The Kraus Project (34 page)

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Authors: Karl Kraus

BOOK: The Kraus Project
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Die Lyrik seines Sterbens, Teile des Romanzero, die Lamentationen, der Lazarus: hier war wohl der beste Helfer am Werke, um die Form Heines zur Gestalt zu steigern.
Heine hat das Erlebnis des Sterbens gebraucht, um ein Dichter zu sein.
Es war ein Diktat: sing, Vogel, oder stirb.
Der Tod ist ein noch besserer Helfer als Paris; der Tod in Paris, Schmerzen und Heimatsucht, die bringen schon ein Echtes fertig.

Ich hör’ den Hufschlag, hör’ den Trab,

Der dunkle Reiter holt mich ab –

Er reißt mich fort, Mathilden soll ich lassen,

O, den Gedanken kann mein Herz nicht fassen!

Das ist andere Lyrik, als jene, deren Erfolg in den Geschäftsbüchern ausgewiesen steht.
Denn Heines Wirkung ist das Buch der Lieder und nicht der Romanzero, und will man seine Früchte an ihm erkennen, so muß man jenes aufschlagen und nicht diesen.
Der Tod konzentriert, räumt mit dem tändelnden Halbweltschmerz auf und gibt dem Zynismus etwas Pathos.
Heines Pointen, so oft nur der Mißklang unlyrischer Anschauung, stellen hier selbst eine höhere Harmonie her.
Sein Witz, im Erlöschen verdichtet, findet kräftigere Zusammenfassungen; und Geschmacklosigkeiten wie: „Geh ins Kloster, liebes Kind, oder lasse dich rasieren“, werden seltener.
Das überlieferte Mot „dieu me pardonnera, c’est son métier“ ist in seiner vielbewunderten Plattheit vielleicht eine Erfindung jener, die den Heine-Stil komplett haben wollten.
Aber es paßt zum Ganzen nicht schlecht.
Im Glauben und Unglauben wird Heine die Handelsvorstellung nicht los.
Selbst die Liebe spricht zum Gott der Lieder, „sie verlange Sicherheiten“, und der Gott fragt, wieviel Küsse sie ihm auf seine goldene Leier borgen wolle.
Indes, der Zynismus Heines, diese altbackene Pastete aus Witz und Weh, mundet dem deutschen Geschmack recht wohl, wenn ers auch nicht wahr haben will.
Zu Offenbach, in dessen Orchester der tausendjährige Schmerz von der Lust einer Ewigkeit umtanzt wird, verhält sich dieser Schmerzspötter wie ein routinierter Asra zu einem geborenen Blaubart, einem vom Stamme jener, welche töten, wenn sie lieben.

… Was will die einsame Träne?
Was will ein Humor, der unter Tränen lächelt, weil weder Kraft zum Weinen da ist noch zum Lachen?
Aber der „Glanz der Sprache“ ist da und der hat sich vererbt.
Und unheimlich ist, wie wenige es merken, daß er von der Gansleber kommt, und wie viele sich davon ihr Hausbrot vollgeschmiert haben.
Die Nasen sind verstopft, die Augen sind blind, aber die Ohren hören jeden Gassenhauer.
So hat sich dank Heine die Erfindung des Feuilletons zur höchsten Vollkommenheit entwickelt.
Mit Originalen läßt sich nichts anfangen, aber Modelle können ausgebaut werden.
Wenn die Heine-Nachahmer fürchten mußten, daß man sie entlarven könnte, so brauchten sie nur Heine-Fälscher zu werden und durften getrost unter seinem Namen en gros produzieren.
Sie nehmen in der Heine-Literatur einen breiten Raum ein.
Aber die Forscher, denen ihre Festellung gelingt, sind nicht sachverständig genug, um zu wissen, daß mit dem Dieb auch der Eigentümer entlarvt ist.
Er selbst war durch einen Dietrich ins Haus gekommen und ließ die Tür offen.
Er war seinen Nachfolgern mit schlechtem Beispiel vorangegangen.
Er lehrte sie den Trick.
Und je weiter das Geheimnis verbreitet wurde, umso köstlicher war es.
Darum verlangt die Pietät des Journalismus, daß heute in jeder Redaktion mindestens eine Wanze aus Heines Matratzengruft gehalten wird.
Das kriecht am Sonntag platt durch die Spalten und stinkt uns die Kunst von der Nase weg!
Aber es amüsiert uns, so um das wahre Leben betrogen zu werden.
In Zeiten, die Zeit hatten, hatte man an der Kunst eins aufzulösen.
In einer Zeit, die Zeitungen hat, sind Stoff und Form zu rascherem Verständnis getrennt.
Weil wir keine Zeit haben, müssen uns die Autoren umständlich sagen, was sich knapp gestalten ließe.
So ist Heine wirklich der Vorläufer moderner Nervenysteme, als der er von Künstlern gepriesen wird, die nicht sehen, daß ihn die Philister besser vertragen haben, als er die Philister.
Denn der Heinehaß der Philister gibt nach, wenn für sie der Lyriker in Betracht kommt, und für den Künstler kommt Heines Philisterhaß in Betracht, um die Persönlichkeit zu retten.
So durch ein Mißverständnis immer aktuell, rechtfertigt er die schöne Bildung des Wortes „Kosmopolit“, in der sich der Kosmos mit der Politik versöhnt hat.
Detlev von Liliencron hatte nur eine Landanschauung.
Aber mir scheint, er war in Schleswig-Holstein kosmischer als Heine im Weltall.
Schließlich werden doch die, welche nie aus ihrem Bezirk herauskamen, weiter kommen als die, die nie in ihren Bezirk hineinkamen.

