Authors: Joseph D'Lacey
Tags: #Fiction, #Horror, #Thrillers, #Suspense, #Science Fiction, #General, #General Fiction
Collins' Job war noch nicht beendet. Deshalb hatte er Magnus herausgefordert. Er hatte seinen Konvertiten noch mehr zu erzählen, und er hatte mehr Menschen auf den rechten Weg zu helfen. Es reichte nicht, sie aufzuklären, er musste sie mit aller Macht wegführen von den verdrehten Traditionen der Stadt. Sie mussten wissen, was sie für die Zukunft zu tun hatten. Und er war der Einzige, der es sie lehren konnte. Es war also keine Feigheit, die ihn hatte kämpfen lassen, um die Begegnung mit dem Fleischbaron zu überleben. Es war Aufopferung, und es war unumgänglich.
Jedes Haus verströmte den Geruch von gegrilltem, gebratenem, geröstetem oder gesottenem Fleisch. Fleisch der Auserwählten auf jedem Tisch, in jedem Haushalt, der es sich leisten konnte. All das Geld floss zurück zu Magnus oder in die Taschen der Fürsorge. Die einzigen weiteren Spieler in diesem Spiel waren die Getreidebosse, die an den nordwestlichen Außenbezirken der Stadt ihren Anbau betrieben. Magnus kaufte beinahe ihre gesamte Produktion, um die Auserwählten zu füttern. Diese Grundzutat ergänzte er um einen Brei aus gemahlenen Knochen und nicht verwertbarem Verschnitts. Collins war sich nicht sicher, aber er ahnte, dass die Auserwählten wussten, dass es Teil ihrer Mast zur Schlachtreife war, Tag für Tag das Fleisch ihrer Brüder und Schwestern zu essen. Was für Collins eines der schlimmsten Übel dieser Stadt war.
Lastwagen voller Knochenmehl fuhren täglich zu den Getreidebossen hinaus, die es lagerten, bis es Zeit war, die Felder zu düngen. Ohne das stickstoffhaltige Mehl würde die Saat verkümmern, und die Auserwählten mussten hungern. Die Fleischproduktion würde zum Erliegen kommen. Das
verlieh den Getreidebossen eine gewichtige Position: Wenn sie Magnus mit dem Getreidepreis unter Druck setzen wollten, konnten sie ihm androhen, ihre Lieferungen zu reduzieren. Magnus wiederum konnte nichts heraushandeln, indem er seine Abfallfuhren einschränkte ― denn er würde sich dadurch über kurz oder lang bloß ins eigene Fleisch schneiden. Aus dem gleichen Grund würden die Getreidebosse es niemals wagen, Magnus zu sehr unter Druck zu setzen: Wenn sie es täten, würde bald die ganze Stadt in Gefahr geraten, zu verhungern, und der ökonomische Kreislauf zwischen Fleisch und Getreide würde kollabieren. Also trieben Magnus und die Getreidebosse Jahr für Jahr ihre Spielchen miteinander, nie allzu vertrauensselig und auch niemals rücksichtslos.
Jetzt, da Collins entkommen war, würde Magnus seine Männer in das verfallene Viertel schicken, damit sie nach ihm suchten. Er musste alle warnen, dass sie in Gefahr schwebten. Der Fleischbaron würde ― erniedrigt und voller Wut ― vor nichts zurückschrecken, um Collins zu finden. Er würde niemanden verschonen, um sein Ziel zu erreichen. Aber Collins würde heute Nacht 'dafür sorgen, dass alle davon erfuhren. Und Orte, an denen er Zuflucht und Magnus ihn niemals finden würde, gab es reichlich.
Torrance hielt ein Tablett mit Drinks und, während die Menge sich vor ihm wie durch Zauberhand teilte, führte er die Jungs an einen Tisch abseits der Bühne, auf der die Band spielte. Die Musik und das Gebrüll waren zwar nicht ganz so ohrenbetäubend, aber der Boden bebte auch hier noch unter dem betrunkenen Gestampfe hunderter Stiefel.
Sie erkannten einige der anderen Männer am Tisch, wussten aber ihre Namen nicht. Torrance stellte die Melkhilfen vor, unterließ es im Gegenzug jedoch, seine Entourage vor
zustellen. Parfitt nahm an, dass es Teil irgendeiner unausgesprochenen Hierarchie war, die sie früher oder später durchschauen würden. Am Tisch saßen auch eine Handvoll Frauen ― definitiv keine Mädchen, einige von ihnen sahen alt genug aus, ihre Mütter zu sein ―, nicht unbedingt die Attraktivsten in der Bar, aber auch nicht die Unansehnlichsten. Nach einem weiteren Wodka beschloss Parfitt, dass es ihn nicht allzu sehr kümmerte, wie sie aussahen. Er und seine Jungs machten einen drauf, und sie hatten Weiber dabei. Die Möglichkeiten schienen mit einem Mal grenzenlos.
