torrance schob ihr ohne zu antworten seinen Penis ins Gesicht. Er passte problemlos in ihren Mund. Obwohl er mit aller Kraft zustieß, kam er niemals bis in ihre Kehle. Da er offensichtlich den aktiven Part übernehmen wollte, blieb ihr wenig zu tun. Sie ließ ihn ihr Gesicht penetrieren und öffnete den Mund. Das Schlimmste daran war, wie ihr Kopf gegen den Küchenschrank schlug.
Es war ein geringer Preis.
Wenn es hart auf hart kam, war das Leben eines Bullen um einiges leichter, als das eines Schlachtarbeiters.
Es war leichter, als das der meisten Bürger von Abyrne. Von der vierteljährlichen Paarungshektik abgesehen, welche die Bullen fraglos bis zur völligen Erschöpfung forderte ―die Schlachtarbeiter pflegten ihre Witzchen darüber zu machen, dass sie gerne mal ähnlich in Anspruch genommen würden ―, hatten sie wenig mehr zu tun, als zu fressen und zu schlafen. Shanti hatte es sich zum Prinzip gemacht, regelmäßig am Gehege von BLAU-792 vorbeizuschauen. Bevorzugt in der Mittagspause, wenn er damit rechnen konnte, alleine zu sein.
Anfangs hatte er sich noch vor dem Bullen versteckt, um ihn nicht wissen zu lassen, dass er ihn beobachtete. Als die Zahl der Besuche zunahm, ließ er zu, dass der Bulle durch die Spalten der Verschalung seines Verschlags einen Blick auf ihn erhaschen konnte. Manchmal flüsterte er dem Bullen zu:
»Ich habe deinen Sohn gesehen. Er ist wunderschön.« Oder: »Er wird ein Bulle sein. Ein ganz besonderer, genau wie du.«
Ob BLAU-792 ihn verstand? Die Auserwählten hörten tagein, tagaus das Geschwätz, Geplänkel und Geschrei der Schlachtarbeiter und Viehtreiber. Möglicherweise wussten sie einige Worte zu deuten, auch wenn sie nicht sprachen. Shanti kümmerte das nicht. Er wollte den Bullen wissen lassen, dass er an ihn dachte. Dass er nach ihm sah. Dass er ihm etwas bedeutete.
Diese Ideen und Gefühle durfte er niemals mitteilen, wenn er seinen Job behalten und am Leben bleiben wollte. Er wusste, dass ihn solche Gedankengänge eigentlich ängstigen sollten. Aber das taten sie nicht.
Das war es, was ihm wirklich Angst machte.
Gelegentlich, wenn der Bulle ruhte, klopfte Shanti einen leisen Rhythmus auf die Paneele. Er spähte durch einen Spalt oder stand sogar deutlich sichtbar vor dem Gatter des Geheges. Der Bulle sah ihn an. Aber das war alles.
Der Morgen war eine quälende Parade allerletzter Blicke.
Die schnelle und genaue Positionierung der Mündung erforderte uneingeschränkte Konzentration. Die Geräusche der aufbrechenden Schädel und unter Druck explodierender Hirnmasse wurden vom Lärm der Bolzenschusspistole ausradiert. Ihr Luftschlauch ringelte sich hinter Shanti gleich einer von der Decke baumelnden Viper. Jedes Mal, wenn Shanti den Abzug betätigte, schoss die Zunge der pneumatischen Schlange zielgenau hervor. Ihr Biss war tödlich.
»Eispickel! Die Produktionsrate, bitte!«
Shanti konnte das Frohlocken in Torrances Stimme hören. Die Begeisterung darüber, dass Eispickel Richard Shanti die Auserwählten mit der Akkuratesse einer Maschine massakrierte.
»Eins einunddreißig, Sir.«
»Hervorragend, Rick. Du verstehst es, deinen alten Vorarbeiter glücklich zu machen. Niemand in Abyrne wird hungern, solange du auf deinem Posten bist. Und lass dich von diesem Schwätzchen nicht aus dem Rhythmus bringen.«
Das tat er nicht.
Im gleichen Augenblick wusste er, dass ihn früher oder später etwas aus dem Rhythmus bringen würde und dass es nichts mit dem zu tun haben würde, was immer Torrance sagte.
Er hatte begonnen, Bruchstücke ihrer Sprache zu begreifen. Wie genau, das verstand er nicht. Wohl auf die gleiche Art, wie er von seiner eigenen Familie die Sprache erlernt hatte. Er konnte gar nicht anders.
Die Zugangsklappe vor ihm öffnete sich, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte er Blickkontakt mit dem Auserwählten dahinter.
»Gott ist allmächtig. Das Fleisch ist geheiligt.«
Er setzte die Bolzenschusspistole mitten auf seine Stirn und zog den Abzug.
Zisch-Klonk. Das Licht in den Augen des Auserwählten erlosch. Er schlug auf den Schalter des Schusszählers. Die Zugangsklappe schloss sich.
Vielleicht war es Eingebung, dass der Beginn jeder Botschaft eine Art Begrüßung oder der Name der »sprechenden« Auserwählten war und das Ende einer jeden Kommunikation eine Art Verabschiedung bildete. Das war allerdings noch keine hinreichende Erklärung dafür, wie er es so schnell begreifen konnte. Shanti glaubte, er wusste um die Bedeutung der Klopfer und Atemgeräusche, weil sie ihm so vertraut waren.
Unterschwellig hatte er die Laute jeden Tag wahrgenommen. Jeder Viehtreiber tat das. Deshalb waren die Laute der Auserwählten letztendlich ein nicht mehr wegzudenkendes
Stück MFP-Alltag geworden. Diese Laute waren in jedem Teil der Anlage allgegenwärtig, penetrierten das Unterbewusstsein jedes Arbeiters. Shanti vermutete, dass es nur eines geringen Mehraufwands bedurfte, damit anzufangen, die Laute und Rhythmen der Auserwählten zu interpretieren. Er arbeitete seit zehn Jahren hier. Es war kein Wunder, dass er so schnell begonnen hatte, es zu verstehen, nachdem er für sich entschieden hatte, dass es kein willkürlicher Krach war, sondern eine Sprache, die die Auserwählten benutzten.
Die Klappe öffnete sich. Neue Augen. Die gleichen Augen. Augen, die er schon hunderttausendmal gesehen hatte. Ihre Farben variierten, ihre Abstammung variierte. Er kannte sie alle. Er liebte die Auserwählten auf eine Art, die er nicht beschreiben konnte.
»Gott ist allmächtig. Das Fleisch ist geheiligt.«
Zisch-Klonk.
Hau auf den Schalter.
Er dachte ununterbrochen über ihre Sprache nach. In jeder wachen Stunde versuchte er, Verbindungen zwischen bestimmten Gruppen und Typen von Klopfgeräuschen und den dazugehörigen Zischlauten und Seufzern herzustellen. Aber erst nachts machte er wirkliche Fortschritte. Er träumte, BLUE-792 würde ihm erst Zeichen geben und dann die Bedeutung des jeweiligen Satzes laut sprechen. Morgens konnte Shanti sich an jede Nuance erinnern, und er lief noch schneller zur Arbeit. Er war neugierig darauf, sein neu erworbenes Wissen zu testen.