Was Nietzsche zu Heine gezogen hat – er hatte den Kleinheitswahn, als er im Ecce homo schrieb, sein Name werde mit dem Heines durch die Jahrtausende gehen –, kann nur jener Haß gegen Deutschland sein, der jeden Bundesgenossen annimmt.
Wenn man aber den Lazzaroni für ein Kulturideal neben dem deutschen Schutzmann hält, so gibt es gewiß nichts deutscheres als solchen Idealismus, der die weglagernde Romantik schon fürs Ziel nimmt.
Das intellektuelle Problem Heine, der Regenerator deutscher Luft, ist neben dem künstlerischen Problem Heine gewiß nicht zu übersehen: es läuft ja daneben.
Doch hier ward einmal Sauerstoff in die deutschen Stuben gelassen und hat nach einer augenblicklichen Erholung die Luft verpestet.
Daß, wer nichts zu sagen hat, es besser verständlich sage, diese Erkenntnis war die Erleichterung, die Deutschland seinem Heine dankt nach jenen schweren Zeiten, wo etwas zu sagen hatte, wer unverständlich war.
Und diesen unleugbaren sozialen Fortschritt hat man der Kunst zugeschrieben, da man in Deutschland immerzu der Meinung ist, daß die Sprache das gemeinsame Ausdrucksmittel sei für Schreiber und Sprecher.
Heines aufklärende Leistung in Ehren – ein so großer Satiriker, daß man ihm die Denkmalswürdigkeit absprechen müßte, war er nicht.
Ja, er war ein so kleiner Satiriker, daß die Dummheit seiner Zeit auf die Nachwelt gekommen ist.
Gewiß, sie setzt sich jenes Denkmal, das sie ihm verweigert.
Aber sie setzt sich wahrlich auch jenes, das sie für ihn begehrt.
Und wenn sie ihr Denkmal nicht durchsetzt, so deponiert sie wenigstens ihre Visitkarte am Heine-Grab und bestätigt sich ihre Pietät in der Zeitung.
Solange die Ballotage der Unsterblichkeit dauert, dauert die Unsterblichkeit, und wenn ein Volk von Vereinsbrüdern ein Problem hat, wird es so bald nicht fertig.
Im Ausschuß der Kultur aber sitzen die Karpeles und Bartels, und wie immer die Entscheidung falle, sie beweist nichts für den Geist.
Die niedrige Zeitläufigkeit dieser Debatte, die immerwährende Aktualität antiquierter Standpunkte ist so recht das Maß einer literarischen Erscheinung, an der nichts ewig ist als der Typus, der von nirgendwo durch die Zeit läuft.
Dieser Typus, der die Mitwelt staunen macht, weil er auf ihrem Niveau mehr Talent hat als sie, hat in der Kunst der Sprache, die jeder, der spricht, zu verstehen glaubt, schmerzlichen Schaden gestiftet.
Wir erkennen die Persönlichkeiten nicht mehr, und die Persönlichkeiten beneiden die Techniker.
Wenn Nietzsche Heines Technik bewundert, so straft ihn jeder Satz, den er selbst schrieb, Lügen.
Nur einer nicht: „Die Meisterschaft ist dann erreicht, wenn man sich in der Ausführung weder vergreift noch zögert“.
Das Gegenteil dieser untiefen Einsicht ist die Sache des Künstlers.
Seine Leistung sind Skrupel; er greift zu, aber er zaudert, nachdem er zugegriffen hat.
Heine war nur ein Draufgänger der Sprache; nie hat er die Augen vor ihr niedergeschlagen.
Er schreibt das Bekenntnis hin: „Der Grundsatz, daß man den Charakter eines Schriftstellers aus seiner Schreibweise erkenne, ist nicht unbedingt richtig; er ist bloß anwendbar bei jener Masse von Autoren, denen beim Schreiben nur die augenblickliche Inspiration die Feder führt, und die mehr dem Worte gehorchen, als befehlen.
Bei Artisten ist jener Grundsatz unzulässig, denn diese sind Meister des Wortes, handhaben es zu jedem beliebigen Zwecke, prägen es nach Willkür, schreiben objektiv, und ihr Charakter verrät sich nicht in ihrem Stil“.
So war er: ein Talent, weil kein Charakter; bloß daß er die Artisten mit den Journalisten verwechselt hat.
Und die Masse von Autoren, die dem Wort gehorchen, gibt es leider nur spärlich.
Das sind die Künstler.
Talent haben die andern: denn es ist ein Charakterdefekt.
Hier spricht Heine seine unbedingte Wahrheit aus; er braucht sie gegen Börne.
Aber da er objektiv schreibt und als Meister des Worts dieses zu jedem beliebigen Zwecke handhabt, so paßt ihm das Gegenteil gegen Platen.
In ihm sein, „ungleich dem wahren Dichter, die Sprache nie Meister geworden“; er sei „dagegen Meister geworden in der Sprache, oder vielmehr auf der Sprache, wie ein Virtuose auf einem Instrumente“.
Heine ist objektiv.
Gegen Börne: „Die Taten der Schriftsteller bestehen in Worten“.
Gegen Platen: er nenne seine Leistung „eine große Tat in Worten“ – „so gänzlich unbekannt mit dem Wesen der Poesie, wisse er nicht einmal, daß das Wort nur bei dem Rhetor eine Tat, bei dem wahren Dichter aber ein Ereignis ist.“