Die älteren Fleischhauer ignorierten die Melkhilfen, und selbst Parfitt richtete nur selten ein beiläufiges Wort an sie, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, mit seinen Kollegen zu lachen. Oder einer der Frauen auf den Hintern zu klopfen. Weitere Runden wurden gebracht. Dieses losgelöste Gefühl der Freiheit, das Parfitt zu Beginn überkommen hatte, vertiefte sich zunehmend und löste ein großes Wohlbefinden aus. Harrison, Roach und Maidwell lachten inzwischen lauthals mit. Sie grölten so laut, wie jeder andere Fleischhauer im Raum, als wären sie bereits seit Jahren Stammgäste im Dinos. Als Parfitt bemerkte, dass es ihm nicht gelingen wollte, die Beobachterrolle abzulegen, befiel ihn schlagartig ein Anflug von Melancholie. Er wollte mit den anderen lachen, einem Gesäß einen Klaps versetzen, und wenn ihm danach war, einen Witz erzählen oder im Sägemehl tanzen.
»Jungs«, brüllte Torrance. »Zeit, weiterzuziehen.«
Parfitt, aus seinem mentalen Freisitz gerissen, zwinkerte überrascht. Seine Ohren füllten sich wieder mit Geräuschen.
»Was?«, rief er. »Wo gehen wir hin?«
Er wollte bleiben. Von allem, was dieser Abend noch zu bieten hatte, das war ihm klar, interessierten ihn am meisten die Frauen. Es war ihm egal, wie alt sie waren.
»Das wirst du schon sehen«, antwortete Torrance. »Die
Nacht in Abyrne ist noch jung, und es gibt noch reichlich zu sehen. Selbst für deine jungen Augen. Auf geht's.«
Torrances Clique stand auf, und Parfitt und seine Freunde folgten ihnen. Er war überrascht, wie wackelig er auf den Beinen war, aber es kümmerte ihn nicht weiter. Er fühlte sich beschwingt. Als sie zum Hinterausgang gingen, stolperte er in mehrere Arbeiter hinein. Keiner würdigte ihn eines zweiten Blickes. Draußen nahm ihn die nächtliche Luft in ihre kalte Umarmung, ohne jedoch sein Taumeln zu beenden.
Alle miteinander bestiegen sie einen der MFP-Busse, die
die Fleischhauer zu und von der Arbeit beförderten. »Wie sind Sie an den gekommen?«, fragte er Torrance.
»Ich habe mir das eine oder andere Privileg erarbeitet.« Parfitt begriff nicht.
Als der Bus mit Torrance hinter dem Lenkrad losgefahren war, kamen die Frauen von Sitz, zu Sitz und zum ersten Mal an diesem Abend sprach ihn eine an. Sie war dünn ―eigentlich zu dünn ―, und ihr strähniges Haar hing in fettigen Strängen bis über ihre Schultern. Sie roch nach dem Parfüm und den Cremes, die MFP aus dem Körperfett der Auserwählten herstellte. Es roch nicht wirklich schlecht, aber es erinnerte ihn unangenehm an die Arbeit. Sie setzte sich neben ihn, beengend nah.
»Ich habe dich noch nie zuvor gesehen.«
Ihre Stimme war tief und klang nach Rauch und geriebenem Glas.
»Wir waren zum ersten Mal im Dinos«, sagte er.
Es hatte keinen Zweck, ihr etwas vorzumachen.
»Was arbeitest du?«
»Ich melke Kühe.« Er deutete nach hinten auf seine Freunde. »Tun wir alle.«
»Also kein Blut und Gekröse. Kein Hacken und Schneiden.«
»Nicht unsere Abteilung.«
»Ha. Sehr gut. Ich glaube, ich mag dich ...«
»James.«
»Ich nenne dich Jimmy. Nennt deine Mutter dich Jimmy?« Parfitt zuckte mit den Achseln, antwortete aber nicht. Seine Mutter war lange tot.
»Du arbeitest sicher gerne im Milchhof. Den ganzen Tag nichts als Tittchen ansehen.«
Es fühlte sich an, als würde sein Hirn gefrieren. Er wurde auf der Stelle nüchtern, erfüllt von Misstrauen. Wollte Torrance sie testen? War es das, worum es an diesem Abend ging?