Was war es bei Heine?
Nicht Tat und nicht Ereignis, sondern Absicht oder Zufall.
Heine war ein Moses, der mit dem Stab auf den Felsen der deutschen Sprache schlug.
Aber Geschwindigkeit ist keine Hexerei, das Wasser floß nicht aus dem Felsen, sondern er hatte es mit der andern Hand herangebracht; und es war Eau de Cologne.
Heine hat aus dem Wunder der sprachlichen Schöpfung einen Zauber gemacht.
Er hat das höchste geschaffen, was mit der Sprache zu schaffen ist; höher steht, was aus der Sprache geschaffen wird.
Er konnte hundert Seiten schreiben, aber nicht die Sprache der hundert ungeschriebenen Seiten gestalten.
Wenn nach Iphigeniens Bitte um ein holdes Wort des Abschieds der König „Lebt wohl!“ sagt, so ist es, als ob zum erstenmal in der Welt Abschied genommen würde, und solches „Lebt wohl!“ wiegt das Buch der Lieder auf und hundert Seiten von Heines Prosa.
Das Geheimnis der Geburt des alten Wortes war ihm fremd.
Die Sprache war ihm zu Willen.
Doch nie brachte sie ihn zu schweigender Ekstase.
Nie zwang ihn ihre Gnade auf die Knie.
Nie ging er ihr auf Pfaden nach, die des profanen Lesers Auge nicht errät, und dorthin, wo die Liebe erst beginnt.
O markverzehrende Wonne der Spracherlebnisse!
Die Gefahr des Wortes ist die Lust des Gedankens.
Was bog dort um die Ecke?
Noch nicht ersehen und schon geliebt!
Ich stürze mich in dieses Abenteuer.