»Das ist Blasphemie«, sagte er. »Es sind Euter. Ich frage mich, was dein Pastor wohl dazu sagen würde, wenn er hören könnte, wie du über die Auserwählten sprichst.«
Der Gedanke, dass er jemandem davon erzählte, schien sie nicht im Geringsten zu ängstigen. Aber sie hörte auf, so einfältig daherzureden.
»Das war doch bloß ein Scherz, Jimmy.«
Eine Zeit lang saßen sie schweigend da, aber sie rückte nicht von ihm weg. Der Bus holperte über die kaputten Straßen, und sie wurde immer wieder gegen ihn geschleudert. Es gefiel ihm, aber er konzentrierte sich darauf, das Ziel ihrer Fahrt herauszufinden. Es war nicht einfach: Er hatte längst die Orientierung verloren. Aber es schien, als würden sie in Richtung des verlassenen Viertels fahren.
Jemand hatte eine Flasche Wodka mitgenommen, die nun von Reihe zu Reihe wanderte. Die Frau nahm einen tiefen Schluck und zog Parfitt zu sich heran, um ihn zu küssen. Während sie das tat, ließ sie den Wodka aus ihrem Mund in den seinen tropfen. Der Kuss machte ihn betrunkener, und der Moment alarmierter Wachsamkeit verging. Sie reichte die Flasche nach vorne zu Torrance weiter, der einen
Schluck nahm und sie zurückgab. Sie gab Parfitt einen weiteren Wodkakuss, bevor sie die Flasche wieder nach hinten gab. Hinter sich hörte er Gelächter und heiseres Gezirpe. Einige der Kerle amüsierten sich mit den restlichen Damen, einige nicht. Es waren nicht genug für alle da.
Als der Bus hielt, wollte erst niemand aussteigen. Es war so angenehm warm und behaglich. Der ideale Ort, um die Annäherungen fortzusetzen. Torrance musste sie erst anbrüllen, selbst die Mitglieder seiner eigenen Clique. Sie stiegen aus dem Bus, torkelten über den aufgerissenen Asphalt eines Bürgersteigs in die Dunkelheit. So weit vom Stadtzentrum entfernt gab es keine Straßenbeleuchtung. Parfitt konnte kaum seine Füße erkennen, bis Torrance eine Gaslaterne hervorholte.
»Hier entlang.«
Einige Arm in Arm, andere allein, folgten sie ihm. Parfitts Anhang ― sie hatte ihm immer noch nicht ihren Namen genannt ― stolperte, und er fing sie mit leichter Hand auf. Sie wog sehr wenig und, wie er schon im Bus feststellen konnte, hatte sie winzige »Tittchen«. Vermutlich war ihre Bemerkung über die Euter der Kühe schlicht auf Eifersucht zurückzuführen ― und nicht auf eine Anweisung von Torrance, ihn auszuhorchen. Wie ihre Brüste aussahen war ihm allerdings völlig gleichgültig. Sie fühlte sich warm und willig an, und er hoffte, dass sie ihm gegen Ende des Abends noch ein wenig mehr als alkoholische Küsse und angekleidete Erkundigungen ihres drahtigen Körpers antragen würde.
Torrance führte sie durch eine mit Schutt übersäte Passage zwischen verlassenen Gebäuden und steil aufragenden Hochhäusern. Der Boden war schwarz und nichts, weder Gras noch Unkraut, wuchs darauf. Sie erreichten einen Durchgang im Beton, der auf drei Seiten von zerfallenen
Mauern umgeben war. Torrance hielt seine Lampe nach vorn. Stufen führten in die Dunkelheit.
Fasziniert zögerte Parfitt nicht einen Moment, ihm zu folgen. Der Griff der Frau wurde fester, und er spürte, dass es nicht an den steilen Stufen, sondern an ihrer Aufregung lag. Sie freute sich auf etwas. Das Klackern ihrer Absätze auf den Betonstufen schallte durch die pechschwarze Stille.
Parfitt hörte gedämpfte Stimmen von etwas weiter vorne. Es könnte Beifallsgeschrei sein. Torrance hielt scheinbar direkt vor einer Wand, gegen die er dreimal schnell und zweimal langsam mit dem Stiefel trat. Riesige, stählerne Schiebetüren hatte man so angestrichen, dass sie wie Beton aussahen. Langsam und lautlos öffneten sich die Tore, die in einer gut geschmierten Schiene zur Seite rollten. Lärm kam ihnen entgegen. Jubelndes, höhnendes, trunkenes Gelächter. Der Radau im Dinos war der lärmende Klang schierer Ausgelassenheit gewesen, dieser Tumult klang anders: Er besaß einen Unterton höchster Anspannung und ― des Verbotenen. Torrance sprach mit den Männern, die die Türe bewachten, aber Parfitt konnte wegen des tosenden Lärms der Menge nicht hören, was sie redeten. Die Wachen machten den Weg frei, und die Gruppe trat ein.