N
ESTROY UND DIE
N
ACHWELT

ZUM 50.
TODESTAGE

Wir können sein Andenken nicht feiern, indem wir uns, wie’s einer Nachwelt ziemt, zu einer Schuld bekennen, die wir abzutragen haben.
So wollen wir sein Andenken feiern, indem wir uns zu einer Schuld bekennen, die wir zu tragen haben, wir Insassen einer Zeit, welche die Fähigkeit verloren hat, Nachwelt zu sein … Wie sollte der ewige Bauherr nicht von den Erfahrungen dieses Jahrhunderts lernen?
Seitdem es Genies gibt, wurden sie als Trockenwohner in die Zeit gesetzt; sie zogen aus und die Menschheit hatte es wärmer.
Seitdem es aber Ingenieure gibt, wird das Haus unwohnlicher.
Gott erbarme sich der Entwicklung!
Er lasse die Künstler lieber nicht geboren werden, als mit dem Trost, wenn sie auf die Nachwelt kommen, würde diese es besser haben.
Diese!
Versuche sie es nur, sich als Nachwelt zu fühlen, und sie wird über die Zumutung, ihren Fortschritt dem Umweg des Geistes zu verdanken, eine Lache anschlagen, die zu besagen scheint: Kalodont ist das Beste.
Eine Lache, nach einer Idee des Roosevelt, instrumentiert von Bernhard Shaw.
Es ist die Lache, die mit allem fertig und zu allem fähig ist.
Denn die Techniker haben die Brücke abgebrochen, und Zukunft ist, was sich automatisch anschließt.
Diese Geschwindigkeit weiß nicht, daß ihre Leistung nur wichtig ist, ihr selbst zu entrinnen.
Leibesgegenwärtig, geisteswiderwärtig, vollkommen wie sie ist, diese Zeit, hofft sie, werde die nächste sie übernehmen, und die Kinder, die der Sport mit der Maschine gezeugt hat und die Zeitung genährt, würden dann noch besser lachen können.
Bange machen gilt nicht; meldet sich ein Geist, so heißt es: wir sind komplett.
Die Wissenschaft ist aufgestellt, ihnen die hermetische Abschließung von allem Jenseitigen zu garantieren.
Die Kunst verjage ihnen die Sorge, welchem Planeten soeben die Gedanken ihrer Vorwelt zugutekommen.
Was sich da Welt nennt, weil es in fünfzig Tagen sich selbst bereisen kann, ist fertig, wenn es sich berechnen kann.
Um der Frage: Was dann?
getrost ins Auge zu sehen, bleibt ihr noch die Zuversicht, mit dem Unberechenbaren fertig zu werden.
Sie dankt den Autoren, die ihr das Problem, sei es durch Zeitvertreib abnehmen, sei’s durch Bestreitung.
Aber sie muß jenem fluchen, dem sie – tot oder lebendig – als Mahner oder Spielverderber zwischen Geschäft und Erfolg begegnet.
Und wenns zum Fluch nicht mehr langt – denn zum Fluchen gehört Andacht –, so langt’s zum Vergessen.
Und kaum besinnt sich einmal das Gehirn, daß der Tag der großen Dürre angebrochen ist.
Dann verstummt die letzte Orgel, aber noch saust die letzte Maschine, bis auch sie stille steht, weil der Lenker das Wort vergessen hat.
Denn der Verstand verstand nicht, daß er mit der Entfernung vom Geist zwar innerhalb der Generation wachsen konnte, aber die Fähigkeit verlor, sich fortzupflanzen.
Wenn zweimal zwei wirklich vier ist, wie sie behaupten, so verdankt es dieses Resultat der Tatsache, daß Goethe das Gedicht „Meeresstille“ geschrieben hat.
Nun aber weiß man so genau, wieviel zweimal zwei ist, daß man es in hundert Jahren nicht mehr wird ausrechnen können.
Es muß etwas in die Welt gekommen sein, was es nie früher gegeben hat.
Ein Teufelswerk der Humanität.
Eine Erfindung, den Kohinoor zu zerschlagen, um sein Licht allen, die es nicht haben, zugänglich zu machen.
Fünfzig Jahre läuft schon die Maschine, in die vorn der Geist hineingetan wird, um hinten als Druck herauszukommen, verdünnend, verbreitend, vernichtend.