Der Korridor erinnerte Parfitt an die Rampen und Banden, über die die Auserwählten in den Schlachthof geschleust wurden. Das Getöse nahm zu, je weiter sie gingen. Das gelbliche Licht zahlreicher Gaslaternen beleuchtete eine Öffnung am hintersten Ende. Sie betraten eine gewaltige, rechteckige Halle, ein unterirdisches Stadion. Es fasste mindestens tausend Leute, war aber nicht voll besetzt. Dennoch war der Lärm der grölenden Zuschauer überwältigend. Torrance nahm sie mit zu einer Reihe Logen ganz vorne. Als die Leute ihn sahen, traten sie zur Seite.
Die Frau quetschte sich neben Parfitt auf die splittrige
Holzbank und legte ihren Arm um ihn. Er ignorierte sie. Im Zentrum des Stadions befand sich eine Arena, auf die sämtliche Lampen ausgerichtet waren. Das Gebrüll der Zuschauer erreichte ein Crescendo. Auf dem Boden im Zentrum der Arena sah er zwei Bullen ― aber so hatte Parfitt die Tiere noch nie gesehen. Um ihre Hand- und Fußgelenke trugen sie dicke, glitzernde Stoffbänder: in Glassplitter getauchter, Harz durchtränkter Hanf. Wie sich aufgrund der Unmenge Blut, das auf ihren Körpern und dem Betonboden glänzte, unschwer erkennen ließ, hatten die Bullen gegeneinander gekämpft. Da sie keine Waffen tragen konnten, schienen diese Arm- und Knöchelbänder die beste Lösung zu sein. Sie waren völlig ungeschützt.
Ein Bulle, der es an Größe mit jedem, den er in der Fabrik gesehen hatte, aufnehmen konnte, lag auf dem Rücken. Das Tier versuchte, hochzukommen, hatte aber nicht mehr genug Kraft. Der andere Bulle stand über ihm, seine Lungen pumpten wie Blasebälge. Seine bleiche Haut war glitschig vom Schweiß und dem Blut hunderter Wunden und tiefer Schnitte. Parfitt wünschte sich, die zwei Bullen könnten einander anbrüllen, aber wie alle Auserwählten waren sie des Sprechens nicht mächtig. Ihr Zischen und Seufzen ging in den Schmäh- und Spottrufen der Menge unter.
Jetzt, wo er von seinem Gegner nichts mehr zu befürchten hatte, blickte der dominante Bulle auf. Er sah in die Gesichter, die ihn aus der Sicherheit der Logenränge beobachteten. Parfitt mochte der Kreatur nicht in die Augen sehen, als sie begriff, was man von ihr erwartete. Die Menge hatte nach Blut gedürstet. Und der Bulle hatte es ihr gegeben. Jetzt verlangte die Menge den Tod. Ihre Sprechchöre fanden einen gemeinsamen Rhythmus. Die simplen, brutalen Worte waren deutlich zu verstehen.
»Töte ihn, töte ihn, töte ihn ...«
Parfitt war sich sicher, dass die Bullen eine stillschweigende Abmachung trafen, bevor der Gewinner hinter den Kopf des besiegten Bullen trat und den rechten Fuß hob. Parfitt vermochte sich nicht vorzustellen, wie das zum Tod seines Rivalen führen sollte, es sei denn ...
Der Bulle ließ seine Ferse auf die Stirn des anderen herabsausen, hob sie wieder und trat erneut zu. Das Geräusch verursachte Parfitt Übelkeit: Knochen auf Knochen gegen Beton. Der geschlagene Bulle lebte immer noch, er atmete weiter, und seine Augen waren geöffnet. Noch ein Tritt. Und noch einer. Und schließlich wurde aus dem dumpfen Klang kollidierender Knochen ein Splittern und Krachen, und der auf dem Rücken liegende Bulle hörte auf zu atmen. Jubel stieg auf, die Menschen in der Menge verloren jegliche Kontrolle, schüttelten ihre Fäuste, schlugen in die Luft, umarmten einander und sprangen in den engen Logen auf und ab.