Der Geber verliert, die Beschenkten verarmen, und die Vermittler haben zu leben.
Ein Zwischending hat sich eingebürgert, um die Lebenswerte gegeneinander zu Falle zu bringen.
Unter dem Pesthauch der Intelligenz schließen Kunst und Menschheit ihren Frieden … Ein Geist, der heute fünfzig Jahre tot ist und noch immer nicht lebt, ist das erste Opfer dieses Freudenfestes, über das seit damals spaltenlange Berichte erscheinen.
Wie es kam, daß solch ein Geist begraben wurde: es müßte der große Inhalt seines satirischen Denkens sein, und ich glaube, er dichtet weiter.
Er, Johann Nestroy, kann es sich nicht gefallen lassen, daß alles blieb, wie es ihm mißfallen hat.
Die Nachwelt wiederholt seinen Text und kennt ihn nicht; sie lacht nicht mit ihm, sondern gegen ihn, sie widerlegt und bestätigt die Satire durch die Unvergänglichkeit dessen, was Stoff ist.
Nicht wie Heine, dessen Witz mit der Welt läuft, der sie dort traf, wo sie gekitzelt sein wollte, und dem sie immer gewachsen war, nicht wie Heine wird sie Nestroy überwinden.
Sondern wie der Feige den Starken überwindet, indem er ihm davonläuft und ihn durch einen Literarhistoriker anspucken läßt.
Gegen Heine wird man undankbar sein, man wird die Rechte der Mode gegen ihn geltend machen, man wird ihn nicht mehr tragen.
Aber immer wird man sagen, daß er den Horizont hatte, daß er ein Befreier war, daß er sich mit Ministern abgegeben hat und zwischendurch noch die Geistesgegenwart hatte, Liebesgedichte zu machen.
Anders Nestroy.
Keinen Kadosch wird man sagen.
Keinem Friedjung wird es gelingen, nachzuweisen, daß Der eine politische Gesinnung hatte, geschweige denn jene, die die politische Gesinnung erst zur Gesinnung macht.
Was lag ihm am Herzen?
So viel, und darum nichts vom Freisinn.
Während draußen die Schuster für die idealsten Güter kämpften, hat er die Schneider Couplets singen lassen.
Er hat die Welt nur in Kleingewerbetreibende und Hausherren eingeteilt, in Heraufgekommene und Heruntergekommene, in vazierende Hausknechte und Partikuliers.
Daß es aber nicht der Leitartikel, sondern die Welt war, die er so eingeteilt hat, daß sein Witz immer den Weg nahm vom Stand in die Menschheit: solch unverständliches Kapitel überblättert der Hausverstand.
Blitze am engen Horizont, so daß sich der Himmel über einem Gewürzgewölbe öffnet, leuchten nicht ein.
Nestroy hat aus dem Stand in die Welt gedacht, Heine von der Welt in den Staat.
Und das ist mehr.
Nestroy bleibt der Spaßmacher, denn sein Spaß, der von der Hobelbank zu den Sternen schlug, kam von der Hobelbank, und von den Sternen wissen wir nichts.
Ein irdischer Politiker sagt uns mehr als ein kosmischer Hanswurst.
Und da uns die Vermehrung unserer intellektuellen Hausmacht am Herzen liegt, haben wir nichts dagegen, daß die irdischen Hanswurste Nestroy gelegentlich zum Politiker machen und ihn zwingen, das Bekenntnis jener liberalen Bezirksanschauung nachzutragen, ohne die wir uns einen toten Satiriker nicht mehr denken können.
Die Phraseure und Riseure geben dann gern zu, daß er ein Spottvogel war oder daß ihm der Schalk im Nacken saß.
Und dennoch saß er nur ihnen im Nacken und blies ihre Kalabreser um.
Und dennoch sei jenen, die sich zur Kunst herablassen und ihr den Spielraum zwischen den Horizonten gönnen, so von der individuellen Nullität bis zur sozialen Quantität, mit ziemlicher Gewißheit gesagt: Wenn Kunst nicht das ist, was sie glauben und erlauben, sondern die Wegweite ist zwischen einem Geschauten und einem Gedachten, von einem Rinnsal zur Milchstraße die kürzeste Verbindung, so hat es nie unter deutschem Himmel einen Läufer gegeben wie Nestroy.
Versteht sich, nie unter denen, die mit lachendem Gesicht zu melden hatten, daß es im Leben häßlich eingerichtet sei.
Wir werden seiner Botschaft den Glauben nicht deshalb versagen, weil sie ein Couplet war.
Nicht einmal deshalb, weil er in der Geschwindigkeit auch dem Hörer etwas zuliebe gesungen, weil er mit Verachtung der Bedürfnisse des Publikums sie befriedigt hat, um ungehindert empordenken zu können.
Oder weil er sein Dynamit in Watte wickelte und seine Welt erst sprengte, nachdem er sie in der Überzeugung befestigt hatte, daß sie die beste der Welten sei, und weil er die Gemütlichkeit zuerst einseifte, wenn’s ans Halsabschneiden ging, und sonst nicht weiter inkommodieren wollte.
Auch werden wir, die nicht darauf aus sind, der Wahrheit die Ehre vor dem Geist zu geben, von ihm nicht deshalb geringer denken, weil er oft mit der Unbedenklichkeit des Originals, das Wichtigeres vorhat, sich das Stichwort von Theaterwerkern bringen ließ.
Der Vorwurf, der Nestroy gemacht wurde, ist alberner als so manche Fabel, die er einem französischen Handlanger abnahm, alberner als sich irgendeines der Quodlibets im Druck liest, die er dem Volk hinwarf, das zu allen Zeiten den Humor erst ungeschoren läßt, wenn es auch den Hamur bekommt, und damals sich erst entschädigt wußte, wenn es mit einem Vivat der versammelten Hochzeitsgäste nach Hause ging.
Er nahm die Schablone, die als Schablone geboren war, um seinen Inhalt zu verstecken, der nicht Schablone werden konnte.
Daß auch die niedrige Theaterwirkung hier irgendwie der tieferen Bedeutung zugute kam, indem sie das Publikum von ihr separierte, und daß es selbst wieder tiefere Bedeutung hat, wenn das Orchester die Philosophie mit Tusch verabschiedet, spüren die Literarhistoriker nicht, die wohl fähig sind, Nestroy zu einer politischen Überzeugung, aber nicht, ihm zu dem Text zu verhelfen, der sein unsterblich Teil deckt.
Er selbst hatte es nicht vorgesehen.
Er schrieb im Stegreif, aber er wußte nicht, daß der Ritt übers Repertoire hinausgehen werde.
Er mußte nicht, wiewohl jede Nestroysche Zeile davon zeugt, daß er es gekonnt hätte, sich in künstlerische Selbstzucht vor jenen zurückziehen, die ihn nur für einen Lustigmacher hielten, und der mildere Stoß der Zeit versagte der Antwort noch das Bewußtsein ihrer Endgiltigkeit, jenen seligen Anreiz, die Rache am Stoff im Genuß der Form zu besiegeln.
Er hätte, wäre er später geboren, wäre er in die Zeit des journalistischen Sprachbetrugs hineingeboren worden, der Sprache gewissenhaft erstattet, was er ihr zu verdanken hatte.
Die Zeit, die das geistige Tempo der Masse verlangsamt, hetzt ihren satirischen Widerpart.
Die Zeit hätte ihm keine Zeit mehr zu einer so beiläufigen Austragung blutiger Fehde gelassen, wie sie die Bühne erlaubt und verlangt, und kein Orchester wäre melodisch genug gewesen, den Mißton zwischen seiner Natur und der nachgewchsenen Welt zu versöhnen.
Sein Eigentlichstes war der Witz, der der Bühnenwirkung widerstrebt, dieser planen Einmaligkeit, der es genügen muß, das Stoffliche des Witzes an den Mann zu bringen, und die im rhythmischen Wurf das Ziel vor dem Gedanken trifft.
Auf der Bühne, wo die Höflichkeit gegen das Publikum im Negligé der Sprache einhergeht, war Nestroys Witz nur zu einer Sprechwirkung auszumünzen, die, weitab von den Mitteln einer schauspielerischen Gestaltung, wieder nur ihm selbst gelingen konnte.
Sein Eigentlichstes hätte eine zersplitterte Zeit zur stärkeren Konzentrierung im Aphorismus und in der Glosse getrieben, und das vielfältigere Gekreische der Welt hätte seiner ins Innerste des Apparats dringenden Dialektik neue Tonfälle zugeführt.
Seiner Satire genügte vorwiegend ein bestimmter Rhythmus, um daran die Fäden einer wahrhaft geistigen Betrachtung aufzuspulen.
Manchmal aber sieht sich die Nestroysche Klimax an, als hätten sich die Termini des jeweils perorierenden Standesbewußtseins zu einer Himmelsleiter gestuft.
Immer stehen diese vifen Vertreter ihrer Berufsanschauung mit einem Fuß in der Profession, mit dem andern in der Philosophie, und wenn sie auch stets ein anderes Gesicht haben, so ist es doch nur Maske, denn sie haben die eine und einzige Zunge Nestroys, die diesen weisen Wortschwall entfesselt hat.
Was sie sonst immer sein mögen, sie sind vor allem Denker und Sprecher und immer in Gefahr, coram publico den Gedanken über dem Atem zu kurz kommen zu lassen.
Dieser völlig sprachverbuhlte Humor, bei dem Sinn und Wort sich fangen, umfangen und bis zur Untrennbarkeit, ja bis zur Unkenntlichkeit umschlungen halten, steht über aller szenischen Verständigung und fällt darum in den Souffleurkasten, so nur Shakespeare vergleichbar, von dem auch erst Shakespeare abgezogen werden muß, um die Theaterwirkung zu ergeben.
Es wäre denn, daß die Mission einer Bühnenfigur, die ohne Rücksicht auf alles, was hinter ihr vorgeht, zu schnurren und zu schwärmen anhebt, vermöge der Sonderbarkeit dieses Auftretens ihres Beifalls sicher wäre.
Noch sonderbarer, daß der in die Dialoge getragene Sprach-und Sprechwitz Nestroys die Gestaltungskraft nicht hemmt, von der genug übrig ist, um ein ganzes Personenverzeichnis auszustatten und neben der Wendung ins Geistige den Schauplatz mit gegenständlicher Laune, Plastik, Spannung und Bewegung zu füllen.
Er nimmt fremde Stoffe.
Wo aber ist der deutsche Lustspieldichter, der ihm die Kraft abgenommen hätte, aus drei Worten eine Figur zu machen und aus drei Sätzen ein Milieu?
Er ist umso schöpferischer, wo er den fremden Stoff zum eigenen Werk erhebt.
Er verfährt anders als der bekanntere zeitgenössische Umdichter Hofmannsthal, der ehrwürdigen Kadavern das Fell abzieht, um fragwürdige Leichen darin zu bestatten, und der sich in seinem ernsten Berufe gegen einen Vergleich mit einem Possendichter wohl verwahren würde.
Wie alle besseren Leser reduziert Herr v.
Hofmannsthal das Werk auf den Stoff.
Nestroy bezieht den Stoff von dort, wo er kaum mehr als Stoff war, erfindet das Gefundene, und seine Leistung wäre auch dann noch erheblich, wenn sie nur im Neubau der Handlung und im Wirbel der nachgeschaffenen Situationen bestünde, also nur in der willkommenen Gelegenheit, die Welt zu unterhalten, und nicht auch im freiwilligen Zwang, die Welt zu betrachten.
Der höhere Nestroy aber, jener, der keiner fremden Idee etws verdankt, ist einer, der nur Kopf hat und nicht Gestalt, dem die Rolle nur eine Ausrede ist, um sich auszureden, und dem jedes Wort zu einer Fülle erwächst, die die Gestalten schlägt und selbst jene, die in der Breite des Scholzischen Humors als Grundtype des Wiener Vorstadttheaters vorbildlich dasteht.

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